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Keynote-Speech von Staatsminister Michael Roth beim Deutschen Forum Sicherheitspolitik: „Europas Stabilität – Deutschlands Sicherheit“ in der Bundesakademie für Sicherheitspolitik
Sehr geehrte Damen und Herren,
europäische und deutsche Außen- und Sicherheitspolitik stehen in diesen Tagen vor gewaltigen Bewährungsproben. Ich will mich hier sämtlicher Superlative enthalten. Aber fest steht: Wir haben es momentan mit einer Krisendynamik zu tun, die in ihrer Dichte und geographischen Ausbreitung eine neue Qualität darstellt.
Die aktuellen Krisenherde sind Ihnen bekannt: Die Ebola-Epidemie in Westafrika ist mit weit über zweitausend Toten nicht nur eine humanitäre Katastrophe. Die rasante Verbreitung des Virus bedroht mittlerweile auch den Frieden und die Sicherheit in der ganzen Region. Die in den vergangenen Jahren erreichten Fortschritte drohen auf einen Schlag zerstört zu werden.
Die Bürgerkriege im Irak und in Syrien und das brutale Vorgehen der Terrorgruppe IS bringen nicht nur unermessliches menschliches Leid mit sich. Die kriegsbedingte Verelendung der Menschen, die Zerrüttung der Gesellschaften, die Flüchtlingsströme und der Einsatz so genannter „foreign fighters“ bergen Risiken einer langfristigen Radikalisierung – mit bedrohlichen Auswirkungen für die gesamte Region aber auch bis tief in unsere Gesellschaften in Europa.
Vor allem aber steht die europäische Friedensordnung der letzten 25 Jahre durch das völkerrechtswidrige und durch nichts zu rechtfertigende Vorgehen Russlands in den vergangenen Monaten auf dem Spiel. Die Ukraine-Krise war mitnichten ein „Betriebsunfall“. Sie stellt eine Zäsur dar für unser Verhältnis zu Russland – und wir müssen in der EU und in der NATO gemeinsam Antworten auf diese veränderte Situation finden.
Die Zuspitzung der Krisen in unserer unmittelbaren Nachbarschaft zeigt: Die Notwendigkeit, sich über sicherheitspolitische Themen auszutauschen, ist größer denn je! Allen Unkenrufen zum Trotz ist das Thema Sicherheitspolitik wieder in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen. Die Menschen spüren, dass die Sicherung von Frieden und Stabilität eine fortwährende Aufgabe ist. Sicherheitspolitik ist aktive Friedenspolitik! Und deswegen brauchen wir auch einen umfassenden sicherheitspolitischen Ansatz, der weit über militärische Maßnahmen hinausgeht. Deutschland und die EU engagieren sich daher in vielerlei Hinsicht – in erster Linie diplomatisch-politisch oder mit humanitärer, entwicklungspolitischer und wirtschaftlicher Unterstützung.
Ich bin vor diesem Hintergrund sehr dankbar, heute im Rahmen des „Deutschen Forum Sicherheitspolitik“ zu Ihnen sprechen zu dürfen. Der so genannte „Review-Prozess“, den das Auswärtige Amt vor einigen Monaten gestartet hat, will Beiträge zur Weiterentwicklung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik liefern. Von der heutigen Veranstaltung erhoffe ich mir wichtige Impulse für die aktuelle Diskussion. Deshalb freue ich mich darauf, heute mit Ihnen ins Gespräch zu kommen.
in der Vielzahl der aktuellen Krisen kommt der Ukraine-Krise ohne Zweifel eine zentrale Bedeutung zu. Selten hat es einen internationalen Konflikt gegeben, in dem die Bundesregierung so intensiv um eine diplomatische Lösung gerungen hat. Es kann nicht sein, dass fast 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa wieder Grenzen gewaltsam verschoben werden. Wir können nicht akzeptieren, dass Russland die europäische Friedensordnung massiv beschädigt, grundlegende Prinzipien des Völkerrechts in Frage stellt und Europa damit an den Rand einer neuen Spaltung führt.
