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Europa vor dem Zerfall? Flüchtlingskatastrophe, Ukrainekonflikt, Eurokrise – Gibt es noch gemeinsame Lösungen? Rede von Staatsminister Michael Roth zum Europatag im Düsseldorfer Rathaus

09.05.2015 - Rede

-- es gilt das gesprochene Wort--

Sehr geehrte Damen und Herren,

Danke, dass ich heute mit Ihnen feiern darf. Es ist toll, dass der Europatag bereits zum 15. Mal hier im Rathaus in Düsseldorf stattfindet. Europa ist eben nicht nur Brüssel, Warschau oder Berlin, sondern auch Düsseldorf. Oder auch Sontra in meinem nordhessischen Wahlkreis, wo ich gleich hinfahre.

Dieser Europatag liegt mir ganz besonders am Herzen. Denn weder bei Ratssitzungen in Brüssel noch in Hörsälen oder bei Konferenzen mit Expertinnen und Experten wird darüber entschieden, wie wir in Europa leben wollen. Das entscheiden die Menschen in Europa selbst – und dafür brauchen wir Europäerinnen und Europäer der Herzen. Damit unsere Herzen für Europa schlagen, brauchen wir Solidarität, Mut, ein Fünkchen Zuversicht und auch mal ein bisschen Emotion und Leidenschaft.

Europa lebt maßgeblich von seinen Bürgerinnen und Bürgern, einer vitalen Zivilgesellschaft mit Vereinen und Verbänden, die sich einmischen und mitmachen und uns Politikern auch mal den Spiegel vorhalten. Das ist gelebte Demokratie.

Liebe Europäerinnen, liebe Europäer,

Der 9. Mai erinnert uns den Tag, an dem der Grundstein für die heutige EU gelegt wurde. Dennoch ist dieser Tag im öffentlichen Gedächtnis kaum verankert. Blicken wir also nochmal zurück: Der damalige französische Außenminister Robert Schuman hat am 9. Mai 1950 in einer Rede in Paris vorgeschlagen, eine europäische Produktionsgemeinschaft für Kohle und Stahl zu schaffen. Diese Rede ging als Schuman-Erklärung in die Geschichte ein und mündete in die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, auch Montanunion genannt. Gerade für Düsseldorf mit seiner Verbundenheit zur Stahlindustrie war dies von besonderer Bedeutung.

Wir erinnern dieser Tage aber auch an das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 70 Jahren, mit dem Nazi-Deutschland die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts über den Kontinent gebracht hat. Wir dürfen nicht müde werden, immer wieder auch hieran zu erinnern – gerade in Krisenzeiten, wo immer mehr Menschen am Sinn und Wert Europas zweifeln: Die Europäische Union ist und bleibt ein einzigartiges Friedensprojekt!

Doch Europa ist derzeit, wenn auch in aller Munde, alles andere als ein leichtes Geschäft: In Wahlkämpfen lässt sich mit Europakritik verlässlich punkten. Niemals zuvor saßen so viele Rechtspopulisten und Europaskeptiker im Europaparlament wie aktuell. Gleichzeitig wird Europa im Innern und in seiner unmittelbaren Nachbarschaft von einer Reihe von Krisen erschüttert: Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer, die gewaltsamen Auseinandersetzungen in der Ostukraine sowie der anhaltende Kampf gegen die wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen infolge der Eurokrise.

Steht Europa deswegen vor dem Zerfall? Meine klare Antwort: Nein.

Flüchtlingskatastrophe, Ukrainekonflikt, Eurokrise – gibt es noch gemeinsame Lösungen? Meine ebenso klare Antwort: Ja.

Noch zugespitzter formuliert: Es gibt überhaupt nur noch gemeinsame Lösungen für diese Probleme. Kein Land in der EU kann im Alleingang mit den genannten Bewährungsproben umgehen. Gerade in Deutschland wird derzeit oft der Eindruck vermittelt, dass wir angesichts unserer wirtschaftlichen Stärke alleine viel besser klar kämen, wenn wir nur nicht immer den anderen aus der Patsche helfen müssten. Was für ein Irrglaube: Wir sind als Land in der Mitte Europas das verwundbarste Land überhaupt.

