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Außenminister Sigmar Gabriel zur Lage in der Türkei
Pressestatement von Außenminister Sigmar Gabriel
-- es gilt das gesprochene Wort --
Ich habe heute Morgen das, was ich Ihnen gleich vortragen werde mit der Vorsitzenden der CDU, Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem Vorsitzenden der SPD besprochen – weil wir unser Vorgehen im Auswärtigen Amt natürlich in Übereinstimmung mit den Parteivorsitzenden von SPD und CDU vornehmen wollten, mit der Koalition mit der Regierung auch einheitlich handeln. Ich werde natürlich auch den Kollegen Seehofer noch anrufen.
Sie können davon ausgehen, dass alles, was ich Ihnen jetzt vortrage in Abstimmung sowohl mit Frau Merkel, als auch mit Herrn Schulz erfolgt ist.
Peter Steudtner ist Anfang Juli in die Türkei gereist, um an einem Seminar einer Menschenrechtsorganisation auf einer Insel im Marmara-Meer vor Istanbul als Berater teilzunehmen. Es ging um Fragen der Informationssicherheit und den Umgang mit sensiblen Daten von Opfern von Menschenrechtsverletzungen.
Peter Steudtner ist kein Türkei-Experte, er ist wohl überhaupt nur zum ersten Mal in die Türkei gereist, hat weder über die Türkei geschrieben noch enge Kontakte in die türkische Politik, Opposition oder Zivilgesellschaft, geschweige wäre er jemals als Kritiker der Verhältnisse in der Türkei aufgefallen.
Und doch sind am 5. Juli Sondereinheiten der türkischen Polizei mitsamt Sonder-Staatsanwälten in das Seminar geplatzt und haben alle 10 Teilnehmer unter dem Vorwurf der Unterstützung von Terrorismus verhaftet. Nach zwei unendlich langen Wochen in Polizeigewahrsam ist nun sogar wegen der gleichen Vorwürfe Untersuchungshaft gegen Peter Steudtner und 5 weitere Teilnehmer des Seminars verhängt worden.
Die Vorwürfe sind offensichtlich unsubstantiiert und an den Haaren herbeigezogen.
Peter Steudtner ist nur einer von 22 deutschen Staatsangehörigen, die seit dem zum Glück gescheiterten Putschversuch aus politischen Gründen in türkischer Haft genommen wurden. Heute sitzen noch 9 Deutsche in türkischer Untersuchungshaft.
Wir halten den Freiheitsentzug für unverhältnismäßig und nicht rechtmäßig. Wir müssen in jedem Fall um den völkerrechtlich zustehenden Anspruch auf konsularischen Zugang kämpfen.
Das Verhältnis von Deutschland und der Türkei ist in der letzten Zeit schweren Belastungen ausgesetzt gewesen.
Es gab in den letzten Jahrzehnten viele gute, aber auch mal schlechtere Zeiten, und immer schon, und bis heute, Vorbehalte, Missverständnisse, auch Vorurteile – auf beiden Seiten.
Bei allen Hindernissen und Schwierigkeiten konnten wir aber eines immer voraussetzen: Den Willen, partnerschaftlich zusammenzuarbeiten, und das letztlich auf der Grundlage gemeinsamer europäischer Werte und in der beiderseitigen Überzeugung, dass sich die türkische Führung auch in einer historischen Perspektive als Mitglied der europäischen Familie sieht – im NATO-Bündnis genauso wie in den Beziehungen der Türkei mit der Europäischen Union und mit Deutschland.
Gerade weil wir um die Empfindlichkeiten und Enttäuschungen in der Türkei wissen, beim mühseligen EU-Beitrittsprozess genauso wie beim gescheiterten Militärputsch, standen für uns Partnerschaft und Dialogbereitschaft, ja und auch Geduld mit unseren türkischen Freunden und Bündnispartnern an erster Stelle, auch wenn es uns mitunter nicht leicht fiel.
Nicht aus Vertrauensseligkeit oder Naivität, sondern aus der Überzeugung: Das müssen wir machen, weil wir verhindern wollen, dass Brücken abgebrochen werden und unsere gemeinsamen Interessen Schaden nehmen, und gerade auch für die Millionen Menschen türkischer Herkunft, die in Deutschland eine neue Heimat gefunden haben, die nicht zwischen alle Stühle fallen dürfen. Sie sind unsere Bürgerinnen und Bürger. Wir sind Ihnen dankbar für den Beitrag, den sie zum Aufbau und zum Wohlstand unseres Landes geleistet haben und weiter leisten.
Wieder und wieder haben wir Geduld geübt, uns zurückgenommen und nicht mit gleicher Münze heimgezahlt. Wieder und wieder haben wir darauf gesetzt, dass schon wieder Vernunft einkehren wird und wir zu gedeihlichen Beziehungen zurückfinden können. Wieder und wieder sind wir enttäuscht worden. Immer wieder wurde gleich die nächste Stufe der Eskalation erklommen.
