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Der Westfälische Frieden als Denkmodell für den Mittleren Osten. Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier bei den Osnabrücker Friedensgesprächen

12.07.2016 - Rede

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Griesert,
sehr geehrter Herr Prof. Dr. Lücke,
sehr geehrter Herr Dr. Hermann,
verehrte Damen und Herren!

Gestatten Sie mir, dass ich in der Stadt des Westfälischen Friedens zunächst kurz über Schlesien rede. Das hat mehrere Gründe, einer davon ist meine Mutter, die von dort stammt. Doch davon später.

1707 schlossen der deutsche Kaiser und der schwedische König die Konvention von Altranstädt in Sachsen, mit der den schlesischen Protestanten ihr Recht auf freie Religionsausübung garantiert wurde. Genauer gesagt, musste der Kaiser dieses Recht den Protestanten wieder gewähren, das er ihnen vorher entzogen hatte. Zusätzlich musste er ihnen eine große Zahl enteigneter Kirchen, Pfarrstellen und Privilegien zurückgeben. Der Kaiser tat dies unter dem Eindruck der kampfstarken schwedischen Armee, die Karl der Zwölfte marschbereit in der Nähe hielt. Aber Karl hatte nicht nur Kanonen auf seiner Seite, sondern auch das Recht. Der Westfälische Frieden hatte nämlich 60 Jahre zuvor unter anderem die Konfessionsfreiheit der schlesischen Protestanten fixiert. Schweden war damals – neben Frankreich - zu einer der Garantiemächte dieser Rechte gemacht worden.

Karls Drohung, mit Waffengewalt die westfälischen Rechte durchzusetzen, wirkte. Die Vereinbarungen von Altranstädt wurden umgesetzt, zum Wohle der Protestanten. Zwar verlor Karl der Zwölfte kurz danach die Schlacht von Poltawa gegen die Russen, und Schwedens Stern begann zu sinken. Doch die westfälischen Spielregeln galten weiterhin und bewahrten Schlesiens Charakter als gemischt-konfessionelle Region im Herzen Europas.

Was hat das mit dem deutschen Außenminister zu tun? Zum einen erlaubte es den Vorfahren meiner Mutter, ihre Konfession zu leben - und an mich weiterzugeben. Zum anderen zeigt das Beispiel Schlesien auch, wie komplex das Zusammenspiel von Macht und Recht auf dem Weg zum Frieden ist. Und darüber möchte ich heute reden. Es geht um den Westfälischen Frieden, und welche Anregungen ich daraus als aktiver Außenminister ziehen kann.

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In Syrien werden wir seit mehr als fünf Jahren Zeuge eines unsagbar blutigen Konfliktes. Ein Krieg, in dem bislang mehr als 350 000 Menschen umgekommen sind und der Millionen aus ihrer Heimat vertrieben hat. Viele von ihnen haben auch hier bei uns in Deutschland Schutz und Zuflucht gefunden, aber selbst diese vielen sind wenige im Vergleich zu den geschätzten sechs Millionen Binnenflüchtlingen, die immer noch im Kriegsgebiet umherirren, oder den Millionen, die im kleinen Libanon, in Jordanien, oder der Türkei ausharren, Die Nachbarländer leisten Großartiges und verdienen nicht nur unsere Anerkennung, sondern vor allem auch unsere tatkräftige, nicht zuletzt finanzielle, Unterstützung.

Der syrische Konflikt ist vertrackt: Ihn als Bürgerkrieg zu beschreiben, greift zu kurz. Das Bild ist komplizierter – ein vielschichtiges Tableau von Akteuren und Konfliktebenen: Ein Regime, das gegen das eigene Volk Krieg führt; Rebellen verschiedenster Couleur, darunter nicht wenige islamistische Extremisten; ethnische und religiöse Minderheiten, die zwischen den Fronten stehen bzw. ihre Chance gekommen sehen wie z.B. die Kurden; eine menschenverachtende Terrororganisation, der sogenannte „Islamische Staat“, die über die syrischen Grenzen hinaus Andersdenkende ermordet und versklavt und auch hier bei uns in Europa Anschläge verübt; Regionalmächte, die Syrien zum Schauplatz eines Stellvertreterkriegs machen; und natürlich auch weitere externe Akteure, nicht zuletzt Russland und die USA.

Als Außenminister wende ich viel Zeit und Energie dafür auf, nach Lösungen zu suchen. Wir ermöglichen Verhandlungen der syrischen Opposition mit dem Regime in Genf, wir verhandeln mit den anderen regionalen und Weltmächten in Wien. Deutschland leistet humanitäre Hilfe in Milliardenhöhe für Flüchtlinge, wir beteiligen uns an der Anti-Isis-Koalition und finanzieren den Wiederaufbau von Städten, die vom IS befreit sind, wir bilden Journalisten, Polizisten und sogar ein syrisches THW aus.