Und auch wenn Deutschland eine riesengroße Erwartungshaltung, was die Lösung innereuropäischer und internationaler Krisen entgegen schlägt, können wir diese alleine wohl kaum erfüllen. Das wollen wir aber auch nicht. Denn die EU ist eben immer ein Teamspiel, in dem wir ein engagierter, aber eben nicht der einzige Spieler sind. Auch das vermeintlich so große Deutschland kann seine Interessen letztlich nur in und über Europa durchsetzen.

Wie gehen wir die aktuellen Bewährungsproben ganz konkret an? Am besten gemeinsam – denn nur mit Solidarität und Geschlossenheit erreichen wir überzeugende Lösungen. Solidarität ist aber mitnichten nur eine großherzige Geste vermeintlich Starker gegenüber vermeintlich Schwächeren. Ob groß oder klein, stark oder schwach, Westen oder Osten – wir alle brauchen einander in Europa.

Solidarität ist das wichtigste Bindemittel in einer bunten und vielfältigen Union. Sie sichert unser Überleben. Denn ohne die Bereitschaft, verlässlich füreinander einzustehen, kann in Europa nichts gelingen.

Das Prinzip der innereuropäischen Solidarität gilt als Handlungsmaxime für alle großen Aufgaben, denen sich die EU derzeit stellen muss. Lassen Sie mich drei Beispiele nennen:

Erstens: Denken wir an die Flüchtlingstragödien im Mittelmeer, die ein unvorstellbares Ausmaß erreicht haben. Die Flüchtlinge kommen zwar in Malta, Italien oder Griechenland an, aber ihr Ziel heißt: Hoffnung Europa. Hieraus erwächst Verantwortung für uns alle. Das ist keine Aufgabe, mit der wir unseren EU-Partner am Mittelmeer alleine lassen dürfen. Das ist eine gesamteuropäische Aufgabe, die wir gemeinsam lösen müssen.

Hunderte, ja tausende Menschen haben in Europa ein besseres Leben gesucht – und einen grausamen Tod gefunden. Die Rettung von Menschenleben hat daher oberste Priorität. Eine Verbesserung der Seenotrettungskapazitäten der EU hat auf dem Sondertreffen des Europäischen Rates eine wichtige Rolle gespielt. Deutschland beteiligt sich und hat bereits zwei Schiffe vor Ort in das Einsatzgebiet entsandt. Daneben müssen wir uns aber auch fragen, wie wir den die Lebensbedingungen in den Herkunftsländern verbessern können. Wir müssen die Fluchtursachen bekämpfen, nicht die Flüchtlinge!

Und wenn wir über den Umgang mit Flüchtlingen sprechen, dann geht es immer auch um Solidarität – sowohl auf der europäischen Ebene als auch ganz konkret vor Ort in den Städten und Gemeinden, hier in Düsseldorf oder in meiner nordhessischen Heimat. Ich erlebe in meinem Wahlkreis unermüdliches ehrenamtliches Engagement für Flüchtlinge.

Und ich weiß, dass auch die Städte und Gemeinden in NRW Menschen, die in ihrer Not Zuflucht bei uns suchen, mit offenen Armen in der Mitte unserer Gesellschaft aufnehmen. Und das freut mich ganz besonders: Denn Tröglitz ist eben nicht überall!

Fragen der Solidarität stellen sich aber auch innerhalb der EU: Gerade einmal fünf von 28 Mitgliedstaaten, darunter auch Deutschland, nehmen drei Viertel der Asylbewerber und Flüchtlinge auf. Wir haben deshalb vorgeschlagen, für eine fairere Lastenverteilung innerhalb der EU verbindliche Standards und Quoten zu verabreden, die sich an Größe, Wirtschaftskraft und Aufnahmekapazität der einzelnen EU-Mitgliedstaaten orientieren.

Hier liegt noch ein gutes Stück Überzeugungsarbeit vor uns, da einige unserer Partner sich bislang nicht als Einwanderungsländer wahrnehmen.

Europa als Einwanderungskontinent zu begreifen – darum möchte ich werben, gerade angesichts der Tatsache, dass sich auch unser Land über lange Zeit schwer damit getan hat, diese Realität anzuerkennen. Europa bedeutet eben, sich auch immer wieder aufeinander zuzubewegen und Kompromisse zu suchen – so wie das in jeder guten Beziehung funktioniert.

