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„Politik auf der Kanzel - Predigt über Genesis 22, 1-13, die Bindung Isaaks“. Rede von Europa-Staatsminister Michael Roth

02.04.2017 - Rede

Nadim ist 12 Jahre alt. Kinder in seinem Alter sollten vormittags zur Schule gehen, nachmittags mit Freunden Fußball spielen und abends mit der Familie beim Abendbrot zusammen sitzen. Nadim trägt ein Trikot vom FC Barcelona mit der Rückennummer 10. Es ist das Trikot von Messi, viel zu groß und viel zu lang für den kleinen Nadim. Die Polizei von Kirkuk wird später in ihrem Bericht festhalten, dass „die Ärmel über seine Hände reichten“ und dass „der Schnitt auffällig weit war für seinen Körper.“

An einem Sonntagabend, es ist der 21. August 2016, soll Nadim in der nordirakischen Stadt eine Moschee in die Luft zu sprengen. Das übergroße Trikot trägt er, um darunter vier Taschen voller Dynamit zu verstecken. Ein Knopf an seiner Hüfte ist der Zünder.

Nadim ist 12 Jahre alt. Er ist bereit zu töten; er ist bereit, seine Mission zu erfüllen. Die Terrororganisation, die sich in perverser Selbstanmaßung Islamischer Staat nennt, hat ihn geschickt. Zuvor wurde er von den Terroristen in seiner Heimatstadt entführt und verschleppt. Fernab von Familie und Freunden hat ihn der IS zu einem Killer umerzogen.

Jetzt steht Nadim vor seinem Ziel, er rennt los, er ruft „Allahu akbar“, „Gott ist groß“. Im letzten Moment ergreift ihn ein Polizist und verhindert diesen Anschlag.

Nadim hat einen Bruder. Er heißt Kahlid und ist dreizehn Jahre alt. Auch er trägt ein übergroßes Fußballtrikot und darunter einen Sprengsatz. Ihn ergreift kein Polizist. Niemand hält ihn auf. Die durch ihn verursachte Explosion, so berichten Augenzeugen später, hallte wie Donner über die ganze Stadt.

Wie alt Isaak ist, als Abraham ihn zur Schlachtbank führt, ist nicht überliefert. Aber auch er soll, im Interesse einer „höheren Instanz“, eines Gottes, geopfert werden. Allerdings mit einem wesentlichen Unterschied zur realen Geschichte von Nadim und Kahlid: Abraham soll keinen Unbekannten auf dem Altar opfern. Es gibt keine Anonymität. Ein Vater soll seinen Sohn ermorden. Eine unerträgliche Situation.

Ich erzähle heute von drei Kindern, die sich nicht zur Wehr setzen können. Ausgeliefert. Um einer höheren Sache willen.

Als ich so alt wie Nadim und Kahlid war, las ich gerne in der Bibel. Ich hatte naturgemäß keine Ahnung vom tieferen theologischen Sinn. Aber mich faszinierten die spannenden, oft brutalen, gewaltigen Geschichten vor allem des Alten Testaments. Vieles verstörte mich, nicht alles verstand ich.

Seitdem hat sich die Erzählung von Abraham, dem aufgetragen ist, seinen Sohn Isaak zu opfern, tief in meinem Gedächtnis eingebrannt.

Vielleicht kennen Sie das berühmte Bild von Caravaggio: Abraham hat einen Dolch in der erhobenen Hand, bereit das Unvorstellbare auszuführen. Dazu drückt er das Kind auf einen Stein. Isaaks Augen sind schreckerfüllt aufgerissen. Warum erteilt dieser grausame Gott zuerst den Auftrag zum Mord, zieht ihn aber im letzten Moment zurück? Ich hatte damals keine schlüssige Antwort. Aber diese Frage beschäftigt mich bis heute. Warum verlangt Gott von Abraham, seinen einzigen Sohn, seine Zukunft, zu opfern?

Während die Geschichte von Nadim und Khalid traurige Wirklichkeit ist, nicht nur der Spiegel berichtete am 18. Februar 2017 darüber, ist die Geschichte Isaaks Fiktion. Die jüdische Auslegungstradition besagt, dass es darum geht, sinnlose und zerstörerische Glaubensopfer zu verhindern. Das will uns das Alte Testament mit dieser furchtbaren Geschichte sagen.

Nadim, Khalid und Isaak. Alle drei sind Opfer des Glaubens. Aber was ist das für ein perverser Glaube, der das Menschenopfer fordert? In den nachfolgenden Jahrhunderten der Auslegung wird Abraham immer als ein Held des Glaubens gedeutet. Im Übrigen auch für Martin Luther, der Abraham, gerade weil er Gott so sehr glaubt, für ein Vorbild des Glaubens hält. Für Luther ist er ein Paradebeispiel für Glaubensgehorsam.

