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„Wir dürfen Russland nicht ignorieren“

02.11.2014 - Interview

Außenminister Frank-Walter Steinmeier über das Verhältnis zu Russland, die Erwartungen der ukrainischen Bürger und den Kampf gegen den islamischen ISIS-Terror. Erschienen u.a. in der Stuttgarter Zeitung (02.11.2014)

Außenminister Frank-Walter Steinmeier über das Verhältnis zu Russland, die Erwartungen der ukrainischen Bürger und den Kampf gegen den islamischen ISIS-Terror. Erschienen u.a. in der Stuttgarter Zeitung (02.11.2014)

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Herr Außenminister, Moskau will die Wahlen in den ukrainischen Separatistengebieten anerkennen. Ist das eine neue Eskalationsstufe?

Die Gefahr, dass es durch die Durchführung von Wahlen zu erneuten Spannungen kommen kann, ist sehr groß. Für uns ist klar: Die Wahlen stehen im klaren Gegensatz zu den Minsker Waffenstillstandsvereinbarungen, weshalb wir sie auch nicht anerkennen werden. In dieser wichtigen Frage muss Russland seiner großen Verantwortung gerecht werden. Aussagen, die von den Separatisten als Ermutigung ihrer Abspaltungstendenzen verstanden werden könnten, würden nur weiter Öl ins Feuer gießen - davor kann ich nur warnen. Russland hat sich zur Einheit der Ukraine bekannt. Dazu muss es jetzt auch stehen.

Die Ergebnisse der Parlamentswahlen spiegeln die Sehnsucht der Menschen nach einer raschen Einbindung in die EU. Unterliegen sie da nicht einer Illusion?

Die Wahlen senden mindestens drei Botschaften. Erstens: Die Mehrheit der Menschen will nicht zurück in die Zustände unter Janukowitsch. Das Land will Modernisierung, es will Reformen, will die Zeiten, in denen die Ukraine vor allem durch Korruption auf sich aufmerksam gemacht hat, endlich hinter sich lassen. Zweitens: Das Wahlergebnis ist eine klare Absage an alle faschistisch-nationalistischen Kräfte und den Extremismus insgesamt. Und drittens ist das Ergebnis ein klares Bekenntnis zur Einheit der Ukraine. Die Menschen in der Ukraine wissen, dass ihr Land noch einen weiten Weg vor sich hat, um politische Stabilität zurückzugewinnen.

Binnen welcher Zeitspanne hat das Land überhaupt eine EU-Perspektive?

Die EU befindet sich nicht im Wettbewerb mit anderen. Mit dem Assoziierungsabkommen haben wir ein umfangreiches Angebot für Freihandel und politische Zusammenarbeit gemacht. Damit wollen wir der Ukraine helfen, das Land ökonomisch und rechtsstaatlich voranzubringen. Das wird uns noch lange beschäftigen, denn wir reden hier von einem Reformstau, der sich über Jahrzehnte angehäuft hat. Es macht jetzt wenig Sinn, über Mitgliedschaften zu reden, so lange wir nicht einmal die nächsten Monate und Jahre mit klarer Perspektive überschauen können.

Ist das Leitbild deutscher Außenpolitik, Russland zu einem strategischen Partner zu machen, dauerhaft gescheitert?

Es geht bei unseren Beziehungen zu Russland doch nicht um Fragen von Leitbildern. Ein Blick auf die Landkarte reicht aus, um das zu sehen: Russland ist ein großer Nachbar, den wir nicht ignorieren dürfen. Deshalb bleibt es meine Politik, mit Russland als einer europäischen Macht umzugehen. Dieser Einsicht folgend haben wir auch im Verlauf der Ukraine-Krise wirklich alles unternommen, um die Auseinandersetzung nicht in einen dauerhaften militärischen Konflikt münden zu lassen – oder gar in eine neue Spaltung Europas. Ich hoffe, dass wir die unmittelbare Gefahr einer militärischen Konfrontation der Streitkräfte Russlands und der Ukraine überwunden haben. Und eine gute Nachricht hat es letzten Donnerstag ja gegeben. Dass es nach langen und schwierigen Verhandlungen gelungen ist, zu einer Einigung zwischen der Ukraine und Russland über ein Winterpaket für die Gasversorgung der Ukraine zu kommen, ist ein wichtiger Schritt zur Entschärfung der angespannten Lage. Die Beteiligten sollten diesen Erfolg als Ermutigung verstehen, die weiteren schwierigen Fragen, die einer politischen Lösung des Ukraine-Konflikts im Wege stehen, schnell anzugehen.

Können Sie aus heutiger Sicht ein Kriterium zur Aufhebung der Sanktionen gegen Russland nennen?

Klar ist: Erleichterungen setzen eine konsequente Erfüllung des Minsker Friedensplans und die Einleitung einer politischen Konfliktlösung voraus. Und nach der Abstimmung in den sogenannten Sonderstatusgebieten in der Ostukraine dürfen sich keine neuen unüberwindbaren Schwierigkeiten ergeben. Dennoch ist es wichtig, dass wir damit beginnen, über die Kriterien für Sanktionserleichterungen zu diskutieren. Das habe ich auch im EU- Außenministerrat angeregt. Die Sanktionen sind befristet. Spätestens im Frühjahr 2015 wird die EU dann entscheiden müssen, ob sie verlängert werden. Das ist keine Entscheidung, die man über Nacht treffen kann.

Zum nächsten Krisenherd: Der Kampf gegen den Terror des sogenannten Islamischen Staates (IS). Ist den Deutschen das Ausmaß die Flüchtlingskatastrophe in der Region schon hinreichend bewusst?

