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„Europa im Schleudergang“

07.05.2016 - Interview

Außenminister Frank-Walter Steinmeier im Interview zum Flüchtlingsabkommen mit der Türkei und zur Afrika-Reise mit seinem französischen Amtskollegen Marc Ayrault. Weitere Themen: rechtspopulistische Parteien in Europa und der Bürgerkrieg in Syrien. Erschienen in der Neuen Osnabrücker Zeitung (07.05.2016).

Außenminister Frank-Walter Steinmeier im Interview zum Flüchtlingsabkommen mit der Türkei und zur Afrika-Reise mit seinem französischen Amtskollegen Marc Ayrault. Weitere Themen: rechtspopulistische Parteien in Europa und der Bürgerkrieg in Syrien. Erschienen in der Neuen Osnabrücker Zeitung (07.05.2016).

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Herr Minister, die Zahl der nach Europa kommenden Flüchtlinge ist nach der Schließung der Balkanroute deutlich gesunken. Aber in Libyen sammeln sich bereits Hunderttausende für die Überfahrt nach Italien. Baut sich hier die nächste Krise Europas auf?

Wer sagt denn, dass die Krise schon überwunden wäre? Wir haben mit dem Abkommen mit der Türkei die ungeordnete Zuwanderung über die Balkanroute nach Europa erst einmal deutlich senken können, das stimmt. Das ist noch keine Lösung, aber es gibt uns die Zeit, weiter an gemeinsamen europäischen Lösungen zu arbeiten. Das heißt auch, dass wir andere Routen nicht aus den Augen lassen dürfen. Gerade war ich mit meinem französischen Kollegen Jean-Marc Ayrault in Niger und Mali. Beide Länder sind wichtige Knotenpunkte für Migrationsströme aus Westafrika über Libyen nach Europa. Uns wurde in beiden Ländern Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit Europa versichert. In Libyen unterstützen wir die neue Einheitsregierung dabei, Schritt für Schritt wieder handlungsfähige staatliche Strukturen aufzubauen, ohne die wir den Schleuserbanden im Land auf Dauer nicht das Handwerk legen können.

Menschenrechtsorganisationen nennen die Flüchtlingsunterkünfte Griechenlands Freiluftgefängnisse. Was sagen Sie dazu?

Ich verstehe die Wut und die Angst der Menschen, die oft genug unter falschen Versprechungen auf den Weg nach Europa gelockt wurden. Wir wissen alle, dass Griechenland unter massivem Druck steht. Wir helfen vor Ort, stellen Geld, Personal und Ausstattung bereit. Auch die Europäische Union unterstützt Griechenland mit erheblichen Mitteln. Griechenland steht, wie wir alle, in der Pflicht, die Flüchtlinge im eigenen Land anständig und nach den Regeln der Flüchtlingskonvention zu versorgen. Die einseitigen Maßnahmen einzelner EU-Mitglieder haben die Lage für Athen sicher nicht erleichtert. Das zeigt umso deutlicher, wie wichtig die gemeinsame Arbeit an europäischen Lösungsansätzen ist.

Hat sich Deutschland erpressbar gemacht durch das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei?

Das ist doch Unsinn. Wir wollen etwas mit der Türkei erreichen, im Gegenzug will die Türkei etwas von uns. Wenn wir es vernünftig anlegen, werden wir am Ende gemeinsam besser dastehen – und die Lage für die Menschen, die vor dem Krieg in Syrien geflüchtet sind, wird auch eine bessere sein. Im Übrigen sehen wir doch schon jetzt, dass uns das Abkommen hilft: Die ungeordnete Zuwanderung über die Türkei ist deutlich abgebremst worden. Jetzt dürfen wir nicht zögern und zaudern, jetzt müssen beide Seiten ihre Verpflichtungen vereinbarungsgemäß erfüllen.

Der türkische Präsident Erdogan will sich seine Hilfe in der Flüchtlingskrise gut bezahlen lassen – ist die Türkei ein ernst zu nehmender EU-Beitritts-Kandidat?

Wir dürfen nicht vergessen, dass die Türkei fast 3 Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen hat. Das müssen wir anerkennen, und das verdient unseren Respekt. Wir wollen, dass die Türkei das Schleusergeschäft unterbindet. Zu den Vereinbarungen gehört aber auch, dass wir der Türkei helfen, das Los der Flüchtlinge im eigenen Land zu verbessern, mit ganz konkreten Projekten zur Versorgung von über 700.000 Flüchtlingen und für die Schulbildung von über 110.000 Kindern. Ich glaube, dass das Geld gut angelegt ist. Was die Beitrittsverhandlungen angeht: Natürlich nehmen wir die Türkei ernst. sie hat es in der Hand, die notwendigen Schritte zu gehen und die erforderlichen Reformen zu unternehmen. Rabatte wird es hier nicht geben.

