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Begrüßungsrede von Europa-Staatsminister Michael Roth bei der Konferenz „Dialogue on Europe“
-- es gilt das gesprochene Wort --
Sehr geehrte Damen und Herren,
Bienvenue,
bienvenido,
benvenuto,
καλώς ορίσατε,
seja bem-vindo,
und natürlich herzlich willkommen im Auswärtigen Amt in Berlin!
Welch eine Freude, Sie nach unserer kleinen Europa-Tour der vergangenen Monate nun auch endlich hier in Berlin zum „Dialogue on Europe“ begrüßen zu können. Nachdem wir zusammen mit dem Progressiven Zentrum mit unseren fünf Town-Hall-Meetings bereits in Athen, Lissabon, Rom, Marseille und Madrid zu Gast waren, ist es für viele von uns heute ja ein freudiges Wiedersehen.
Meine etwas holprige vielsprachige Begrüßung zeigt, wie bunt und vielfältig Europas Sprachenwelt ist. Oftmals ist ja von Sprachbarrieren die Rede. Aber unterschiedliche Sprachen stehen dem Dialog über Europa ganz und gar nicht im Wege – das haben wir bei unseren fünf Town-Hall-Meetings eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Wir haben uns mit Englisch beholfen und uns dabei – wie ich finde – meistens ganz gut verstanden. Englisch als gemeinsame Sprache war die verbindende Brücke für unseren Dialog über Europa.
Ich gebe aber offen zu: Als ich am vergangenen Freitag frühmorgens die Nachrichten einschaltete, war mir nicht nach Dialog zu Mute. Ich war sprachlos. Und auch vier Tage nach dem Bekanntwerden des Austrittsvotums der britischen Bevölkerung ist die Bestürzung und die Enttäuschung über das Ergebnis des Referendums bei mir nicht verschwunden.
Es bringt aber nichts, nun in Schwarzmalerei oder Hysterie zu verfallen. Dass die Briten die EU verlassen werden, ist ein herber Verlust für Europa, aber es bedeutet auch nicht das Ende der EU.
Nichtsdestotrotz können wir auch nicht einfach so weiter machen, als wäre nichts geschehen. Jetzt kommt es darauf an, aus dieser Entscheidung die richtigen Schlüsse für Europa zu ziehen. Die verbliebenen 27 EU-Mitgliedstaaten müssen nun noch enger zusammenstehen in ihrem Bekenntnis für ein Europa, das Probleme anpackt, Frieden und Stabilität garantiert, Wachstum, Beschäftigung und sozialen Zusammenhalt fördert.
Was das weitere Vorgehen zwischen Großbritannien und der EU angeht, sollte beiden Seiten an schneller Klarheit gelegen sein. Der EU-Vertrag bietet mit Artikel 50 ein geordnetes Austrittsverfahren. Wir erwarten, dass Großbritannien sich zügig zum weiteren Vorgehen äußert, damit der Austrittsprozess unverzüglich beginnen kann. Eine wochenlange Hängepartie können jetzt weder Großbritannien noch die EU gebrauchen.
Ich freue mich über die derzeitige, auch kontroverse Debatte über Europas Zukunft. Wann, wenn nicht jetzt, muss diskutiert, gestritten und geackert werden!? Im Mittelpunkt des Streits steht aber doch nicht die Frage, wann und wer der EU einen Brief schreibt. Menschen und Märkte sind verunsichert. Deshalb brauchen wir jetzt Klarheit und Orientierung.
Großbritannien wird auch nach seinem Austritt ein Partner der EU bleiben. Aber unser vorrangiges Interesse ist jetzt, die übrigen 27 Mitgliedstaaten zusammenzuhalten. Für Deutschland bleibt die Integration in die Europäische Union der unverzichtbare Rahmen, die Beziehungen der europäischen Staaten zueinander friedlich und im Interesse aller zu regeln.
