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Rede von Europa-Staatsminister Michael Roth anlässlich des Festakts zur Eröffnung des Themenjahres 2016 „Reformation und die Eine Welt“ im Rahmen der Lutherdekade in Straßburg
-- es gilt das gesprochene Wort --
Liebe Frau Präsidentin, Frau Brasseur,
lieber Harlém,
liebe Frau Mühlmann,
lieber Herr Bedford-Strohm,
lieber Herr Albecker,
liebe Frau Köhler, lieber Herr Köhler,
liebe Kollegen Abgeordnete, Senatorinnen und Senatoren,
sehr geehrte Damen und Herren,
Heute eröffnen wir hier in Straßburg das neunte und letzte Themenjahr der Lutherdekade, bevor wir 2017 das 500-jährige Reformationsjubiläum feiern. Manch einer mag sich fragen: Warum widmen sich auch Staat und Politik dem Gedenken an Leben und Wirken eines Kirchenmannes? Die Reformation hat eben nicht nur die Kirche grundlegend erneuert. Sie hat auch bahnbrechende politische, gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen mit sich gebracht, die bis heute spürbar sind – nicht nur für Christen, sondern auch für Anders- und Nichtgläubige. Die Reformation geht jeden von uns an.
Das Themenjahr 2016 nimmt unter dem Titel „Reformation und die Eine Welt“ vor allem die globale Dimension der Reformation in den Blick. Und das aus guten Gründen:
Als Martin Luther 1517 seine 95 Thesen – der Überlieferung nach – an die Tür der Schlosskirche in Wittenberg schlug, brachte er damit einen Stein ins Rollen, der erst Deutschland, dann Europa und schließlich die ganze Welt verändern sollte.
Doch die Reformation war nicht nur das Werk eines Mannes. Auch in anderen Regionen Europas gab es eigene reformatorische Bewegungen: Man denke nur an Huldrych Zwingli und Johannes Calvin in der Schweiz, an Mikael Agricola in Finnland oder an Jan Hus in Tschechien. Sie und noch viele andere stehen beispielhaft für die Reformation als Weltereignis.
Ja, und was wäre die Reformation ohne Straßburg? Schon früh erreichten Luthers Schriften das Elsass und fielen dort auf fruchtbaren Boden. In jener Zeit wirkte die freie Reichsstadt Straßburg wie ein Magnet auf Prediger, Gelehrte und Glaubensflüchtlinge. Martin Bucer, Johannes Calvin, Wolfgang Capito – die Liste derer, die hier lebten und wirkten, ist lang. Was sie verband, war der Gedanke der Reformation, wenn auch in ganz unterschiedlicher Prägung.
In Straßburg fanden sie eine sichere Zuflucht und konnten ihre Ideen für die Erneuerung der Kirche weiterentwickeln. Doch der reformatorische Gedanke blieb nicht nur in den Studierzimmern der Gelehrten, durch die vielen Straßburger Druckereien wurde er auch unters Volk gebracht. Erst so konnte aus der Reformation eine echte Massenbewegung werden.
Einer der prägendsten Köpfe der Reformation in Straßburg war Martin Bucer, der sich selbst als Vermittler zwischen Luther und Zwingli verstand. Unter seiner Mitarbeit legte Straßburg 1530 gemeinsam mit drei weiteren Städten beim Reichstag in Augsburg ein eigenes evangelisches Glaubensbekenntnis vor: die „Confessio Tetrapolitana“ – ein theologischer Mittelweg zwischen der Lehre Luthers und Zwinglis. Erst einige Jahr später sorgte die zwischen Luther und Bucer ausgehandelte Wittenberger Konkordie für eine festere Anbindung Straßburgs an das Luthertum.
