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Schicksalstage am Dnipro
Beitrag von Außenminister Frank-Walter Steinmeier und dem französischen Außenminister Jean-Marc Ayrault anlässlich ihrer gemeinsamen Reise in die Ukraine. Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen (22.02.2016).
Beitrag von Außenminister Frank-Walter Steinmeier und dem französischen Außenminister Jean-Marc Ayrault anlässlich ihrer gemeinsamen Reise in die Ukraine. Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen (22.02.2016).
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Die Ukraine ist das zweitgrößte Flächenland Europas. Ein Land mit ungeheurem Potenzial: mit großen industriellen Zentren wie Dnipropetrovsk oder Saporishe, mit riesigen, fruchtbaren Schwarzerdeflächen, mit 45 Millionen Menschen, alle voller Hoffnungen und mit großen Erwartungen für eine bessere Zukunft.
Die Führung in Kiew hat eine große politische und historische Verantwortung dafür, auf die Verwirklichung der Hoffnungen hinzuarbeiten, für die sie gewählt worden ist, damit die Ukraine ein verantwortungsvoller und verlässlicher Teil der europäischen Familie ist.
Das Ringen um den richtigen politischen Kurs wird nicht nur von den Menschen in der Ukraine selbst, sondern in der ganzen Welt aufmerksam verfolgt. Wer immer das Wort in der Rada oder auf der Plattform der ukrainischen Öffentlichkeit ergreift, muss wissen, dass er auch auf der Tribüne der europäischen Öffentlichkeit spricht.
Die Ukraine steht vor beispiellosen Herausforderungen. Ihre Souveränität ist von einem Nachbarstaat in einer Weise in Frage gestellt worden, die viele im Europa des 21. Jahrhunderts für unmöglich gehalten hatten. Der darauf folgende Konflikt in der Ostukraine bindet einen zu großen Teil der politischen und finanziellen Kräfte, die dem Reformprozess fehlen.
Leider sind wir noch immer ein gutes Stück von einer friedlichen, politischen Lösung entfernt. Die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen bleibt auch nach 12 Monate immer noch schwierig. Dennoch bleibt dies der einzig gangbare Weg, damit das Land die Souveränität über sein Hoheitsgebiet zurückerhält und endlich in Frieden leben kann.
Die ukrainische Wirtschaft hat eine Talfahrt ungekannten Ausmaßes erlebt. Der öffentliche Sektor ist dringend reformbedürftig. Einzelne haben ungebremst durch wirksame Anti-Monopol-Regeln riesige wirtschaftliche Macht akkumuliert und nutzen diese schamlos für politische Einflussnahme. Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist durch schwer wiegende Vorwürfe weit verbreiteter Korruption bedroht. Diese Probleme anzugehen heißt, dem Geist des Maidan treu zu bleiben, der sich vor zwei Jahren auf solch beeindruckende Weise entfaltet hat.
Zwar wurden in den vergangenen zwei Jahren seit der ‚Revolution der Würde‘ große Fortschritte gemacht. Die Reform des Energiesektors hat den bisherigen skandalösen Missbrauch eingedämmt. Die Runderneuerung der Polizei ist auf dem Weg, das Bankensystem wird saniert. Diese Fortschritte sind für die Menschen spürbar. Ein Rechtsrahmen zur Bekämpfung der Korruption steht, ein elektronisches Vergabesystem für öffentliche Aufträge ist eingeführt. Die rechtliche und finanzielle Stellung der Regionen und Gebiete ist besser geworden.
Wer genau hinschaut, sieht bei allen Herausforderungen auch Anzeichen eines Aufwinds. Der Landwirtschaftssektor, neben der industriellen Basis ein Schlüsselsektor der Ukraine, hat sich in den vergangenen zwei Jahren gut entwickelt. Das große Interesse an der europäisch-ukrainischen Investorenkonferenz im Oktober in Berlin hat sogar die Organisatoren positiv überrascht. Eine weitere solche Konferenz soll Anfang April in Paris stattfinden. Das macht Hoffnung.
Aber der von den Menschen gewollte und gewählte Weg einer umfassenden Modernisierung des Landes ist weit. Gerade deshalb ist es so wichtig, jetzt nicht auf halbem Weg stehen zu bleiben. Die Reformen für die Zukunft müssen weitergeführt werden. Das ist der Schlüssel für mehr Wohlstand und dauerhafte Stabilität in der Ukraine. Wer im Inneren stark und einig ist, kann Bedrohungen von außen besser widerstehen.
Es obliegt nun der politischen Führung in Kiew, die nötigen Reformen umzusetzen: Dem Präsidenten und dem Premierminister, der Regierung und der Rada, der Regierungskoalition und der Opposition, allen Parlamentsfraktionen und Verfassungsorganen. Der richtige und notwendige, aber auch schwierige und mitunter schmerzhafte Modernisierungskurs der Ukraine ist eine Frage von so überragender politischer Bedeutung, dass alle verantwortungsbewussten politischen und gesellschaftlichen Kräfte des Landes zusammenwirken müssen.
Jetzt muss es darum gehen, die Voraussetzungen für eine Fortsetzung des IWF-Unterstützungsprogramms zu schaffen, um makroökonomische Stabilität zu erreichen. Das EU-Assoziierungs- und Freihandelsabkommen, das seit Anfang 2016 vorläufig angewendet wird, kann ein entscheidender Motor für Reform und Modernisierung sein, wenn es beherzt und konsequent umgesetzt wird. Die Dezentralisierung von Staat und Verwaltung kann helfen, Regierungshandeln bürgernäher, effizienter und transparenter zu gestalten.
Frankreich, Deutschland, die EU und viele andere internationale Partner sind da, um der Ukraine auf ihrem Weg zu einer Modernisierung von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft zu helfen. Im Gegenzug für unsere Solidarität und Unterstützung setzen wir auf das klare Bekenntnis der maßgeblichen politischen Kräfte in der Ukraine, den Reformkurs fortzuführen.
In diesem Sinn hat die Ukraine mit der internationalen Gemeinschaft einen Pakt für die Zukunft geschlossen. Diese Zusagen gilt es jetzt mit Leben zu füllen. Denn es sind Zusagen gegenüber den Menschen, die auf dem Maidan und in vielen Teilen des Landes für Wohlstand und Freiheit eingetreten sind.
Mehr als einmal ist die Geschichte der Ukraine tragisch verlaufen. Wir wünschen, dass es diesmal glücklich endet. Die Führung in Kiew hat es in der Hand!