Österreich mauert sich ein – und baut am Brenner Grenzanlagen. Wie stark ist Europa bedroht durch den Einfluss rechtspopulistischer Parteien?

Lange schien uns das europäische Projekt ungefährdet. Durch die Finanz- und dann die Flüchtlingskrise ist Europa in den Schleudergang geraten. Wir arbeiten intensiv daran, die Probleme in den Griff zu bekommen und wirklich tragfähige europäische Lösungen zu finden, und sind dabei auch schon gute Schritte vorangekommen. Das braucht Zeit, und es ist auch mühsam, aber es ist und bleibt der richtige Weg, Konflikte am Brüsseler Verhandlungstisch auszutragen. Dass Rechtspopulisten jetzt vorgaukeln, das Fahrwasser wäre ruhiger, wenn es die EU nicht gäbe, zeugt von einer - mit Verlaub – gefährlichen Geschichtsvergessenheit. Die Zukunft Europas liegt sicher nicht in einer Rückkehr ins 19. Jahrhundert mit seinem Nationalismus und seiner gefährlichen und destabilisierenden Staatenrivalität.

Beispiel AfD: Ist der Rechtspopulismus in der bürgerlichen Mitte salonfähig geworden?

Wer im Europaparlament gemeinsame Sache mit dem Front National von Marine Le Pen macht, ist weder bürgerlich noch Mitte. Aber es stimmt, dass in den letzten Jahren in Teilen unserer Gesellschaften Sorgen und Ängste aufgekommen sind, die wir ernst nehmen und auf die wir Antworten finden müssen. Wenn Sie mich fragen, ist die Antwort sicher keine Politik der Angst, der Abschottung und der Verweigerung gemeinsamer europäischer Lösungen.

Stichwort Syrien: Der Bürgerkrieg ist dort mit aller Brutalität zurückgekehrt – obwohl sich im Februar die Staatengemeinschaft auf eine Waffenpause geeinigt hat. Haben sich Friedensträume endgültig als Illusion erwiesen?

Die entsetzlichen Bilder aus Aleppo, das rücksichtslose Bombardement von Krankenhäusern und Wohnvierteln haben den in Wien begonnenen Friedensprozess zurückgeworfen. Deshalb ist es so wichtig, dass die Waffenruhe jetzt eingehalten wird, ganz besonders in Aleppo. Aufgeben und Wegsehen ist keine Option. Im Gegenteil: Wir arbeiten umso intensiver mit den Partnern daran, der Waffenruhe wieder Geltung zu verschaffen, humanitären Zugang hinzubekommen und die Bedingungen für eine Fortsetzung der Verhandlungen zu schaffen. Ich freue mich, dass wir mit den Syrien-Gesprächen in Berlin am Mittwoch dazu einen Beitrag leisten konnten

Russische Flugzeuge haben das Blatt zugunsten des Assad-Regimes gewendet – dabei müsste Russland Druck auf Assad ausüben zur Beendigung der Kämpfe. Ist dieser fünf Jahre alten Konflikt mit schätzungsweise 270.000 Toten überhaupt politisch zu lösen?

Das Gegenteil ist richtig: Es gibt keine militärische Lösung, nur politische Verhandlungen können Syrien wieder Frieden bringen. Natürlich verfolgt Russland in Syrien eigene Interessen. Aber auch Moskau hat kein Interesse, dass Syrien als Staat völlig zerfällt und auf Dauer zum Hort von islamistischem Terrorismus, Chaos und Anarchie wird. Und auch Moskau weiß, dass Assad mit militärischer Gewalt allein nicht auf Dauer an der Macht zu halten ist. Immerhin haben wir seit Wien und München einen von allen akzeptierten Rahmen, in dem alle entscheidenden Akteure miteinander sprechen: Die USA und Russland, aber auch die Türkei, Iran und Saudi-Arabien. Das ist noch längst keine Erfolgsgarantie, aber es ist mehr, als wir in den letzten fünf Jahren erreicht hatten. Darauf müssen wir aufbauen. Weitere fünf Jahre Krieg, Flucht und Zerstörung in Syrien können wir uns nicht leisten.

Interview: Beate Tenfelde. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Neuen Osnabrücker Zeitung.

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