Zur Zeit der Reformation war Straßburg beides: Anziehungspunkt für Prediger und Gelehrte, aber auch Zufluchtsort für verfolgte Protestanten aus ganz Europa, insbesondere für die hugenottischen Glaubensflüchtlinge aus Frankreich. Seit 1530 wurden die Protestanten vom katholischen Klerus und König wegen ihres Glaubens unterdrückt und verfolgt. Mit drakonischen Maßnahmen wollte man sie zwingen, ihrem Glauben abzuschwören. Mehr als 200.000 Hugenotten flohen im 16. Jahrhundert in die protestantisch dominierten Gebiete in ganz Europa, vor allem in die Niederlande, die Schweiz, nach England und Deutschland.
Die Glaubensflüchtlinge kamen aber nicht nur hier ins Elsass. Auch in meiner nordhessischen Heimat fanden damals viele von ihnen ein neues Zuhause. Tausende Hugenotten fanden in dieser Zeit in Kassel, Bad Karlshafen und an vielen anderen Orten in Hessen Asyl, Glaubensfreiheit und wirtschaftliche Unterstützung. Mehrere deutsche Herrscher – unter ihnen auch der Landgraf von Hessen-Kassel – erließen damals so genannte Freiheitskonzessionen, mit denen sie den Flüchtlingen wichtige Rechte und Privilegien garantierten.
Im Kern besagten diese Aufrufe: „Kommt her, Ihr Flüchtlinge aus der Fremde, Ihr seid bei uns willkommen!“
Natürlich gab es auch damals Murren und Widerstände bei den Einheimischen. Handwerker fürchteten die Konkurrenz der Zugewanderten, auch die hohen Kosten für die Ansiedlung der Flüchtlinge sorgten für Unmut. Ob die Mühen tatsächlich Früchte tragen würden, wusste niemand. Es war ein Experiment mit ungewissem Ausgang. Erst im Rückblick wissen wir: Alle Ängste und Sorgen waren unbegründet. Die Hugenotten bescherten nicht nur Hessen eine wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit. Und sie wurden bald zu vorbildlichen Patrioten in ihrer neuen Heimat.
Ähnliche Erfolgsgeschichten lassen sich auch aus Straßburg erzählen, das ebenfalls stark durch die hugenottischen Flüchtlinge geprägt wurde. Das zeigt uns, wie Integration gelingen und wie bereichernd Zuwanderung auch für die neue Heimat sein kann.
Jahrhunderte später ist diese Frage immer noch hochaktuell: Ebenso wie viele Menschen zur Zeit der Reformation wegen ihres Glaubens ihre Heimat verlassen mussten, so sind auch heute wieder Millionen auf der Flucht vor Krieg, Terror, religiöser Unterdrückung und politischer Verfolgung. Hier bei uns in Europa hoffen sie auf ein neues, besseres Leben in Frieden und Freiheit.
Das stellt uns in Europa derzeit vor gewaltige Aufgaben. Allein Deutschland wird in diesem Jahr wohl mehr als eine Million Flüchtlinge aufnehmen. Und es ist schon merkwürdig, dass Deutschland derzeit in der Kritik steht, weil wir mit Flüchtlingen so umgehen, wie es uns unsere gemeinsamen Werte doch eigentlich vorgeben – nämlich human und anständig. Deutschland geht nicht naiv, sondern verantwortungsbewusst mit einer der größten Bewährungsproben der Nachkriegsgeschichte um. Und dabei wird die Politik von zehntausenden von Menschen mit einer beeindruckenden Welle der Hilfsbereitschaft unterstützt.
Wir werden uns für unser Handeln bei niemandem entschuldigen. Denn es ist doch unsere Pflicht, Flüchtlingen, die in ihrer Not zu uns kommen, mit Respekt und Offenheit zu begegnen, in ihnen Menschen zu sehen und nicht irgendeine anonyme Masse – völlig unabhängig davon, ob sie dauerhaft bei uns bleiben dürfen oder nicht. Wir brauchen in der Europäischen Union eine solidarische und menschenwürdige Asyl- und Migrationspolitik, die dem Anspruch einer europäischen Wertegemeinschaft auch wirklich gerecht wird.