Und doch denke ich, wenn ich mal wieder von einer Reise aus Brüssel, aus Wien, aus Genf oder aus der Region zurückkomme: Könnten wir nicht noch mehr tun, um das Morden zu stoppen? Neue, kreative diplomatische Ansätze, die der Komplexität des Konfliktes gewachsen sein könnten, sind aber leider knapp: Da gibt es nichts zu beschönigen. Sonst wären wir ja auch schon viel weiter. Ich bin aber der tiefen Überzeugung – und das sage ich nicht, weil das der Philosophie dieser Gesprächsreihe entspricht und ich meinen Gastgebern schmeicheln wollen würde -, dass militärische Lösungen niemals nachhaltige Lösungen sind, ja, nicht sein können. Um also unser diplomatisches Arsenal zu vergrößern, wie es die dramatische Lage in der Region erfordert, lohnt sich meiner Ansicht nach auch ein Blick in die Geschichte.

In der amerikanischen Zeitschrift „Foreign Affairs“ habe ich kürzlich versucht, die Veränderungen der Rolle Deutschlands über die letzten 20 Jahre hinweg zu analysieren. Um dem internationalen Fachpublikum unser Selbstverständnis und unsere Herangehensweise näherzubringen, habe ich dafür den Begriff der „Reflective Power“ benutzt. Damit meine ich, dass wir sehr wohl bereit sind, auch global mehr Verantwortung zu übernehmen, dass wir dies aber aufgrund unserer historischen Erfahrung in einer ganz besonderen Weise tun. Amerikaner, Briten und Franzosen, aber auch Russen und Chinesen empfinden das bisweilen vielleicht als grüblerisch und zaudernd. Darum geht es aber nicht, es geht um die Vermeidung von vorschnellen Weichenstellungen, die spätere Lösungen erschweren statt erleichtern. Verstehen Sie meine folgenden Anmerkungen bitte als Ausdruck eines hartnäckigen, auf sorgfältige Analyse gestützten Versuches, den Frieden zu gewinnen.

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Die syrische Tragödie, ja diese Welle von Gewalt, die die ganze Region des Nahen und Mittleren Ostens erfasst hat, hat schon andere an den Dreißigjährigen Krieg, an diesen „Krieg aller Kriege“ (Historiker Bernd Roeck) erinnert - nicht zuletzt auch Sie, lieber Rainer Hermann. Die Parallelen sind offenkundig für den historisch-gebildeten Beobachter: Eine scheinbar begrenzte Aufstandsbewegung gegen den Herrscher löst eine Kaskade von Konflikten aus. Aufstrebende und etablierte Regionalmächte nutzen die Lage: Sie kämpfen um die Hegemonie, getrieben gleichermaßen von Machtstreben wie von Angst vor Einkreisung oder Unterlegenheit. Staatsführungen schwanken, ob sie Sicherheit besser durch territoriale Gewinne oder durch (kollektive) Vereinbarungen herstellen könnten. Externe Mächte schüren religiöse Konflikte, um sie für ihre Interessen zu nutzen. Kleinere Territorialfürsten nutzen den Windschatten übergeordneter Konflikte, um ihre Autonomie zu vergrößern.

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Nützt es uns, diese Vergleiche anzustellen? Das kommt darauf an. Es nützt nichts, sich bloß an scheinbaren oder marginalen Parallelen zu ergötzen, beginnend mit der Formel „das ist ja genauso wie…“. Solche Versuche zur Gleichsetzung bringen Applaus beim akademischen Stammtischgespräch, aber sie nutzen auf Dauer wenig für die Politik. Ganz im Gegenteil, sie können auch schaden. Sie bergen die Gefahr, das „Wegschauen“ zu entschuldigen und dem Attentismus Vorschub zu leisten – gemäß einer Deutung, der zufolge dieser Krieg ohnehin nur seinen bis zur völligen Erschöpfung der Kombattanten vorgezeichneten Lauf nehmen könne, als ob man von außen bis dahin nichts machen könne.