Deutschland trägt, nicht zuletzt wegen seiner wechselhaften Geschichte mit all ihren Höhen und Tiefen, eine ganz besondere Verantwortung in und für Europa. Kein anderes Land in der EU hat so viele Nachbarn wie Deutschland. Kein Land hat so vom europäischen Einigungswerk profitiert. Kein Land ist aber auch so verwundbar wie Deutschland. Nicht nur unsere Geschichte, sondern auch unsere Verantwortung als größter und wirtschaftlich starker Mitgliedstaat verpflichten uns. Wir müssen uns ganz besonderes anstrengen, dass Europa nicht zerfällt.
Es gab in den vergangenen Jahren aber immer wieder auch Momente, in denen sich gezeigt hat: Wer Verantwortung übernimmt, der kann auch anecken. Wer etwas tut und sagt, der macht sich eben auch angreifbar, der erntet bisweilen heftigen Widerspruch.
Umso wichtiger ist das „wie?“. Verantwortung für Europa zu übernehmen, bedeutet eben nicht, den anderen zu diktieren, was zu tun ist. Verantwortung bedeutet eben nicht, wie ein Oberlehrer mit dem erhobenen Zeigefinger durch die europäischen Hauptstädte zu laufen. Deutschland ist stets gut damit gefahren, seine wirtschaftliche und politische Stärke nicht mit Dominanzgehabe auszuspielen.
Verantwortung setzt vielmehr Empathie für die Partner und die Fähigkeit zum Zuhören voraus. Verantwortung bedeutet, auch mal die nationale Brille abzunehmen und sich in die Lage der Partner hineinzuversetzen, um ihre Sorgen, Ängste und Beweggründe besser zu verstehen.
Deutschland braucht Partner, die es tragen – und manchmal auch ertragen. Immer öfter drohen wir allein auf dem Spielfeld zu stehen. Gefährlicher als die, die offen Kritik üben, sind die, die schweigen. Wir wollen auf beide zugehen und den Dialog suchen. Auch deshalb haben wir im vergangenen Jahr gemeinsam mit dem Progressiven Zentrum das großartige Projekt „Dialogue on Europe“ gestartet.
Wir brauchen den Dialog und die Verständigung über Europa nicht nur zwischen den nationalen Regierungen. Wir müssen uns auch noch stärker der Zivilgesellschaft öffnen und deren Sichtweise auf Europa ernst nehmen. Europa kann auf Dauer nur bestehen, wenn aus dem vermeintlichen Elitenprojekt endlich wieder eine breitere Bürgerbewegung wird.
Die Menschen erwarten von der Politik zurecht, dass die EU in der Lage ist, die Probleme zu lösen, die die Menschen in ihrem Alltag spüren. Integration darf niemals Selbstzweck sein. Sie muss stets den Bürgerinnen und Bürgern dienen.
Deshalb müssen wir uns jetzt darauf konzentrieren, dort zu gemeinsamen europäischen Lösungen zu kommen, wo die Nationalstaaten alleine im wahrsten Sinne des Wortes an ihre Grenzen stoßen.
Wenn es darum geht, das Klima zu schützen, die Finanzmärkte zu regulieren, internationale Handelsströme zu steuern, oder effektiv, aber vor allem solidarisch und menschenwürdig, internationalen Flüchtlingsströmen zu begegnen – dann gelingt dies nur durch gemeinsames europäisches Handeln! Europa ist immer noch unsere Lebensversicherung in diesen stürmischen Krisenzeiten.
Wir stehen vor einer Vielzahl von innen-, aber auch außenpolitischen Bewährungsproben, die wir letztlich nur gemeinsam lösen können. Auch wenn es nicht immer einfach war: Die EU hat in den vergangenen Jahren durchaus konkrete Ergebnisse geliefert. Aber in vielen Bereichen können und müssen wir noch viel besser werden.
In der Finanz- und Schuldenkrise haben wir in Europa weitreichende Beschlüsse gefasst, die vor Beginn der Krise in den Jahren 2007/2008 viele in Europa nicht für vorstellbar hielten: Der Euro-Rettungsschirm sowie die gemeinsame Bankenaufsicht und Bankenabwicklung waren Meilensteine, um europäische Partnerländer vor dem finanziellen Zusammenbruch zu bewahren.
