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Rede von Europa-Staatsminister Michael Roth bei der Veranstaltung „Europa in der Krise. Populisten auf dem Vormarsch. Was nun?“ an der Universität Kiel
--- es gilt das gesprochene Wort ---
Sehr geehrte Damen und Herren,
Mark Twain hat einmal gesagt: „Wer nicht weiß, wohin er will, der darf sich nicht wundern, wenn er ganz woanders ankommt“.
Ein wenig scheint dieser Satz auch auf die derzeitige Situation in Europa zu passen. Nicht nur mit Blick auf Großbritannien, wo ein Referendum Klarheit über den zukünftigen Weg schaffen wird, sondern auch mit Blick auf ganz Europa. Zu oft sind wir uns in der EU nicht einig, wohin wir eigentlich steuern wollen. Die einen wollen mehr Europa, die anderen wollen weniger Europa.
Durch dieses Bild der Uneinigkeit riskieren wir, dass sich immer mehr Menschen den Populisten und Europaskeptikern zuwenden, die ihnen scheinbar simple Lösungen versprechen, die häufig mit einer Abwendung von Europa und einem Rückzug ins nationale Schneckenhaus zu tun haben. Wir riskieren damit, dass die großen Errungenschaften des Integrationsprozesses aufs Spiel gesetzt werden und wir uns am Ende in einem ganz anderen, schlechteren Europa wiederfinden.
Deswegen möchte ich gleich zu Beginn sagen: Es ist wichtig, dass wir keinen Zweifel daran lassen, wo wir hinwollen mit unserem Europa. Wir wollen ein Europa, das auf gemeinsamen Werten aufbaut und in dem wir solidarisch und fair miteinander umgehen. Ein Europa, das handlungsfähig ist und Antworten findet für die großen Bewährungsproben dieser Zeit, die wir nur lösen können, wenn wir politisch an einem Strang ziehen. Was wir nicht wollen, ist ein Europa, in dem wieder Mauern und Grenzzäune hochgezogen werden und jeder Mitgliedstaat seinen eigenen Egotrip fährt.
Nun werden Sie vielleicht entgegnen: Genau da liegt doch das Problem. Das bekommt die EU nicht hin. Es läuft einfach nicht rund in Europa, die EU steht doch nur noch für „Krise“. Aber ist das wirklich so? Ich will nicht leugnen, dass sich Europa in ziemlich schwierigem Fahrwasser befindet, und werde darauf auch noch näher eingehen. Zunächst möchte ich aber die Verhältnisse etwas zurechtrücken. Ich halte nämlich nichts von den derzeit kursierenden Horrorszenarien. Ja, Europa ist derzeit in keinem guten Zustand, aber es ist auch nicht alles nur schlecht.
Sehen wir uns zum Beispiel die außenpolitischen Entwicklungen der vergangenen Monate an. Die EU hat über Jahre hinweg eine zentrale Rolle bei den Nuklearverhandlungen mit dem Iran gespielt. Der erfolgreiche Abschluss der Verhandlungen im vergangenen Jahr hat gezeigt, was die EU als globaler Akteur zu leisten vermag, wenn sie denn nur mit einer Stimme spricht. Auch im Verhältnis zu Russland und bei der Stabilisierung der Ukraine hat die EU im letzten Jahr große Geschlossenheit gezeigt – und tut dies auch weiterhin.
Auch innerhalb der EU gab es jüngst neben viel Schatten durchaus auch ein paar Hoffnungsschimmer. Zugegeben: Die Lage in Griechenland ist und bleibt schwierig. Das Land hat aber die Chance auf eine nachhaltige Erholung und soziale Stabilisierung als Mitglied der Eurozone. Dafür muss Griechenland nun endlich die – teils sehr schmerzhaften – Strukturreformen anpacken.