Glaubensgehorsam. Für uns Protestantinnen und Protestanten ist das ein nicht ganz unwichtiger Aspekt. Schließlich legt das evangelische Christentum bekanntlich ein ganz besonderes Gewicht auf den Glauben. Nur bei uns gibt es schließlich die Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben. Nicht durch gute Werke, allein durch den Glauben gewährt uns Gott seine Gnade. Den Gläubigen, nicht den Fleißigen, den Tadellosen und den Unfehlbaren, steht das Himmelreich offen!

Und auch die Erzählung um Abraham und die Opferung seines Sohnes setzen scheinbar genau das voraus. Blinder Gehorsam und unreflektierter Glaube bilden hier ein unheiliges Paar. Aber genau das, blinder Gehorsam und unreflektierter Glaube, sind unevangelisch. Die Reformation hat uns befreit von Dogmen, unumstößlichen Wahrheiten und unkritischem Abnicken. Die Reformation, deren 500. Geburtstag wir in diesem Jahr feiern, macht sich ja gerade dafür stark, selber zu denken, die Dinge kritisch zu befragen, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen und sein Gewissen zu prüfen. Blinder Glaubensgehorsam ohne Zweifel und ohne Reflexion - eine solche Haltung ist nicht reformatorisch.

Gerade wenn ich in meinem Amt mit komplizierten menschlichen und politischen Problemen zu tun habe, genügt es mir nicht, nur die eine Seite der Geschichte zu hören oder bloß moralisch anständig zu sein.

In meiner Arbeit ist das Denken und Handeln in den Kategorien von Schwarz und weiß, gut und böse schlicht nicht möglich. Nun ist es ja nicht so, dass man seinen Glauben einfach so wie einen Mantel an der Garderobe abgibt, wenn man Parlamentarier wird oder ein Büro im Auswärtigen Amt bezieht. Für mich als Christ ist mein Glaube auch im politischen Leben ein Begleiter und ein Ratgeber. Das heißt nun nicht, dass ich Politik mache mit der Bibel in der Hand. Aber um in dieser immer unübersichtlicheren Welt Orientierung zu finden, kann der Glaube durchaus als innerer Kompass dienen, der uns dabei hilft, den richtigen Weg zu finden. Und die Gewissheit tut gut, dass man am Ende nicht tiefer fallen kann als in Gottes Hand.

Meine tägliche Arbeit im Auswärtigen Amt ist oft ein zähes Aushandeln von Kompromissen. Man braucht einen langen Atem. Und Geduld. Gerade in Zeiten von Rückschlägen trägt mich mein Glauben. Was uns Christen stark macht und Freiheit verleiht, ist dass wir um unsere eigene Begrenztheit wissen und dennoch entschlossen sind, die Welt ein Stückchen besser zu machen. Oder wie es ein bekanntes Lutherzitat ausdrückt: „Wir sind‘s noch nicht, wir werden’s aber. Es ist noch nicht getan, es ist aber im Gang und im Schwang. Es ist nicht das Ende, aber der Weg.“

Meine Patenkinder Paula und Anna sind 15 und 12 Jahre alt. Niemals käme ich, geschweige denn ihre Eltern, auf die völlig abwegige Idee sie zu opfern. Diese Vorstellung ist so abstrus, so unwirklich! Einen Gott, der verlangt, dass ich meine Kinder ermorde, kann ich nicht denken. Und ehrlich gesagt, so einen Gott mag ich mir auch nicht vorstellen. An so einen Gott will ich auch nicht glauben.

Für Abraham hingegen gibt es keine Alternative. Er kennt JHWH („jachwäh“) und nur ihn. Es gibt für ihn keinen anderen Gott, als den, der ihm zehn Kapitel vorher eine große Nachkommenschaft versprochen hat und jetzt diese Verheißung ad absurdum führt. Auflehnen ist für Abraham keine Option. Seine Frömmigkeit verbietet es ihm, diesen Gott in Frage zu stellen.

Aber solche Geschichten - wie im übrigen viele andere der Bibel - einfach so hinzunehmen ist brandgefährlich, nicht zuletzt weil es das darin übermittelte Gottesbild eben auch ist. Aber mit was für einem Gott haben wir es zu tun? An welchen Gott glauben wir?

In einer Aufsehen erregenden Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin über die Opferung Isaaks aus dem Jahre 2015, haben die Künstler diese Frage aufgegriffen und zu beantworten versucht. Eindrücklich haben sie den ganzen Zwiespalt der Erzählung aufgezeigt.

Die Multimediakünstlerin Saskia Boddeke erinnerte daran, dass „die Geschichte um die Opferung des Sohnes zwar eine alte Geschichte ist, die aber absolut wichtig ist für uns heute: Jeden Tag werden Kinder auf der Welt geopfert. Doch jeder ‚Isaak‘ muss beschützt werden. Er hat ein Recht darauf, in einer Welt ohne Kriege zu leben.“

Gerade in unseren Zeiten, in der Kinder wie Nadim und Khalid grausame Wirklichkeit sind, drängen sich aktuelle Deutungen der Geschichte über die Opferung Isaaks auf. Denn Abraham scheint „für einen gefährlich langen Moment“ so zu sein wie ein Terrorist unserer Tage.