Trotz dieser Fortschritte: Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat an vielen Orten in Europa tiefe Wunden und soziale Verwerfungen hinterlassen. Ich habe bei den Town-Hall-Meetings in Athen, Lissabon, Rom, Marseille und Madrid sehr genau zugehört und dabei mehr über die Erwartungen und Ansprüche an Europa gelernt als in mancher Ministerratssitzung in Brüssel.
Wer gut zuhört, der weiß auch, dass Europa jetzt nicht auf einen reinen Binnenmarkt zurecht gestutzt werden darf. Wer den Europäerinnen und Europäern zuhört, der weiß, dass es jetzt vor allem um soziale Sicherheit, Solidarität und Zusammenhalt gehen muss. Nicht alles, was ökonomisch sinnvoll sein mag, ist auch politisch klug. Jene, die ausschließlich auf die Vollendung des Binnenmarktes und die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit setzen, haben die wichtige Kernbotschaft der EU von Solidarität und sozialem Zusammenhalt nicht verstanden.
Solidarität und Zusammenhalt sind auch in der Migrations- und Flüchtlingskrise gefragt. Wir haben hier durchaus Erfolge erzielt, z.B. bei der Stärkung des europäischen Grenz- und Küstenschutzes, aber auch durch die Vereinbarung mit der Türkei. Wir haben gezeigt, dass wir als EU in der Lage sind, die Kontrolle wiederzugewinnen.
Jetzt müssen wir die nächsten Schritte angehen, um eine europäische Migrations- und Integrationspolitik zu entwickeln, mit der wir für die Zukunft gewappnet sind. Keiner soll glauben, dass Flucht und Migration nur eine vorübergehende Erscheinung sind.
Außenpolitisch hat die EU jüngst einige wichtige Erfolge erzielen können. Sie war über Jahre hinweg ein zentraler Akteur bei den Nuklearverhandlungen mit dem Iran. Der erfolgreiche Abschluss der Verhandlungen im vergangenen Jahr hat gezeigt, was die EU zu leisten vermag, wenn sie auf der Weltbühne denn nur mit einer Stimme spricht. Auch im Verhältnis zu Russland und bei der Stabilisierung der Ukraine hat die EU im letzten Jahr große Geschlossenheit gezeigt – und tut dies auch weiterhin. Wie schwierig das bisweilen ist, erleben wir in den derzeitigen europaweiten Debatten. Aber es ist notwendig.
Mein Appell an uns alle lautet: Wir dürfen die EU jetzt nicht aufs Spiel setzen. Wir dürfen Europa jetzt nicht den Nationalisten und Populisten ohne Gegenwehr zum Fraß vorwerfen! Ob sie nun Farage, Le Pen, Gauland oder Wilders heißen: Sie überziehen Europa mit einer Kampagne der Angst, der Lügen und Halbwahrheiten. Wir müssen diesen Kampf jetzt endlich entschieden aufnehmen. Nationalismus bedeutet in letzter Instanz immer eines: Krieg.
Wir müssen jetzt Verantwortung für unser Europa übernehmen. Verantwortung zu übernehmen bedeutet vor allem, den konstruktiven Dialog unter den Mitgliedstaaten zu führen und Verständnis für einander zu zeigen. Verantwortung zu übernehmen heißt aber auch, endlich damit aufzuhören, alles Schlechte der EU anzukreiden und alles Gute, selbst wenn es eigentlich aus Europa kommt, nur sich selbst ans Revers zu heften.