Denn die EU ist weit mehr als nur ein Binnenmarkt. Sie ist eine Gemeinschaft, die auf dem Fundament gemeinsamer Werte steht. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, kulturelle und religiöse Vielfalt, der Schutz von Minderheiten sowie Presse- und Meinungsfreiheit – diese Werte schweißen uns Europäerinnen und Europäer zusammen. Und deshalb kommt der EU gerade in diesen Krisenzeiten eine ganz besondere Verantwortung zu:
Nach außen als Krisenmanager und Vermittler in der Welt. Nach innen, indem wir im täglichen Miteinander Solidarität und Menschlichkeit vorleben; indem wir zeigen, dass in Europa ein friedliches und respektvolles Zusammenleben von Menschen ganz unterschiedlicher Kulturen, Religionen und Ethnien möglich ist.
Und wir handeln damit übrigens auch aus christlicher Verantwortung. Denn auch die Bibel erzählt ja von Flüchtlingen und ihren Schicksalen, sie ist ein Buch über und für Flüchtlinge. Abraham, Jakob, Moses, Isaak und sogar Jesus – sie alle mussten ihre Heimat wegen Hungersnöten, Kriegen oder drohender Verfolgung verlassen. An vielen Stellen erinnert uns die Bibel daran, wie gelebte Gastfreundschaft aussieht. Im Dritten Buch Mose heißt es etwa: „Wenn ein Fremdling bei Euch wohnt in Eurem Lande, den sollt Ihr nicht bedrücken. Er soll bei Euch wohnen wie ein Einheimischer unter Euch, und Du sollst ihn lieben wie Dich selbst.“
In Deutschland versuchen wir, diese Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft im Umgang mit Flüchtlingen zu leben. Und auch Straßburg steht für diese Willkommenskultur – damals zu Zeiten der Reformation und auch heute. Es ist ein wunderbares Zeichen der Solidarität und der Menschlichkeit, dass sich Ihre Stadt freiwillig dazu bereit erklärt hat, Flüchtlinge in größerer Zahl aufzunehmen.
Straßburg folgt damit ganz seiner humanistischen Tradition – wie könnte es auch anders sein? Als Sitz des Europäischen Parlaments, des Europarats und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist Straßburg die Hauptstadt Europas für Demokratie und Menschenrechte. Hier werden unsere europäischen Grundwerte Tag für Tag mit Leben erfüllt und verteidigt. Und weil wir die Entstehung der Menschenrechte nicht zuletzt auch der Reformation zu verdanken haben, ist das ein weiterer guter Grund, warum der heutige Festakt hier in Straßburg als einem der Hauptschauplätze der Reformation stattfindet.
Über 400 Millionen Protestantinnen und Protestanten auf der ganzen Welt sind in ihrem Glauben mit der Reformation verbunden. Für all diese Menschen sind 500 Jahre Reformation ein Ereignis, das einen ganz konkreten Bezug zu ihrem tagtäglichen Leben hat. Das Reformationsjubiläum verbindet also Menschen weltweit – und deshalb soll es auch überall auf der Welt gefeiert werden.
Im Themenjahr 2016 widmen wir uns der Bedeutung der Reformation als Weltereignis. Unter dem Motto „Reformation und die Eine Welt“ wollen wir aber auch darauf blicken, was uns die Botschaft der Reformation für den Umgang mit den Krisen und Konflikten der Gegenwart mit auf den Weg geben kann.
Ob es uns gefällt oder nicht: Wir leben in einer Welt, die immer enger miteinander verflochten ist – und nicht etwa in unterschiedlichen, voneinander abgetrennten Welten. Durch Fernsehen, Internet und soziale Medien ist unsere Welt zusammengerückt.
Selbst der entfernteste Ort am anderen Ende des Globus ist nur einen Klick entfernt. Fast in Echtzeit landen die Nachrichten und Bilder von Bürgerkriegen, Terroranschlägen und Naturkatastrophen auf unseren Fernsehbildschirmen, Computern und Smartphones. Wir können im wahrsten Sinne des Wortes die Augen nicht mehr davor verschließen, was in anderen Teilen der Welt geschieht.
