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„Deutschland gehört zu den Ländern in Europa, die am wenigsten abschieben“
Außenminister Sigmar Gabriel äußert sich im Interview zu Abschiebungen nach Afghanistan und zum Umgang mit der Türkei nach dem Referendum. Erschienen am 25.04.2017 in den Kieler Nachrichten.
Die Taliban haben am Wochenende in Nord-Afghanistan 140 Menschen getötet. Das stützt die Haltung der Regierung Albig, keine Menschen dorthin abzuschieben. Sind Abschiebungen nach Afghanistan aus Ihrer Sicht dennoch zu verantworten?
Wir haben im letzten Jahr lediglich 67 Menschen nach Afghanistan abgeschoben, alles junge, alleinstehende Männer, viele waren zuvor straffällig geworden. Diese Entscheidung hat übrigens nicht die Politik getroffen, sondern deutsche Gerichte. Zeitgleich sind mehr als 3200 Afghanen freiwillig aus Deutschland in ihr Land zurückgekehrt. Andere Staaten schieben mehr ab als wir. Afghanistan ist ein gefährliches Land mit weiten Teilen, in denen der Bürgerkrieg mit den Taliban wütet und in die wir niemanden abschieben sollten. Aber es gibt auch andere Regionen, wo das durchaus möglich ist. Darüber entscheidet ohnehin nicht die Politik, sondern die Justiz. Da fließen dann auch UNHCR-Berichte und die Lagebeurteilung des Auswärtigen Amtes in die Entscheidung ein.
Der UNHCR widerspricht aber Ihrer Einschätzung...
Das ist nicht richtig, er wird in der aufgeheizten innenpolitischen Auseinandersetzung nur einseitig zitiert. Manchmal ärgere ich mich schon, dass wir so schwarz-weiß debattieren. Und ein Blick auf den Rest Europas lohnt sich: Fast die Hälfte der afghanischen Flüchtlinge erhalten in unserem Land Schutz. Im Rest Europas sind es deutlich weniger. Deutschland gehört zu den Ländern in Europa, die am wenigsten abschieben. Selbst das liberale Schweden ist härter als wir. Vor allem bittet die afghanische Regierung uns händeringend darum, nicht den Eindruck zu vermitteln, wir würden alle Afghanen aufnehmen. Denn es reisen dort natürlich nicht die Ärmsten aus, sondern eher die besser Gebildeten und etwas Wohlhabenderen. Genau die werden aber für den Wiederaufbau des Landes benötigt.
Dann müssten Sie sich doch über die Haltung der Regierung Albig wundern?
Nein. Die Haltung der Regierung von Torsten Albig ist doch erst einmal ein Ausdruck großer Mitmenschlichkeit. Sie finden das übrigens in allen Parteien. Ich bekomme auch viele Briefe von CDU-Kollegen, die sich für einen Abschiebestopp nach Afghanistan einsetzen. Ich kann den Reflex gut verstehen, auf Abschiebungen nach Afghanistan verzichten zu wollen. Aber ich kann deshalb ja nicht die Augen vor der tatsächlichen Lage und auch nicht die Ohren vor den Bitten der afghanischen Regierung verschließen. Wenn wir das als einzige in Europa machen, dann werden wir erleben, dass nur noch bei uns Asyl beantragt wird. Und nochmal: Die Anzahl der freiwilligen Rückkehrer übersteigt die Abschiebungen um ein Vielfaches. Das zeigt: Es gibt Städte und Gegenden, in die Menschen zurückkehren können und auch wollen.
Kontrovers diskutiert wird auch der Umgang mit der Türkei nach dem Referendum. Die CDU in Schleswig-Holstein stellt in ihrem Wahlkampf das System der doppelten Staatsbürgerschaft in Frage.
Ich finde die Haltung der CDU in dieser Frage skandalös. Nur eine Minderheit der wahlberechtigten Türken in Deutschland hat für Herrn Erdogan gestimmt; die Hälfte von ihnen hat doch gar nicht ihre Stimme abgegeben. Die wollten sich schlicht nicht von der türkischen Innenpolitik missbrauchen lassen. Die haben sich nicht für das interessiert, was in der Türkei passiert, sondern für das, was in Deutschland ihr Leben beeinflusst. Das ist doch erstmal ein gutes Zeichen. Eine große Mehrheit hat also Herrn Erdogan gar nicht unterstützt. Es ist vollständig unfair, dieses Abstimmungsverhalten jetzt als Zeichen für mangelnde Integration zu werten. Genau das wird zu Wahlkampfzwecken jetzt von der CDU aber getan. Und die Union betreibt mit ihrem Kampf gegen die doppelte Staatsbürgerschaft dabei auch noch das Spiel von Herrn Erdogan. Der will doch wieder in Türken und Deutsche spalten. Wir haben die doppelte Staatsbürgerschaft ja nur für in Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern eingeführt! Das ist eine Brücke nach Deutschland. Die will Herr Erdogan einreißen, und die CDU hilft ihm auch noch dabei. Selten habe ich eine absurdere Situation erlebt.
Ist mit der Entwicklung in der Türkei eine EU-Mitgliedschaft für die nächsten zehn Jahre erledigt?
Die Wahrheit ist doch, dass weder die Europäer derzeit an eine Mitgliedschaft glauben noch die Türkei das ernstlich will. Die Verhandlungen gehören aber zu den wenigen Gesprächskanälen, die wir noch haben. Deshalb sollten wir auch daran festhalten, solange wir nichts Besseres haben. Die jetzt so oft aufgestellte Forderung nach Abbruch aller Gespräche halte ich für vollkommen falsch. Nicht miteinander reden hat noch nie geholfen.
Was wollen Sie tun, um der türkischen Zivilgesellschaft in dieser schwierigen Situation zu helfen?
Erdogan ist nicht die Türkei. Es gibt auch eine Zeit danach. Ich wäre dafür, gerade jetzt erleichterte Reisemöglichkeiten für die uns wichtigen Teile der türkischen Gesellschaft einzuführen – für Intellektuelle, Wissenschaftler, Studenten, Künstler, Schriftsteller, Journalisten oder auch Unternehmer, die in Deutschland und der Türkei unterwegs sind. So ließen sich die stärken, die liberales Denken und die demokratische Kultur der Türkei verkörpern. Bislang reagieren wir nur auf Herrn Erdogan. So könnten wir das Heft des Handelns in die Hand nehmen.
Interview: Kristian Blasel