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„Europäische Friedensordnung steht auf dem Spiel“

16.11.2014 - Interview

Außenminister Frank-Walter Steinmeier ist besorgt über die Rückschläge in der Ostukraine. Im Interview mit der Welt am Sonntag (16.11.14) spricht er über härtere Sanktionen gegen Russland und Möglichkeiten der Einflussnahme. Weiteres Thema: Der Kampf gegen die Terrororganisation IS.

Außenminister Frank-Walter Steinmeier ist besorgt über die Rückschläge in der Ostukraine. Im Interview mit der Welt am Sonntag (16.11.14) spricht er über härtere Sanktionen gegen Russland und Möglichkeiten der Einflussnahme. Weiteres Thema: der Kampf gegen die Terrororganisation IS.

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Herr Minister, wo liegt derzeit das größere Problem, in der Ukraine oder im Irak?

Ich wünschte mir, wir könnten das entscheiden. In der uns geografisch näheren Krise in der Ukraine sind wir zweifellos am meisten gefordert. Aber der Konflikt im Nahen und Mittleren Osten ist deshalb nicht weniger gefährlich. Hier geht es um die zerfallende Ordnung einer ganzen Region, weit über Syrien und den Irak hinaus, und um viele Kämpfer aus Europa, auch aus Deutschland. Dieser Konflikt hat das Potenzial, weitere Staaten in der Region aus den Angeln zu heben.

Auch in Ägypten und Libyen wehen bereits schwarze Flaggen des Islamischen Staates (IS). Breitet sich der Konflikt aus wie ein Krebsgeschwür?

Libyen hat mindestens zwei Dimensionen. Erstens: Haben wir unsere Lektionen gelernt? Wenn man entscheidet, militärisch einzugreifen, kann man ein Land nicht so hinterlassen, wie es die internationale Staatengemeinschaft getan hat. Deshalb müssen wir die Vereinten Nationen dabei unterstützen, dem Land wieder eine politische Perspektive zu geben. Zweitens: Die Abwesenheit jedweder Ordnung führt zu Radikalisierungen. Hier kämpfen Hunderte von Kleinstmilizen gegeneinander. Wer wo politisch und militärisch steht, eher bei der Muslimbruderschaft oder anderen Gruppierungen, lässt sich kaum feststellen. Dass der IS schon nach Libyen ausgegriffen hat, ist nicht eindeutig. Offenkundig aber wird der Name „IS“ in Libyen und bei anderen innerafrikanischen Auseinandersetzungen, etwa im Norden Nigerias, als Aushängeschild benutzt.

Die bisherige Strategie, den IS einzudämmen, verfängt nicht. Gehen die IS-Terroristen als Sieger hervor?

Nein, aber natürlich braucht es Zeit, diesen Kampf zu gewinnen. Das geht nicht von heute auf morgen. Die internationale Gemeinschaft ist dabei, eine gemeinsame Strategie zu entwickeln. Wir müssen den IS militärisch bekämpfen, ohne darauf zu vertrauen, dass ein militärischer Ansatz ausreichend ist. Im Irak kann der IS nur zurückgedrängt werden, wenn die politische Unterstützung aus sunnitischen Stämmen aufhört. In Wahrheit haben der IS und viele sunnitische Gruppierungen weder ideologisch noch religiös etwas gemeinsam. Einig waren sie sich nur im Kampf gegen eine schiitische Regierung. Der IS hat die Diskriminierung der Sunniten im Irak für sich genutzt. Nun hängt viel davon ab, ob der neue irakische Ministerpräsident al-Abadi sein Versprechen einlöst, Sunniten in die Regierung, ins Militär und in wichtige gesellschaftliche Funktionen zu holen.

Washington hält den IS für die reichste Terrororganisation der Welt. Der UN-Sicherheitsrat hat Sanktionen beschlossen, Sie haben die Resolution gegen „foreign fighters“ unterstützt. Geht die Strategie, den Geldhahn zuzudrehen, auf?

Die Beschlüsse beginnen zu wirken. Wie auch immer sich bestimmte Regierungen früher zum IS verhalten haben, immerhin gibt es die internationale Allianz im gemeinsamen Kampf gegen den IS jetzt. Aus der Resolution des Sicherheitsrats folgt die Pflicht, Finanzflüsse und andere Formen der Unterstützung des IS zu unterbinden. Innerhalb der Allianz wird jetzt genau geschaut, wer sich seinen Verpflichtungen entzieht.

Der IS handelt mit Menschen, Öl und Antiquitäten. Einzelne Staaten und Personen, etwa aus Katar und Saudi-Arabien, unterstützen diesen Handel. Ist der internationale Druck dagegen hoch genug?