Deswegen will ich nicht gleichsetzen, aber sehr wohl vergleichen – auf der Suche nach Parallelen, die mir andere Blickwinkel ermöglichen, und zur Identifizierung von Besonderheiten und von alternativen Möglichkeiten. Geschichte hilft uns nicht zu nur zu verstehen und einzuordnen – auch das ist natürlich wichtig für eine kluge Diplomatie - , sondern sie öffnet vielmehr den Blick für die Ergebnisoffenheit historischer Prozesse, die einem nur in einer sehr oberflächlichen Rückschau als unvermeidlich und alternativlos erscheinen. Die Geschichte gibt uns eben keine Vorgaben für die Zukunft, sondern illustriert Handlungsoptionen und deren mögliche Konsequenzen – im Guten wie im Schlechten: Sie kann uns orientieren, aber nicht programmieren. In den Worten der kanadischen Historikerin Margaret MacMillan, die sich unter anderem mit der Analyse der Friedensgespräche nach dem 1. Weltkrieg einen Namen gemacht hat: „Wenn wir sie sorgfältig anwenden, kann die Geschichte uns Alternativen bieten, sie kann uns helfen, die Fragen zu formulieren, die wir an die Gegenwart stellen, und sie kann uns davor warnen, was schiefgehen könnte.“

Und natürlich sind wir auch gut beraten, nicht allzu leichtfertig aus der sicheren mitteleuropäischen Distanz unsere Konzepte auf andere Weltgegenden zu stülpen. Das haben wir Europäer in der Vergangenheit allzu oft gemacht, und für Deutsche, an deren Wesen einst die Welt genesen sollte, gilt diese Vorsicht in besonderem Maße. Trotzdem: Als deutscher Außenminister (und als Westfale) kann ich gar nicht anders, als mit der Brille meiner, unserer Geschichte auf die Region des Nahen und Mittleren Ostens zu schauen. Vielleicht ist es ehrlicher, das einfach mal zuzugeben

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Aber auch aus der Region selbst bin ich dazu ermuntert worden. Es war vor etwa anderthalb Jahren in der saudischen Hafenstadt Dschidda. Ich hatte die Gelegenheit zu einem sehr anregenden Austausch mit einer kleinen Gruppe arabischer Intellektueller. Wir sprachen hierbei natürlich vor allem über die großen Probleme, die schreckliche Gewalt und die komplexen Konfliktlinien im Mittleren Osten – zwischen Staaten, Konfessionen und sozialen Gruppen. Plötzlich redete einer der eher jüngeren Teilnehmer der Runde über den 30jährigen Krieg. Er kannte sich ziemlich gut aus, und am Ende sagte er: „Wir brauchen einen Westfälischen Frieden für unsere Region!“ Wohlgemerkt, der Mann sprach vom Frieden, und nicht nur vom Krieg. So geht es auch mir. Mehr als der Dreißigjährige Krieg interessiert mich der Friedensschluss, der es vermochte, diesen Konflikt zu beenden. Denn der Westfälische Frieden beinhaltet interessante Mechanismen, Friedensinstrumente, die einen zweiten und einen dritten Blick lohnen. Da ist vor allem der Friedenskongress selber, der in Münster und hier in Osnabrück stattfand. Die Verhandlungen waren unfassbar mühsam, erstreckten sich über Jahre und involvierten hunderte von Spielern; die meisten von Ihnen kennen die Geschichte besser als ich.

Aus heutiger Sicht fasziniert der Westfälische Frieden, weil er im Kern drei zentrale Konfliktlagen auf einmal löste: Er schuf die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben der Konfessionen nach mehr als 100 Jahren Gewalt. Er regelte die innerstaatliche Machtbalance zwischen Kaiser und Fürsten, indem er Eingriffs- und Souveränitätsrechte neu gewichtete. Und schließlich gelang es in Münster und Osnabrück, die brutalen Hegemonialkonflikte der europäischen Mächte auf dem Gebiet des Reichs einzuhegen.

Damals wurden Lösungen gefunden für Fragen, die uns auch heute interessieren. Wie kann die Ausübung der Religion gewährt werden – vor allem wenn der Fürst einen anderen Glauben hat als seine Untertanen? Der Westfälische Frieden hat dafür das – später so genannte – „Normaljahr“ entwickelt, das 1624 als Referenz für die Freiheit der Religionsausübung definierte – und Garantiemächte bestimmte, die das durchsetzen sollten.

In der Politikwissenschaft wird gerne von der Westfälischen Ordnung souveräner Staaten gesprochen, die seit 1648 die Machtbalance in Europa definierte. Doch ganz so souveränitätsorientiert waren die Macher von Münster und Osnabrück gar nicht. Zwar gelang es den Fürsten bei den Friedensverhandlungen, als Partner akzeptiert zu werden. Bei näherem Hinsehen erkennen wir aber daneben ein spannendes Geflecht von Mechanismen, die im Interesse des Friedens die Souveränität derselben Fürsten einschränken. Dazu zählen externe Garantiemächte, aber auch Institutionen wie die Reichsgerichte und die Reichsexekutionen, die tatsächlich in den Jahren nach 1648 angewendet wurden.

