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Zehn-Punkte-Plan für europäische Flüchtlingspolitik
Außenminister Steinmeier und Wirtschaftsminister Gabriel plädieren in einem gemeinsamen Zehn-Punkte-Plan für ein solidarisches europäisches Asylsystem.
Gemeinsamer Beitrag von Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel für ein solidarisches europäisches Asylsystem. Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung am 23.08.2015.
Europa steht vor einer Generationenaufgabe: Nie zuvor waren so viele Menschen auf der Flucht vor politischer Verfolgung und Krieg wie heute. Viele von ihnen suchen Schutz bei uns in Europa. Wir müssen damit rechnen, dass das angesichts der Krisen in unserer Nachbarschaft auf Jahre so bleiben könnte. Wir Europäer sind es uns selber und der Welt schuldig, der großen Herausforderung dieser Hilfe suchenden Menschen gerecht zu werden.
Klar ist: Die bisherige Reaktion entspricht nicht dem Anspruch, den Europa an sich selbst haben muss. Europa darf nicht länger zögern, die EU muss jetzt handeln. Deshalb müssen wir eine Europäische Asyl-, Flüchtlings- und Migrationspolitik verfolgen, die auf dem Prinzip der Solidarität und unseren gemeinsamen Werten der Menschlichkeit gründet. Zehn Punkte sind dabei vordringlich:
Erstens müssen überall in der EU menschenwürdige Zustände herrschen bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Hierfür brauchen wir EU-weite Standards, die in jedem EU-Mitgliedstaat eingehalten werden.
Zweitens muss ein einheitlicher europäischer Asyl-Kodex schutzbedürftigen Flüchtlingen einen in der ganzen EU gültigen Asylstatus garantieren. Perspektivisch brauchen wir dafür eine neue, viel ehrgeizigere Integration der europäischen Asylpolitik.
Drittens brauchen wir eine faire Verteilung von Flüchtlingen in Europa. Wie nie zuvor engagieren sich Bürgerinnen und Bürger in unserem Land bei der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen in unsere Gesellschaft. Diese Solidarität wird langfristig aber nur Bestand haben, wenn alle sehen, dass es in Europa gerecht zugeht. Eine Lage, in der – wie heute - nur einige wenige Mitgliedstaaten die ganze Verantwortung tragen, ist genauso wenig tragbar wie ein System, das Lasten einseitig auf die Länder verteilt, die zufällig die Außengrenze der EU bilden. Wir müssen deshalb das bestehende Dublin-System reformieren. Wir brauchen verbindliche und objektiv nachvollziehbare Kriterien für die Aufnahmequoten aller Mitgliedsstaaten, entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit.
Europa braucht viertens ein gemeinsames europäisches Grenzmanagement. Dabei kann es nicht nur um die Sicherung der Grenzen gehen. Wir brauchen vor allem auch mehr europäische Verantwortung bei der Registrierung und Betreuung von ankommenden Flüchtlingen.
Fünftens müssen wir umgehend den EU-Staaten helfen, die aktuell besonders belastet sind. Als einziger EU-Staat hat Deutschland Soforthilfe zur Verfügung gestellt, um die Lage der Flüchtlinge auf den griechischen Inseln zu verbessern. EU und Mitgliedsstaaten müssen hier effizienter handeln und den Erstaufnahmestaaten schnell praktische und finanzielle Unterstützung zur Verfügung stellen. Bei uns in Deutschland müssen wir dafür sorgen, dass vor allem die Kommunen die riesigen Herausforderungen bewältigen können. Dafür müssen wir sie dauerhaft und systematisch finanziell unterstützen.
Sechstens dürfen wir nicht tatenlos zusehen, wie Menschen auf dem Weg zu uns ihr Leben riskieren. Das Mittelmeer darf nicht ein Massengrab für verzweifelte Flüchtlinge sein. Hier steht das humanitäre Vermächtnis Europas, ja unser europäisches Menschenbild auf dem Spiel. Im Frühjahr haben wir daher eine gemeinsame Kraftanstrengung zur Seenotrettung im Mittelmeer unternommen. Diese müssen wir langfristig europäisch verstetigen und die EU mit den entsprechenden Kapazitäten ausstatten.
Auf Dauer können wir schutzbedürftigen Flüchtlingen nur dann helfen, wenn diejenigen ohne Asylanspruch in ihre Herkunftsstaaten zurückkehren. Dafür müssen wir siebtens die Rückübernahme zu einem zentralen Anliegen in unseren Beziehungen mit den Herkunftsstaaten machen und auch dazu bereit sein, technische und finanzielle Unterstützung für diese Staaten von einer konstruktiven Zusammenarbeit abhängig zu machen. Bestehende Anreize wie Visaerleichterungen könnten ausgebaut werden.
Achtens müssen wir uns EU-weit darüber verständigen, welche Staaten wir als sichere Herkunftsstaaten ansehen. Alle Staaten des Westlichen Balkan streben in die EU. Mit guten Gründen eröffnen wir ihnen die Perspektive der Aufnahme in die Gemeinschaft. Das heißt aber auch, dass wir sie nicht gleichzeitig wie Verfolgerstaaten behandeln können. Perspektivisch sollte ein Staat, der die Kriterien eines EU-Beitrittskandidaten erfüllt, EU-weit als sicherer Herkunftsstaat gelten.
Neuntens: Deutschland braucht ein Einwanderungsgesetz. Wir brauchen eine kluge, eine gesteuerte Einwanderungspolitik, die legale Arbeitsaufenthalte ermöglicht. Das Asylsystem müssen wir davon entlasten.
Zu einer umfassenden europäischen Asyl-, Flüchtlings- und Migrationspolitik gehören zehntens neue politische Initiativen zur Bekämpfung von Fluchtursachen in den Ländern des Nahen Ostens und Afrikas. Die Stabilisierung zerfallender Staaten, die Eindämmung von Gewalt und Bürgerkrieg müssen einhergehen mit konzentrierten Anstrengungen für wirtschaftliche Entwicklung und der Schaffung echter wirtschaftlicher und sozialer Perspektiven, besonders für junge Menschen in den Herkunftsländern. Alle Anstrengungen der Staatengemeinschaft, allen voran der Europäischen Union und der Vereinten Nationen, müssen mit aller Kraft darauf gerichtet sein.
All das zeigt: Der politische Handlungsrahmen ist längst nicht mehr national, auch und gerade in der Flüchtlings- und Migrationspolitik. Nur gemeinsam, nur auf europäischer Ebene können wir überhaupt vernünftige Lösungen finden. Deshalb ist heute die Flüchtlings- und Migrationspolitik das wichtigste Politikfeld, in dem wir mit Schwung und Überzeugung das Projekt der europäischen Integration vorantreiben müssen.
Deutschland steht bereit, das gemeinsame Projekt einer solidarischen Flüchtlingspolitik mit allem Engagement voranzutreiben.