In anderen Mitgliedstaaten tragen die Reformanstrengungen erste Früchte: So hat sich die wirtschaftliche Situation in Irland inzwischen deutlich gebessert. Mit einer Wachstumsrate von 7,8 Prozent war Irland 2015 die am stärksten wachsende Volkswirtschaft in Europa. In Spanien zeigt die Kurve mit über drei Prozent Wachstum ebenfalls nach oben, auch wenn die Arbeitslosigkeit immer noch viel zu hoch ist. Und in Portugal konnten wir 2015 immerhin zum zweiten Jahr in Folge ein moderates Wachstum verzeichnen. Zypern konnte vor kurzem wie geplant aus dem Hilfsprogramm entlassen werden, so dass sich mittlerweile nur noch Griechenland unter dem Euro-Rettungsschirm befindet.
Sie sehen also: Manches ist in Bewegung in Europa. Und es bewegt sich sogar in die richtige Richtung! Ich will aber hier auch gar nicht um den heißen Brei herumreden. Die EU durchlebt eine sehr schwierige Phase. Der Umgang mit der Flüchtlingsfrage hat den Glauben an die Handlungsfähigkeit der EU in Teilen der europäischen Bevölkerung erschüttert. Mit dem britischen Referendum am 23. Juni steht Europa schon die nächste Bewährungsprobe hervor – mit ungewissem Ausgang. Die Fliehkräfte in Europa sind stärker, der innere Zusammenhalt ist schwächer geworden. Über mangelnde Solidarität wird zu Recht geklagt.
Diese Entwicklungen haben eine weitere Gefahr heraufbeschworen: Populismus und Nationalismus – diese Gespenster gehen derzeit in Europa um. Europaskeptiker oder sogar Anti-Europäer scheinen fast überall auf dem Vormarsch zu sein – vom Front National in Frankreich über die FPÖ in Österreich bis hin zur AfD in Deutschland. Sie machen mit Ängsten Politik, schaffen Feindbilder und teilen die Welt in schwarz und weiß ein.
Marine Le Pen hat offen als Ziel ausgegeben: „Ich will die EU zerstören!“ In mehreren Staaten Mittel- und Osteuropas regieren bereits EU-Skeptiker. Bei der Europawahl 2014 wurden nationalistische und europaskeptische Kräfte erstmals drittstärkste Kraft. Die Publizistin Evelyn Roll weist in ihrer gerade veröffentlichten Streitschrift „Wir sind Europa“ auf einen paradoxen Zustand hin: Im Europäischen Parlament wollen 156 von 751 Abgeordneten die Volksvertretung, in die sie sich haben wählen lassen, in ihren Rechten beschneiden oder am liebsten ganz abschaffen. Das klingt absurd und irrational – und das gilt ja auch für ganz viele andere Forderungen der Populisten. Aber die Gefahr, die davon für Europa ausgeht, ist ganz konkret.
Ich könnte es mir jetzt einfach machen und sagen: Lasst uns die Populisten, wo immer es geht, ignorieren und isolieren! Das mag zwar politisch richtig sein, wird aber nicht viel helfen. Den Populismus mit großer Geste abzutun, wird ihn nicht beseitigen. Vermutlich wird es ihn eher stärken und die Menschen umso mehr in die Arme derjenigen treiben, die ihnen einfache Lösungen versprechen. Genauso falsch wäre es, zu versuchen, den Populisten das Wasser abzugraben, indem wir ihre Parolen einfach in abgeschwächter Form übernehmen. Denn wie wir zuletzt bei den Präsidentschaftswahlen in Österreich erlebt haben: Am Ende entscheiden sich die Wählerinnen und Wähler dann doch für das Original und nicht für die Kopie.