Ein zweites Beispiel für die Bedeutung von Solidarität in der EU ist unser gemeinsames Handeln in der Ukraine-Krise: Russland hat mit der Annexion der Krim das Völkerrecht gebrochen und unterstützt weiterhin Separatisten, die die Ukraine gewaltsam spalten wollen. Das ist eine Bedrohung für die gesamte EU. Unsere östlichen EU-Partner fühlen sich ganz unmittelbar bedroht. Gerade wegen dieser unterschiedlichen Erfahrungen und Wahrnehmungen: Die EU spricht in dieser Frage mit einer Stimme, das ist ein großer Erfolg und wird die EU als globalen Akteur sichtbarer machen.

Durch unser Zusammenstehen auf der Basis unserer gemeinsamen Werte haben wir ein klares Zeichen gegenüber dem russischen Handeln gesetzt. All das ist gelebte Solidarität.

Ja, wir müssen die Krise in der Ukraine entschlossen gemeinsam angehen. Gleichzeitig müssen wir aber auch überlegen wie wir – wenn es die Entwicklung in der Ukraine ermöglicht – die langfristigen Beziehungen der EU zu Russland gestalten wollen. Und wir müssen uns überlegen, wie wir unsere gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik langfristig weiterentwickeln können.

Noch ein drittes Beispiel: Die unmittelbare Gefahr des Auseinanderbrechens der Währungsunion haben wir gemeinsam durch eine Mischung aus Haushaltskonsolidierung, finanzieller Solidarität und Wachstumspolitik abwenden können. Doch die Krise ist noch lange nicht überwunden. Die soziale und wirtschaftliche Lage bleibt in vielen EU-Staaten angespannt.

Das Investitionsniveau in Europa ist weiterhin besorgniserregend niedrig. Wenn wir wollen, dass Europa auch in Zukunft Weltspitze ist, müssen wir jetzt mit gezielten Investitionen den Grundstein legen. In der EU bemühen wir uns derzeit um ein Investitionsprogramm im Umfang von 315 Mrd. Euro. Für Investitionen in Schulen und Universitäten, damit unsere Kinder die richtigen Qualifikationen vermittelt bekommen. Für Investitionen in erneuerbare Energien, um den Klimaschutz voranzubringen und unsere Importabhängigkeit zu verringern. Auch das ist angewandte Solidarität.

Und natürlich hat die Krise auch insbesondere in den Krisenstaaten die sozialen Verwerfungen verstärkt. Hier müssen wir uns noch viel mehr anstrengen. Europa muss künftig wieder stärker als soziales Korrektiv wahrgenommen werden.

Trotz aller Krisen, die uns derzeit umgeben: Europapolitik muss immer den Anspruch verfolgen, mehr zu sein als nur reaktives Krisenmanagement. Gerade in Krisenzeiten müssen wir die langfristige Ausrichtung der Europapolitik im Blick behalten.

Dabei hilft es, wenn wir uns immer wieder darauf besinnen, was Europa für uns bedeutet: Nur ein geeintes Europa bietet uns die Chance, die Globalisierung mitzugestalten und längst verloren gegangene Handlungsfähigkeit und Gestaltungsmacht zurückzugewinnen. Nur ein geeintes Europa kann unseren Wohlstand sichern und unsere gemeinsamen Werte schützen. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, kulturelle und religiöse Vielfalt, der Schutz von Minderheiten sowie Presse- und Meinungsfreiheit – diese Werte sind das Markenzeichen der EU. Es sind eben diese Werte, die uns im Innern stark machen und uns zusammenschweißen.

Vielleicht ist diese Nachricht im Zuge der Krisen nicht immer deutlich genug geworden: Die EU ist weit mehr als ein Binnenmarkt und eine Währungsunion. Der Europatag am 9. Mai ist sicherlich ein guter Anlass, um sich all das, was für viele von uns so selbstverständlich geworden ist, noch einmal vor Augen zu führen. Und ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Eigentlich sollte jeder Tag im Jahr ein Europatag sein. Denn Europa prägt unser Leben, nicht nur am 9. Mai, sondern jeden Tag.

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