In Großbritannien konnten wir beobachten, wohin ein jahrelanges EU-Bashing führt. Wenn die politischen Eliten ständig auf Europa schimpfen, ist es wenig verwunderlich, wenn am Ende auch die Wählerinnen und Wähler kein gutes Haar an der EU lassen. Premierminister Cameron hat es inzwischen erfahren, leider deutlich zu spät. Weder er noch Jeremy Corbyn waren glaubwürdige Verfechter eines Verbleibs des Vereinigten Königreichs, weil Worte und konkrete Taten schlicht nicht zusammen passten. Wir wissen doch: Vorurteile, die sich durch habituell gewordenes und vielfach leerlaufendes EU-Bashing verfestigen, lassen sich dann eben auch nicht kurzfristig wieder ausräumen.
Es wäre aber falsch, nach dem Referendum der Briten in eine Schockstarre zu verfallen. Denn wir müssen uns nun alle verstärkt mit den derzeitigen Anti-Globalisierungstendenzen, der Anti-Europa-Stimmung und dem Anti-Eliten-Denken auseinandersetzen. Wir, das sind wir, die wir Europa „machen“, die Mandats- und Entscheidungsträger, aber auch die, die Europa „ausmachen“, also die Bürgerinnen und Bürger. Darum müssen sich jetzt vor allem die progressiven Kräfte zusammenschließen.
Das gilt insbesondere für junge Europäerinnen und Europäer, die Europas Zukunft aktiv mitgestalten wollen. Es liegt in ihrer Hand, Europa eine neue Richtung zu geben. Wir brauchen die jungen Leute – sie sind unser Rettungsanker. Sie können uns helfen, das havarierte Schiff Europa vor dem Abtreiben zu bewahren.
Für die junge Generation mag Europa etwas Selbstverständliches sein. Aber sie lehnen es nicht ab. Das verraten uns auch die Zahlen vom britischen Referendum: 75 Prozent der 18 bis 24-Jährigen wollten in der EU bleiben – für diese Gruppe mit so viel Zukunft und Potential sind das Ergebnis und seine Folgen der größte Schock.
Sie sind wütend, bestürzt und zum Teil noch immer fassungslos – weil sie sich eben auch als Europäerinnen und Europäer fühlen. Und junge Menschen, die Europa im Herzen tragen, gibt es zum Glück überall in Europa. Ihre Heimat ist nicht nur London, Edinburgh oder Belfast, sondern auch die beeindruckende Altstadt von Krakau, der wunderbare Strand von Mykonos oder die Universität von Marseilles. Wir brauchen sie als Verbündete im Kampf für ein besseres Europa. Diesen jungen Leuten schulden wir etwas. Wir schulden ihnen, mit aller Kraft für neue Jobs, eine bessere Ausbildung und hoffnungsvolle Perspektiven zu arbeiten!
Darum freue ich mich auf unsere heutigen Diskussionen und die Ideen, die wir dabei entwickeln und auch auf die nächsten Etappen unseres Projekts „Dialogue on Europe“. Da ich nicht die nächsten Stunden hier vorne stehen will, sondern mit Ihnen ins Gespräch kommen möchte, gebe ich jetzt gerne ab an Natasha Walker, die uns durch den heutigen Tag führen wird.
Mein Dank gilt dem Progressiven Zentrum, das diesen Prozess aktiv und engagiert begleitet hat, sowie den nationalen Partnern, die unsere fünf bisherigen Town-Hall-Meetings in Griechenland, Portugal, Italien, Frankreich und Spanien unterstützt haben. Ich wünsche uns nun einen inspirierenden Tag. Inspiration, Kraft, Mut, ja und vor allem Hoffnung, genau das ist es, was wir derzeit in der Debatte über Europa ganz besonders brauchen.
Alle reden derzeit über Fußball. Ich tue es eher selten, weil ich davon keine Ahnung habe. Dass auch das vermeintlich Unmögliche Wirklichkeit werden kann, erleben wir derzeit bei elf tapferen Freunden von einer kleinen Insel im hohen Norden Europas. Sie bringen die Europameisterschaft zum Tanzen, Staunen und Träumen. Ja, die Isländer gehören nicht zur Europäischen Union. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Vielleicht sind sie uns in diesen schwierigen Zeiten die besten Vorbilder! Europa kann gelingen, wenn wir nur wollen und miteinander kämpfen.