Wir müssen tiefer ansetzen. Wir müssen den Populismus als Phänomen verstehen. Er gibt uns Hinweise darauf, wo die Politik bislang nur unzureichende Antworten liefert. Letztlich liegt die Sorge vieler Bürger in einem scheinbaren Kontrollverlust, für den sie die EU mitverantwortlich machen. Es geht um Sorgen vor schrankenloser Migration, vor der faktischen Nichtdurchsetzbarkeit geltender Regeln oder auch um die Angst vor einer Herrschaft der Großkonzerne. Diese Sorgen müssen wir ernst nehmen.
Nichts ist fernliegender als die Antwort der Populisten, die als Antwort auf diese Sorgen den Rückzug ins Nationale predigen. Es ist grob falsch, den Menschen vorzugaukeln, dass wir Europäer auf die Probleme des 21. Jahrhunderts nationale Antworten geben könnten.
Was glauben sie, welchen Einfluss Europa in den Verhandlungen mit dem Iran gehabt hätte, wenn es nicht gemeinsam aufgetreten wäre? Oder auf Russland? Sie kennen die Antwort. Die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus, die Krisen in unserer Nachbarschaft oder die Migrationskrise können wir nicht im nationalen Alleingang lösen. Vor diesen Aufgaben können wir uns auch nicht wegducken, indem wir uns einmauern. Wir müssen sie gemeinsam angehen – mit Mut und Entschlossenheit.
Der beste Weg, um den Populisten zu begegnen, liegt daher darin, den Beweis anzutreten, dass Europa handlungsfähig ist. Die gegenwärtigen Krisen zu bewältigen, ist ein langwieriger Prozess, der allen Europäerinnen und Europäern Kompromissbereitschaft und gemeinsamen Willen zu Europa abverlangt. Aber: Die eingangs genannten positiven Entwicklungen belegen, dass Europa nach wie vor funktioniert.
Und auch in der Flüchtlingskrise, der vielleicht wichtigsten aktuellen Bewährungsprobe für die EU, hat es in den vergangenen Monaten durchaus Fortschritte auf dem Weg hin zu einer europäischen Lösung gegeben: Mit der Türkei ist eine Vereinbarung geschlossen worden, die bereits nach wenigen Wochen zu einem Rückgang der illegalen Schleuseraktivitäten in der Ägäis beigetragen hat. Wir sind dabei, den Schutz der europäischen Außengrenzen zu verbessern. Wir unterstützen diejenigen, die von der Flüchtlingskrise besonders betroffen sind, wie zum Beispiel Griechenland. Und wir werden, davon bin ich überzeugt, auch einen Weg finden, um insgesamt in Europa zu einer fairen Lastenteilung bei Flucht und Migration zu gelangen.
Meine Damen und Herren,
Gerade jetzt brauchen wir in Europa Mut, Solidarität und Durchhaltevermögen. Deutschland wird engagiert seinen Teil dazu beitragen, um Europa wieder flott und krisenfest zu machen. Wir werden uns in besonderem Maße für intelligente Kompromisse auf europäischer Ebene einsetzen.
Das ist keine einfache Aufgabe. Zu solidarischem Handeln gehört aber eben auch, einmal die deutsche Brille abzunehmen und sich in die Lage unsere Partner zu versetzen. Für uns in Deutschland mag die Flüchtlingskrise dominieren, die wirtschaftliche Lage außerordentlich gut sein. Für viele andere EU-Partner verhält es sich dagegen genau umgekehrt. Wir müssen lernen, diese verschiedenen Perspektiven noch besser zu verstehen.
Europa ist ein Teamspiel, bei dem wir letztlich nur zusammen Erfolg haben können. Wir können von anderen Mitgliedstaaten Solidarität und Teamgeist verlangen, aber wir müssen beides auch selbst vorleben und mit gutem Beispiel vorangehen.
Wenn wir dies beherzigen, dann werden wir die EU auch wieder auf Kurs bringen. Oder, um auf Mark Twain zurückzukommen und durch ein wenig Michael Roth zu ergänzen: Dann werden wir auch dort ankommen, wo wir hinwollen – in einem gemeinsamen, solidarischen Europa.