Die Entwicklungen in der Türkei sind unübersehbar:
Wer Hunderttausende Beamte, Soldaten und Richter entlässt, Zehntausende Menschen, darunter Abgeordnete, Journalisten und Menschenrechtsaktivisten, ins Gefängnis steckt, Tausenden mittels Enteignung ihr gesamtes Hab und Gut nimmt, Hunderte Presseorgane schließt, wer Dutzenden deutschen Unternehmen pauschal Hilfe für Terroristen unterstellt – alles wohlgemerkt mit unsubstantiierten Vorwürfen und ohne Beachtung fundamentaler rechtsstaatlicher Grundsätze - , wer jetzt auch wieder der Todesstrafe das Wort redet, der will offenbar das Rad der Geschichte zurückdrehen und die erst in den letzten Jahren so erfolgreich aufgebauten Fundamente von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie abtragen.
Wer unbescholtene Besucher seines Landes unter hanebüchenen, ja abwegigen Beschuldigungen festnehmen und in Untersuchungshaft werfen lässt, verlässt den Boden europäischer Werte.
Ich übrigens glaube, er verlässt auch das, was die NATO sich als Wertebündnis immer im Selbstverständnis gegeben hat.
Die Fälle von Peter Steudtner, Deniz Yücel und Mesale Tolu stehen beispielhaft für die abwegigen Vorwürfe von „Terrorpropaganda“, die offensichtlich dazu dienen, jede kritische Stimme zum Schweigen zu bringen, derer man habhaft werden kann, auch aus Deutschland.
Und sie stehen für ein Unrecht, das jeden treffen kann.
Martin Schulz hat deshalb recht: So kann es nicht weitergehen. Wir können nicht weitermachen wie bisher. Wir müssen klarer als bisher sein, damit die Verantwortlichen in Ankara begreifen, dass eine solche Politik nicht folgenlos ist.
Wir werden deshalb jetzt schauen müssen, wie wir unsere Politik gegenüber der Türkei der verschärften Lage anpassen.
Ich sehe dabei insbesondere die folgenden Punkte:
Man kann niemandem zu Investitionen in einem Land raten, wenn es dort keine Rechtssicherheit mehr gibt und sogar Unternehmen in die Nähe von Terroristen gerückt werden. Ich sehe deshalb nicht, wie wir als Bundesregierung weiter deutsche Unternehmensinvestitionen in der Türkei garantieren können, wenn – wie geschehen - willkürliche Enteignungen aus politischen Motiven nicht nur drohen, sondern auch schon geschehen sind. Wir müssen darüber nachdenken, ob wir nicht Hermes-Exportbürgschaften deckeln. Bei der Vergabe von Investitionskrediten europäischer Entwicklungsbanken wie der EIB gilt es auch sehr genau hinzuschauen, was geht und was nicht.
Das betrifft natürlich auch die Frage: Wie gehen wir in Europa mit den Vorbeitrittshilfen der EU an die Türkei um. Auch darüber werden wir in den nächsten Tagen und Wochen mit unseren europäischen Kollegen sprechen müssen.
Der Fall Peter Steudtner zeigt, dass deutsche Staatsbürger in der Türkei vor willkürlichen Verhaftungen nicht mehr sicher sind. Wir können daher gar nichts anders als unsere Reise- und Sicherheitshinweise für die Türkei anzupassen und die Deutschen wissen zu lassen, was ihnen geschehen kann, wenn sie in die Türkei reisen. Die neuen Reise- und Sicherheitshinweise finden Sie auf der Webseite des Auswärtigen Amtes.
Der SPD-Vorsitzende Martin Schulz hat darüber hinaus auch Stellung genommen zu Themen wie der Zollunion, ein Interesse, das die Türkei sehr verfolgt, das im Mittelpunkt des türkischen Interesses im Zusammenhang mit der Europäischen Union steht. Und ich muss offen sagen, dass auch ich mir nicht vorstellen kann, dass es Verhandlungen für die Ausweitung der Zollunion gibt, wenn Staatsbürgerinnen und Staatsbürger der Europäischen Union zeitgleich und ohne Grund in der Türkei in Haft gehalten werden. Ich stimme ihm also ausdrücklich zu.
Wir fordern die türkische Seite zum wiederholten Male sehr eindringlich auf, zu einem anständigen Dialog auf der Grundlage europäischer Werte zurückzukehren.
Wir fordern die Freilassung von Peter Steudtner, Deniz Yücel und Mesale Tolu, ungehinderten konsularischen Zugang und zügige, faire Verfahren für sie und die anderen Deutschen, denen politische Straftaten zur Last gelegt werden.
Wir erwarten eine Rückkehr zu europäischen Werten, zu Respekt vor der Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit.
Uns liegen die Beziehungen mit der Türkei sehr am Herzen. Wir sind weiter an guten und vertrauensvollen Beziehungen mit der türkischen Regierung interessiert. Wir wollen, dass die Türkei ein Teil des Westens bleibt. Aber: „It takes two to tango!“
Ich kann auf Seiten der türkischen Regierung derzeit keinerlei Bereitschaft erkennen, diesen Weg mit uns zu gehen. Leider! It takes two to tango!
Zum Weiterlesen:
„Auswärtiges Amt zitiert türkischen Botschafter zum Gespräch“ (Pressemitteilung vom 19.07.2017)