Zu den größten Einnahmequellen gehören Ölvorkommen, die im gesamten Nahen und Mittleren Osten versilbert worden sind. Immerhin haben die Luftangriffe den Zugriff auf das Öl erschwert. Auch die Versklavung von Menschen, vor allem von Frauen, ist zynischerweise zu einer neuen Geldquelle der Terroristen geworden.

Es gibt Zweifel an der Haltung des Nato-Landes Türkei. Ankara hält die Kurden und die PKK offenbar für gefährlicher als den IS. Welche Politik verfolgt die Bundesregierung hier?

Wir dürfen nicht gering schätzen, was die Türkei mit der Aufnahme und Versorgung von mehr als anderthalb Millionen Flüchtlingen leistet. Die Türkei ist geografisch mittendrin, hat ihre nationalen Interessen im Mittleren Osten. In Ankara sieht man das Assad-Regime als Ursache aller Probleme in Syrien und der Turbulenzen in der Region. Aber ohne die Hilfe der Türkei hätten auch kurdische Peschmerga zum Kampf gegen den IS nicht nach Nordsyrien gelangen können.

Muss man nicht so ehrlich sein und sagen: In Syrien gewinnt entweder Assad oder der IS?

Der Bürgerkrieg dauert nun mehr als dreieinhalb Jahre, fast 200.000 Menschen sind schon gestorben. Ein Ende des Sterbens und größere Verschiebungen der Herrschaftsbereiche unterschiedlicher Gruppierungen sind nicht in Sicht. Die Bilder aus Kobani waren unerträglich. Auch anderswo geht das Töten weiter, sind die Menschen auf der Flucht. Aber es wird immer schwerer, aus Syrien herauszukommen. Der Libanon macht seine Grenzen dicht. Das Land beherbergt schon 1,5 Millionen Flüchtlinge, fast ein Drittel seiner eigenen Bevölkerung.

Was folgt daraus?

Wir können auf eine militärische Bekämpfung des IS nicht verzichten. Allein militärisch ist ein Ausweg aber nicht zu finden. Deshalb müssen wir die Nachbarländer stabilisieren, dort die Aufnahme syrischer Flüchtlinge sichern. Das hat die internationale Gemeinschaft auf der Berliner Flüchtlingskonferenz vor zwei Wochen zugesagt. Außerdem brauchen wir neue Ansätze für erste Schritte hin zu einer politischen Lösung. Der UN-Beauftragte de Mistura hat lokale Waffenruhen vorgeschlagen. Dafür hat er unsere volle Unterstützung.

Deutschland hat in der Vergangenheit schon eingegriffen bei Völkermorden. Gegen den IS-Terror aber liefern wir nur Waffen. Warum?

Wieso „nur Waffen“? Wir haben eine internationale Arbeitsteilung verabredet. Ein gutes Dutzend Nationen fliegt Luftschläge. Es ergibt doch keinen Sinn, sich da auch noch einzureihen. Wir haben – übrigens früher als die meisten unserer Partner – nach einer schwierigen Debatte entschieden, militärische Ausrüstung für die kurdischen Peschmerga zu liefern, die ihre Heimat gegen IS-Angriffe verteidigen. Die kurdischen Sicherheitskräfte bewegen sich nun in geschützten Fahrzeugen und haben eine Waffenausrüstung, mit der sie nicht zu hilflosen Opfern des IS werden.

Sie sprechen von einer schwierigen Debatte. Aber war es nicht eher ein erstaunlicher und schneller Meinungsumschwung?

Viele sehen die Waffenlieferungen skeptisch, obwohl Teile des Irak die Rückkehr der Barbarei erleben: Dörfer werden überfallen, die Männer ermordet, die Frauen auf Sklavenmärkten verkauft, Köpfe werden abgeschlagen und zur Abschreckung der örtlichen Bevölkerung öffentlich aufgespießt. Der IS geht mit unvorstellbarer Brutalität vor. Deshalb müssen wir diejenigen, die sich mit letzter Not und unter Einsatz ihres Lebens den IS-Horden entgegenstellen, mit mehr ausstatten als nur Brot und warmen Decken. Deshalb leisten wir militärische Unterstützung, deshalb liefern wir auch Waffen.

Arbeiten Sie und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen dabei stets Seite an Seite?

Es gibt über die Waffenlieferungen an die Kurden innerhalb der Bundesregierung keinen Wettstreit und auch keine Meinungsverschiedenheiten. Die Entscheidung haben wir gemeinsam getroffen, nach sorgfältiger Abwägung aller Risiken, die es ja gibt.

Auch in der Ukraine verschärft sich die Lage. Wie bewerten Sie die bröckelnde „Waffenruhe“ im Osten?

Wir erleben in der Ostukraine einen empfindlichen Rückschlag. Ende September waren wir viel weiter. Umso mehr müssen wir nun alle Seiten darauf verpflichten, sich wieder an den Vereinbarungen zu orientieren, die Präsident Putin und Präsident Poroschenko miteinander getroffen haben.

