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Zu lange hat die Welt dem Morden zugesehen: Wie wir die Eskalation der Gewalt verhindern könnten
Beitrag von Außenminister Gabriel zur Lage in Syrien. Erschienen im Tagesspiegel (09.04.2017).
Beitrag von Außenminister Gabriel zur Lage in Syrien. Erschienen im Tagesspiegel (09.04.2017)
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Es gibt Bilder, die sich einbrennen, die so fürchterlich sind, dass sie den Schlaf rauben. Für mich gehört dazu das Bild des Vaters aus Khan Shaikhun, der letzte Woche seine beiden kleinen Kinder zu Grabe trägt. Nach allem, was wir wissen, wurden sie durch eine besonders perfide Waffe ermordet, durch Giftgas. Der syrische Konflikt ist täglich voller Grausamkeiten: Menschen werden ausgehungert, gefoltert und umgebracht. Und doch: Der Einsatz von Chemiewaffen wird von der Weltgemeinschaft als ein besonderer Zivilisationsbruch gewertet. Nahezu die gesamte Staatengemeinschaft hat sich deshalb auf Ächtung von Chemiewaffen geeinigt – auch Syrien.
Trotz dieser schrecklichen Bilder, die mich auch als Vater tief berührt haben, muss die Bundesregierung natürlich sehr nüchtern prüfen, wer verantwortlich ist. Alle Indizien, die unseren Partnern vorliegen, sprechen dafür, dass das syrische Regime hinter dem Angriff steckt. Als Assad 2013 Chemiewaffen gegen sein Volk eingesetzt hat, kam die Weltgemeinschaft zusammen, um die syrische Regierung zu zwingen, dem internationalen Abkommen zum Verbot von Chemiewaffen beizutreten und die vorhandenen Waffen zu vernichten. Doch auch in den Folgejahren setzte das Regime immer wieder Chemikalien zur Kriegsführung ein, z.B. Chlorgas. Das haben die Vereinten Nationen dokumentiert. Nun deutet erneut alles auf einen Chemiewaffeneinsatz durch das Regime hin. Das darf nicht folgenlos bleiben, sonst ist es eine gefährliche Aufforderung an andere Diktatoren, ähnlich brutal zu handeln. Auch deshalb unterstützt Deutschland die Vereinten Nationen finanziell bei der Dokumentation von Kriegsverbrechen, die am Ende vor ein internationales Strafgericht führen müssen.
Seit dem US-Angriff auf die Basis der syrischen Armee, von der in der vergangenen Woche die verheerende Giftgasangriff ausging, werde ich täglich von Menschen gefragt: „Droht jetzt der dritte Weltkrieg? Und werden die USA und Russland jetzt gegeneinander Krieg führen?“ Das zeigt: viele Menschen sind sehr verunsichert und haben Angst, dass es zu einem Krieg der beiden Supermächte kommen könnte.
Ich bin sicher, dass es zu einer solchen Eskalation der kriegerischen Gewalt nicht kommen wird. Aber das Gefühl der Menschen ist richtig: Lange war die internationale Situation nicht so besorgniserregend wie in diesen Tagen. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wird durch Teile seiner Mitgliederentehrt, die eine Lösung blockieren und so für mehr Unsicherheit als für Sicherheit sorgen. Zugleich ist weltweit von Aufrüstung die Rede und anders als in den 70er und 80er Jahren gibt es kein starkes Verhandlungsangebot zur Abrüstung, das neben den Aufbau der Verteidigungsfähigkeit tritt. Im Gegenteil: die Worte Rüstungskontrolle und Abrüstung kommen in der politischen Debatte derzeit nicht einmal vor. Wenn es eine Aufgabe Europas in diesem Zusammenhang gibt, dann neben der Entwicklung der eigenen Verteidigungsfähigkeit auch endlich auch wieder Abrüstungsangebote und Vorschläge zur Rüstungskontrolle auf die internationale Tagesordnung zu setzen. Mit 500 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern sind wir Europäer keine Zuschauer der Weltpolitik, sondern müssen ein selbstbewusster Akteur werden.