Wir leben in einer Welt, in der derzeit mehr als 60 Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg und Terror sind. Wir leben in einer Welt, in der sich an vielen Orten immer noch grausame Menschenrechtsverletzungen abspielen. Wir leben in einer Welt, in der Menschen wegen ihrer politischen Überzeugung, Religion, Hautfarbe oder sexuellen Orientierung unterdrückt und verfolgt werden.
All das geschieht nur auf den ersten Blick ganz weit entfernt von uns in Europa.
Tatsächlich geht es uns alle an, was in Syrien, Afghanistan, Somalia oder Eritrea geschieht. Weil es uns früher oder später auch hier in Europa selbst betrifft – nicht nur virtuell, sondern ganz konkret. Vielleicht haben wir das bisweilen selbst etwas aus dem Blick verloren.
Es ist eine Illusion, zu glauben, dass wir uns durch Mauern und Zäune von den Problemen in anderen Teilen der Welt abschotten könnten. Das haben uns die vergangenen Monate eindringlich vor Augen geführt. Flüchtlingsbewegungen machen nicht an nationalen Grenzen halt, sie bahnen sich ihren Weg – bis vor unsere Haustür, bis wir sie nicht länger ignorieren können. Auch Kriege und Terror holen uns früher oder später ein, wenn wir Soldaten in Krisenherde schicken müssen oder Terroristen Gewalt und Zerstörung auch zu uns nach Europa bringen.
„Eine Welt“ beschreibt daher nicht nur die Realität in der immer stärker globalisierten und vernetzten Welt des 21. Jahrhunderts. Es ist auch ein klarer Auftrag an uns alle: Lasst uns zusammenstehen, lasst uns die Bewährungsproben gemeinsam angehen! „Eine Welt“ bedeutet eben nicht Rückzug ins nationale Schneckenhaus und Abschottung. „Eine Welt“ steht vielmehr für die Bereitschaft, sich anderen Menschen zuzuwenden und gemeinsam Verantwortung für Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung zu übernehmen.
Die Reformation macht es uns vor: Sie ist eine echte Weltbürgerin! Ebenso wie die Reformation weit über Deutschland und Europa hinausgestrahlt hat, darf auch unser Denken und Handeln nicht bloß im nationalen Klein-Klein verharren. Das Erbe der Reformation zu pflegen und mit Leben zu füllen, heißt eben nicht, nur von einem Kirchturm zum nächsten Kirchturm zu blicken. Wir sind in dieser Welt auf so vielfältige Art und Weise miteinander verbunden, dass wir gar nicht anders können, als über unseren nationalen Tellerrand hinauszuschauen und das große Ganze, die „Eine Welt“, in den Blick nehmen. Denn es ist auch unsere Welt!
Die Reformation ist kein abgeschlossenes Kapitel in den Geschichtsbüchern. Sie stellt uns vor eine bleibende Aufgabe, auch im Hier und Jetzt. Sie erinnert uns daran, unser eigenes Handeln immer wieder kritisch zu überprüfen. Sie ermutigt uns dazu, unserem Gewissen zu folgen und Verantwortung für unser Handeln zu übernehmen.
Und das ist es, was mich bis heute anspricht und auch nach fast 500 Jahren nichts an Aktualität eingebüßt hat: Die Reformation ist immer ein Werk der Tat. Sie ist die Aufforderung an jeden Einzelnen für Liebe statt Hass, für Versöhnung statt Krieg, für Solidarität statt Egoismus einzutreten. Auch wenn es anstrengend ist, auch wenn es Rückschläge gibt, die wir alle aus unserem eigenen Alltag kennen. Aber gerade dann müssen wir hartnäckig bleiben. Aufgeben oder untätiges Selbstmitleid darf niemals eine Option sein!
Martin Luther war ein Mann des Wortes – und der Schrift. Mit seinen Worten hat er die Welt verändert. Uns fordert er auf, nicht nur zu reden und zu lamentieren, sondern auch zur Tat zu schreiten: Handeln statt Sonntagsreden.
Am Anfang war das Wort – aber am Ende muss immer die Tat stehen.