Aber nicht nur die Religion und die innerstaatliche Machtbalance sind es, die heute die Konfliktlage in Syrien definieren. Längst haben sich regionale und internationale Spieler in den Konflikt gemischt, mit teils undurchsichtigen Interessen – wie damals. Auch dafür hat Westfalen Lösungen gefunden, wenn auch nicht für alle. Der Hegemonialkonflikt zwischen Frankreich und Spanien etwa wurde nicht gelöst. Was aber geschafft wurde: Er wurde nicht mehr auf deutschem Boden ausgetragen: Der Kampf um die sogenannte Spanische Straße entlang des Rheins in die Niederlande wurde beendet. Wer heute im Mittleren Osten über schiitische Achsen und sunnitische Einkreisungen liest, wird solche geostrategischen Fragen mit besonderem Interesse untersuchen.

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An dieser Stelle - und kurz vor Ende, keine Sorge - sollte ich vielleicht noch einmal einen Warnhinweis geben. Ich möchte nicht Schweden, Spanien und Frankreich von einst mit den heutigen Akteuren, ob regional oder international, gleichsetzen. Dennoch gibt uns der Kongress von 1648 wichtige Anregungen, Mahnungen und Alternativen, ganz im Sinne des Zitats von Professor MacMillan. Und er ermutigt uns eben auch: Damals hat es Jahre gedauert, bis der Kongress zu Ergebnissen kam. Und während dessen schwiegen keinesfalls die Waffen; im Gegenteil versuchten die Beteiligten permanent, die Verhandlungen durch Geländegewinne an der Front zu beeinflussen.

Was wir auch von Westfalen lernen: Wer den Frieden will, kann nicht gleichzeitig vollständige Wahrheit, Klarheit und Gerechtigkeit erwarten. Alle, auch der Kaiser, mussten über ihren Schatten springen, sie mussten ihre Interessen abwägen, sich auf schmerzhafte Prozesse einlassen, um den Frieden zu ermöglichen. Es existieren in Kriegs- und Bürgerkriegssituationen eben immer mehrere Wahrheiten zugleich, auf unterschiedlichen Seiten des Konflikts. Das ist heute nicht anders als damals. Deshalb wurde die Wahrheitsfrage in Osnabrück und Münster bewusst nicht beantwortet – um durch andere, prozedurale Fragen und Interessensabgrenzungen einen Weg zur Lösung des Zentralkonflikts überhaupt zu ermöglichen.

Westfalen lehrt uns in diesem Sinne auch ein Stück Demut. Es gibt nicht die eine Weltformel, auch ein Jahrhundertwerk wie dieser Frieden hat nicht alle Probleme der Zeit gelöst, und schon gar nicht auf Dauer. Ich habe eingangs am Beispiel der schwedischen Interventionsdrohung in Schlesien 1707 das Wirken einer Garantiemacht geschildert. Als weitere hundert Jahre später das Heilige Römische Reich auf Druck Napoleons aufgelöst wurde, protestierte Schweden: Als westfälische Garantiemacht des Reiches könne es bei solchen Fragen nicht übergangen werden. Wie die Geschichte zeigt, blieb der Protest ergebnislos. Die komplexe Interaktion von Recht und Macht, von Regeln und Garantien, funktionierte nicht mehr, und die westfälische Ordnung des Reiches kollabierte.

Meine Damen und Herren,

der Westfälische Frieden bietet uns keine Blaupause für einen Frieden im Mittleren Osten. Er bietet uns, wenn wir genau genug hinschauen, Instrumente, Methoden und Ideen. Die müssen wir erkennen, herausarbeiten, verfeinern und dann für die aktuelle Diplomatie nutzen. Solche Operationen sind mühsam, aber nach meiner Überzeugung unerlässlich, wenn wir es nicht beim bloßen Management einer blutigen Dauerkrise belassen wollen.

Ich habe Ihnen heute einen ersten Blick in eine neue, gerade erst eröffnete Werkstatt unserer Diplomatie gegeben. Auch mir ist der Boden dieser Werkstatt heute fast noch ein wenig zu sauber. Vielleicht kann der Austausch mit Rainer Herrmann und mit Ihnen hier im Anschluss schon ein wenig Abhilfe verschaffen. Die nächsten Arbeitsgänge sind bereits geplant, und wir haben interessante Partner gewonnen: ein Projekt an der University of Cambridge beschäftigt sich mit diesen Fragen, und auch die Körber-Stiftung aus Hamburg macht sich an die Arbeit. Ich wünsche mir sehr, dass in dieser Werkstatt bald - als Ergebnis aus den Diskussionen zwischen Wissenschaft und Praxis, zwischen Europäern und Vertretern aus der Region - viele Späne am Boden liegen, aber auch die eine oder andere gute Idee Gestalt annimmt. Und ich hoffe, dass Sie und möglichst viele Lust haben, daran mit zu hobeln! Herzlichen Dank.

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