Die Gründe dafür sind vielfältig. Zu lange hat die Welt dem Bürgerkrieg und dem Morden zugesehen. Und die amerikanische Ankündigung, sich auf den Kampf gegen den Terror konzentrieren zu wollen und das Assad-Regime letztlich zu dulden, schien wie eine Einladung an den syrischen Diktator, sich sicher zu fühlen. Zu lange war Syrien ein Austragungsort für Stellvertreterkriege. Zu lange gibt es wechselnde Unterstützungen von Terroristen, weil sie für die Durchsetzung nationaler Interessen in der Region geeignet erschienen. Deshalb ist der Ausweg klar: nicht eine Eskalation der Gewalt wird dem geschundenen Land und seinen Menschen helfen, sondern nur der Wille aller Beteiligten, sich an einen gemeinsamen Tisch zu setzen, für einen Waffenstillstand zu sorgen und zugleich den Weg frei zu machen für eine schrittweise Versöhnung der Bürgerkriegsparteien und den Aufbau eines neuen Syrien, ohne Assad und seine Schergen. Denn nur ein demokratisches und freies Syrien wird ein friedliches Syrien werden.
Der Angriff gegen einen Militärflughafen des Regimes ist ein Signal, löst das Problem in Syrien aber nicht nachhaltig. Das wissen alle Beteiligten. Weiterhin kämpfen Regime und Opposition in einem blutigen Konflikt. Wird das erschütternde Bombardement in Khan Sheykhoun die Parteien zum Umdenken bringen? Nach all den Jahren des Krieges fällt es schwer, zuversichtlich zu sein. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass wir jetzt endlich zu ernsthaften Friedensbemühungen unter dem Dach der Vereinten Nationen kommen. Denn dieser furchtbare Konflikt zeigt: Nur eine politische Lösung, die von Russland, den USA und den beteiligten Regionalmächten mitgetragen wird, kann das Leid der Menschen dauerhaft beenden. Deshalb unterstützen wir die Bemühungen der Vereinten Nationen mit ganzer Kraft. Um diesem Prozess neuen Schub zu verleihen, war es ein erstes wichtiges Signal, dass die Bundeskanzlerin und der französische Präsident gemeinsam an Russland appellierten, nun alles zu tun, um eine politische Lösung zu ermöglichen. Ich werde morgen mit den Außenministern der G7 Staaten in Italien darüber beraten, was wir noch mehr tun können.
Niemand hat an diesem politischen Prozess mehr Interesse als das Land und seine Nachbarn, zu denen auch Europa gehört. Unser europäisches Angebot unter dem Primat der Politik sind Verhandlungen, humanitäre Hilfe und langfristig Wiederaufbau. Militärische Aktionen wie wir Europäer sie auch gegen die Terroristen des sogenannten Islamischen Staates unterstützen und uns daran beteiligen, müssen aber „ultima ratio“ bleiben. Wer jetzt einer weiteren militärischen Eskalation gegen das Assad-Regime das Wort redet, wird den Konflikt in Syrien nicht lösen, sondern riskiert einen Konflikt, der dann weit über die Region hinaus gehen kann. Mit mehr Toten, mehr Flüchtlingen und keinem Ende der Gewalt. Deshalb darf das keine Option für Europa und auch nicht für die NATO sein.
Deutschland fühlt sich Syrien vielfältig verbunden. Viele Syrer nennen Deutschland seit Jahrzehnten ihre Heimat, in den letzten Jahren sind viele hinzugekommen, die vor Gewalt und Elend geflohen sind. Gerade wir Deutschen können ja verstehen, was Diktatur, Fanatismus und Hass in den Herzen der Menschen anrichten. Wir wissen aber auch, dass es möglich ist, solche Gräben zu überwinden. Wir wollen, dass Syrien wieder zu einem kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Zentrum des Mittleren Ostens wird, in dem alle Syrer eine gemeinsame Heimat finden und frei von der Angst vor Terror und politischer Repression leben können.