Ich denke, die Bürger sind erschrocken, empört und vielleicht sind sie auch etwas überfordert mit den Bildern aus dem Mittleren Osten. Eine ganze Region wird mit mittelalterlicher Barbarei überzogen. Dahinter tritt in der medialen Wahrnehmung das Los der drei Millionen Flüchtlinge vielleicht zurück, die oft nur das nackte Leben retten konnten und nun schon seit Jahren unter schwierigsten Bedingungen ausharren. Um die Last zu ermessen, die die Nachbarländer tragen, muss man wissen, dass Jordanien und Libanon ein Viertel bis ein Drittel der Zahl ihrer eigenen Bevölkerung als Flüchtlinge im Land haben. Übersetzt auf deutsche Verhältnisse hieße das: 20 Millionen Flüchtlinge. Welche soziale Sprengkraft das hat, wenn es wegen der Flüchtlinge plötzlich nicht mehr genug Wasser, Strom oder Wohnraum für alle gibt, kann man sich vorstellen.

Müssen wir uns deshalb auf Aufnahmezahlen einstellen wie zuletzt in Zeiten des Balkankonflikts?

Über 70 000 syrische Flüchtlinge haben bereits seit 2011 Aufnahme bei uns gefunden. Wenn andere europäische Staaten in gleicher Weise Aufnahmebereitschaft zeigten, wären wir ein Stück weiter. Wir dürfen uns aber auch nicht vormachen, dass wir das Flüchtlingselend der Region durch offene Grenzen in Europa lösen können. Die Allermeisten harren auch deshalb in den Flüchtlingslagern aus, weil sie schnell in ihre syrischen Heimatdörfer zurück wollen. Deswegen wird es auch weiter vor allem auf die Hilfe vor Ort ankommen. Die Aufnahmeländer brauchen Planungssicherheit und die Flüchtlinge Perspektiven, vor allem Bildungschancen für die Jungen. Letzte Woche habe ich zu einer Flüchtlingskonferenz in Berlin eingeladen, wo wir uns mit der internationalen Gemeinschaft verpflichtet haben, den Aufnahmegemeinden und den Flüchtlingen besser und nachhaltiger zu helfen.

Einerseits beklagen wir einen Anschlag auf die Werte der menschlichen Zivilisation durch den IS. Andererseits fällt die internationale Reaktion zögerlich aus. Das ist doch ein Missverhältnis.

Länge und Brutalität des syrischen Bürgerkriegs sind auch daraus zu erklären, dass so viele nicht-syrische Kräfte mit unterschiedlichen Zielen ihre Hände im Spiel haben. Diese Entwicklung lässt sich nicht in kurzer Zeit zurückdrehen. Leider hat erst der Export des islamistischen Terrors über Syriens Grenzen zu größerer Bereitschaft in der Region geführt, eine Allianz gegen den sogenannten Islamischen Staat zu schmieden. Am Ende wird die Auseinandersetzung auch nicht ausschließlich militärisch zu lösen sein. Gerade auch die arabischen Nachbarstaaten haben jetzt Verantwortung übernommen. Das wird entscheidend sein, wenn es gelingen soll, ISIS den politischen Nährboden zu entziehen und die Abwehrkräfte gegen die Ideologie von Hass und Terror zu stärken. Und es wird darauf ankommen, ob jetzt in der Region, auch in Teheran, die Bereitschaft wächst, ernsthaft über eine politische Lösung zu verhandeln.

So wie der Kampf bisher geführt wird, mit Luftschlägen und der Hoffnung auf die kurdischen Kämpfer, kann man die IS-Terroristen höchsten stoppen, nicht schlagen.

Es sind sich doch alle einig, dass Luftschläge allein nicht helfen. Es braucht auch Kräfte am Boden, die in der Lage sind, ISIS aus den Städten und Dörfern zu vertreiben, wo sie sich festgesetzt haben, und dort wieder die Kontrolle zu übernehmen. Die kurdischen Peschmerga haben gezeigt, dass sie dazu in ihrem Einflussgebiet bereit sind. Und ich hoffe, dass mit der Neubildung der irakischen Zentralregierung unter Wiedereinbeziehung der Sunniten auch die irakische Armee wieder ermutigt wird, gegen ISIS vorzugehen. Die Terrormiliz ist im Irak deshalb stark, weil die von den Vorgänger-Regierungen diskriminierten Sunniten sich ihnen zahlreich angeschlossen haben. Sie zurückzugewinnen ist Aufgabe der gegenwärtigen irakischen Regierung. Das wird für den Erfolg letztlich ebenso wichtig sein wie das Militärische.

Warum macht Deutschland bei den Luftschlägen nicht mit?

Es ist doch völliger Unsinn, sich bei zwölf Nationen, die gegenwärtig Luftschläge führen, als dreizehnter Staat einzureihen. Es muss eine sinnvolle Arbeitsteilung geben. Deutschland hat früh Verantwortung dafür übernommen, die kurdischen Sicherheitskräfte zu unterstützen, die sich ISIS im Nordirak mutig entgegengestellt haben. Dort scheint es gelungen zu sein, den Vormarsch aufzuhalten und ISIS zumindest an einigen Stellen auch zurückzudrängen. Auch Dank dieser Arbeitsteilung sind jetzt einige der kurdischen Kräfte überhaupt in der Lage, bei der Verteidigung von Kobane auszuhelfen. Dass es – bei aller Vorsicht in der Bewertung - nach den politischen Fortschritten im Irak auch erste militärische Erfolge gegen ISIS gibt, ist wichtig, weil es am Nimbus der Unbesiegbarkeit kratzt, den die Terroristen in ihrer Propaganda pflegen.

Interview: Norbert Wallet. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Redakteurs.

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