Der Journalist Gerald Beyrodt meint dazu: „Während Abraham anderswo in der Bibel durchaus mit Gott diskutiert, […] ist hier kein Wort des Widerspruchs von ihm zu hören. Abraham erscheint wie ein Fanatiker, der alles tut für seine religiöse Mission – oder das, was er dafür hält.
Einer, der keine Fragen mehr stellt, nicht nach rechts oder links sieht, einer der blind ist vor lauter Gehorsam. Solchen religiösen Fanatismus gab und gibt es in allen Religionen.“

Wie weit muss man einem solchen Gott gehorchen, der so Widerwärtiges fordert? Woody Allen hat, übrigens gemeinsam mit Immanuel Kant, auf diese Frage eine eigene Antwort gefunden und für sich herausgefunden, dass es in dieser Geschichte nur darum geht, die Lust am Gehorsam bloßzustellen. Woody Allen lässt Abraham fragen: „Was soll man denn tun, wenn man um zwei Uhr nachts in Unterhosen vor dem Schöpfer des Universums steht - diskutieren?“ Ja, Abraham, diskutieren! Warum denn eigentlich nicht?

Vier Kapitel zuvor rang der Patriarch mit Blick auf Sodom und Gomorra noch hartnäckig mit Gott um die Rettung menschlichen Lebens. Und ausgerechnet jetzt, wo es um seinen eigenen Sohn geht, bleibt er stumm und handelt mechanisch, fast wie ferngesteuert?

Woody Allen lässt Gott zu Abraham sagen: „Du beweist, dass einige Menschen jedem Befehl folgen, ganz egal wie kreuzdämlich er ist, solange er von einer wohlklingenden, melodischen Stimme kommt.“ Diejenigen von Ihnen, denen jetzt nicht zum Schmunzeln zumute, will ich zurufen: Humor ist, wenn man trotzdem lacht.

Sie wissen, wie die Geschichte weitergeht. Es braucht erst einen Engel, der die grausame Szene unterbricht, bis Abraham aufblickt und erkennt. Isaak überlebt, aber trotz der wunderbaren Rettung, bleibt am Ende der grausamen Geschichte die Erkenntnis: Abraham hat am Ende, fast zu spät, etwas gelernt. Er weiß jetzt, was glauben heißt. Glauben ist eben nicht bloßes für-wahr-halten oder ein schlichtes sich fügen und einpassen! Abraham hat gelernt, und mit ihm hoffentlich alle Gläubigen: Diesem Gott kann man vertrauen. Denn dieser Gott hat sich festgelegt.

Er, der ein Gott des Lebens ist, will nicht den Tod. Er fordert Vertrauen. Vielleicht auch ab und an einen kleinen Vertrauensvorschuss.

„Da prüfte Gott den Abraham“, so lautet der Anfangssatz. Auch Gott riskiert viel. Sogar sehr viel. Denn was wäre passiert, wenn sich Abraham nicht davon hätte abhalten lassen, seinen eigenen Sohn zu töten? Garantiert geschieht all das nicht zufällig auf dem Berg Morija. Abraham nennt den Berg so und das bedeutet: Der Ewige sah. Wir stehen neben Gott. Wir blicken mit ihm und Abraham in die sich vor uns auftuenden Abgründe. Klar zu erkennen ist da schon: Der Glaube ist kein Wellnesspaket, kein Wohlfühlangebot. Der Glaube ist weder harmlos noch bequem. Zu Glauben kann manchmal ganz schön anstrengend sein.

Wer glaubt, der hinterfragt, der reflektiert, der zweifelt, der sucht nach dem Sinn. Wer glaubt, sollte Gott aber auch beim Wort nehmen. Auch durch meine langjährige Arbeit in Parlament und Regierung habe ich gelernt, dass man oft einen sehr langen Atem braucht. Und Vertrauen. Was uns Christen also stark und frei macht, ist dass wir um unsere eigene Begrenztheit wissen und dennoch entschlossen sind, die Welt ein Stückchen besser zu machen. Diesen Weg will ich gerne gehen im Vertrauen auf das Wort Gottes. Ein Wort auf das man sich getrost verlassen kann.

Gottes Wort ist klar und eindeutig: Es gibt keinerlei Rechtfertigung, Nadim, Khalid, Isaak oder irgendeinen anderen Menschen auf dieser Welt im Namen einer höheren Instanz zu opfern. Sei sie religiös oder politisch begründet. So verstehe ich jetzt die Geschichte von Abraham und seinem Sohn Isaak. Sie ist eine fiktive Erzählung. Sie ist ein lauter, harter Protest gegen jede zerstörerische Opfermentalität.

Evangelisch zu sein heißt: Du darfst, Du sollst frei denken! Nehmen wir uns die Freiheit, Fragen zu stellen. Gerne auch unbequeme. Wer glaubt, lehnt den Fundamentalismus, gleich welcher Spielart, entschieden ab.

Wer glaubt, der zweifelt.

Wer glaubt, der vertraut.

Wer glaubt, der ist frei.

Amen

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