Werden Sie am Montag beim EU-Außenministerrat die Sanktionen gegen Russland verschärfen?

Das steht jetzt nicht an. Aber es wird über die Listung von ostukrainischen Separatisten diskutiert, die deren Zugang zu Vermögen und Reisefreiheit einschränken würde. Und was Russland angeht, ist der wirtschaftliche Druck schon jetzt erheblich – zum kleineren Teil als Folge von Sanktionen, zum größeren Teil als Folge von Kapitalflucht, Investitionsunsicherheit, Währungsverfall und niedrigerem Ölpreis. Wir sehen aber auch russische Kampfflugzeuge entlang der Nato-Grenzen, russische Kriegsschiffe vor der australischen Küste. Diese Machtdemonstration zeigt: Der Weg führt immer noch in die falsche Richtung.

Wie kann man jetzt auf Russland Einfluss nehmen?

Ich erhoffe mir von den vielen Gesprächen am Rande des G-20-Treffens in Brisbane Anhaltspunkte dafür, wo wir mit Russland stehen. Am Dienstag will ich selbst bei Gesprächen sowohl in Kiew als auch in Moskau sondieren, ob es Chancen gibt, eine neue Verschärfung des Konflikts aufzuhalten. Vielleicht müssten wir nach neuen Ansätzen suchen, die Anspannung im Verhältnis der EU zu Russland zu reduzieren. Das muss nicht die Aufgabe der bisherigen Strategie von politischem Druck bei gleichzeitiger Verhandlungsbereitschaft sein. Aber wenn wir uns erinnern, wie nervös Russland auf das Freihandelsabkommen der EU mit der Ukraine und wie nervös die EU auf das Projekt der Eurasischen Union reagiert hat, dann könnte ein Ansatz sein, Vertreter der EU und der Eurasischen Union zu ersten Kontakten zusammenzubringen. Eine Begegnung beider Organisationen auf Augenhöhe könnte ein Beitrag zur Entkrampfung des Verhältnisses werden. Übrigens eine Idee, die bei meinem Besuch vor wenigen Tagen in Kasachstan von Präsident Nasarbajew ausdrücklich begrüßt wurde.

Die weltweiten Konflikte sind derzeit alle miteinander verbunden. Einerseits brauchen Sie die Russen für eine Lösung im Irak und in Syrien, andererseits können Sie sie in der Ukraine nicht einfach gewähren lassen, oder?

Es gibt viele gute Gründe, den Ukraine-Konflikt zu lösen. Erstens, weil viel zu viele Menschen ihr Leben verloren haben. Zweitens, weil wir die politische und wirtschaftliche Destabilisierung der Ukraine verhindern müssen. Drittens, weil die europäische Friedensordnung auf dem Spiel steht und wir eine neue Spaltung Europas abwenden müssen. Solange die USA und Russland durch den Ukraine-Konflikt miteinander im Streit sind, ist der Weltsicherheitsrat auch in sämtlichen anderen Fragen blockiert. Die Konfliktherde mögen geografisch Tausende Kilometer auseinanderliegen, aber sie sind durch die blockierten Institutionen kollektiver Sicherheit miteinander verbunden, die wir gerade jetzt so dringend brauchen.

Hat Putin vielleicht längst entschieden, dass er in die Geschichte eingehen will als derjenige, der die Sowjetunion wiederhergestellt hat?

Ich denke, der russische Präsident will Russland auf Augenhöhe mit anderen einflussreichen Mächten halten. Das ist verständlich, rechtfertigt aber keinen Bruch des Völkerrechts wie mit der Annexion der Krim geschehen. Ob wirklich Distanz zur internationalen Gemeinschaft gesucht wird, weiß ich nicht. Dagegen spricht, dass Russland in anderen Bereichen nicht die Konfrontation sucht. In den wichtigen Endverhandlungen mit dem Iran zur Beilegung des Atomstreits beteiligt sich Russland konstruktiv.

Die Frist für die Verhandlungen mit dem Iran endet am 24. November. Zeichnet sich eine Lösung ab, oder rechnen Sie mit einer Verlängerung der Gespräche?

Wir müssen alles versuchen, eine Vereinbarung hinzubekommen. Tatsächlich hat sich im letzten Jahr der Verhandlungen mehr bewegt als in neun Jahren zuvor. Wieso sollte ein Deal leichter werden, wenn wir erneut die Deadline verschieben? Wir haben konstruktiv verhandelt, bei den entscheidenden Parametern gibt es noch erhebliche Differenzen, die ich für überwindbar halte. Wir werden dabei nicht von unserem Ziel abrücken, eine militärische Nutzung des Atomprogramms zu verhindern.

Interview: C.C. Malzahn, Silke Mülherr und Daniel Friedrich Sturm. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Welt am Sonntag.

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