Wir haben deshalb die völkerrechtswidrige Annexion der Krim ebenso wie das russische Vorgehen in der Ost-Ukraine von Beginn an mit Nachdruck verurteilt. EU und NATO haben sofort und geschlossen reagiert. Nicht zuletzt das einige Vorgehen der EU – einschließlich der zunehmende wirtschaftliche Druck auf Russland durch die vereinbarten Sanktionen – hat dazu beigetragen, dass mit der in Minsk am 5. September vereinbarten Waffenruhe und der Waffenstillstandsvereinbarung vom 19. September die Eskalationsspirale im Ukraine-Konflikt vorläufig gestoppt werden konnte.
Die Gefahr einer erneuten Eskalation der Krise ist jedoch noch nicht gebannt. Der Waffenstillstand in der Ostukraine ist fragil und kann jederzeit brechen. Jetzt geht es darum, dass wir mit Nachdruck weiter an einer politischen Lösung arbeiten. Viele praktische Fragen sind noch offen: der künftige Status des Donbass, der vollständige Abzug russischer Truppen und eine effektive Sicherung der russisch-ukrainischen Grenze unter Beobachtung der OSZE. Der OSZE wird im weiteren Prozess eine wichtige stabilisierende und deeskalierende Rolle zukommen, die wir nachdrücklich unterstützen. Ebenso prüft die Bundesregierung derzeit, wie sie die Überwachung des Waffenstillstands in der Ostukraine ganz konkret unterstützen kann.
Die Ukraine hat durch die Verabschiedung der Gesetzesvorhaben zum „Sonderstatus“ im Donbass und zur Amnestie gezeigt, dass sie zur Umsetzung der getroffenen Vereinbarungen bereit ist. Jetzt erwarten wir, dass auch Russland als Mit-Unterzeichner der Minsker Vereinbarung endlich seinen Einfluss nutzt, diese vollständig umzusetzen. Dies betrifft insbesondere die Sicherung und Überwachung der ukrainisch-russischen Grenze.
Der Verlauf der Krise hat gezeigt, dass Russland nicht davor zurückschreckt, ein komplexes Instrumentarium bestehend aus militärischer Gewalt, verdeckten Operationen, Propaganda und Desinformation sowie der Instrumentalisierung russischer Minderheiten im Ausland einzusetzen. Das NATO-Stichwort hierfür lautet „hybride Kriegsführung“. Auf dieses russische Vorgehen müssen wir gemeinsame Antworten innerhalb der EU und der NATO finden – das wird sicher eine der größten sicherheitspolitischen Aufgaben der kommenden Monate sein. Viele gemeinsame Schritte haben wir in den vergangenen Wochen und Monaten bereits auf den Weg gebracht.
Insbesondere bei unseren ost- und mitteleuropäischen Bündnispartnern ist die Verunsicherung groß. Ich kann die Sorgen der Polen und Balten um ihre eigene Sicherheit gut verstehen – gerade vor dem Hintergrund ihrer ganz eigenen Erfahrungen mit jahrzehntelanger russischer Fremdherrschaft und Unterdrückung. Entsprechend emotional haben diese Staaten im Vorfeld des NATO-Gipfels in Wales Anfang September für eine möglichst starke Präsenz des Bündnisses in ihren Ländern geworben. Sie haben eingefordert, dass sich die NATO wieder auf ihre Kernaufgabe der kollektiven Verteidigung zurückbesinnt.
Die NATO wird in den kommenden Monaten ihre Reaktions- und Einsatzbereitschaft deutlich erhöhen. Planerisch, logistisch und durch intensivierte Übungstätigkeit schaffen wir die Voraussetzungen für eine rasche Verlegung größerer Verbände für den Fall der Fälle. Wir hoffen alle, dass dieser Fall niemals eintreten wird, aber wir müssen darauf vorbereitet sein.
Die konkrete Ausgestaltung und Umsetzung der Beschlüsse von Wales wird uns in den kommenden Monaten weiter beschäftigen. Deutschland wird einen substantiellen Beitrag leisten – sowohl bei den so genannten „Rückversicherungsmaßnahmen“ als auch durch Beiträge zur neuen schnellen Eingreiftruppe.
Die Entwicklungen der vergangenen Monate haben gezeigt: Russland hat grundsätzliche Schwierigkeiten mit der Politik der EU und der NATO in seiner unmittelbaren Nachbarschaft. Und das trotz aller Angebote der Einbindung und Zusammenarbeit: Die Erweiterung der G7 zur G8, die Etablierung des NATO-Russland-Rates und das langfristige Projekt einer Freihandelszone von Lissabon bis Wladiwostok haben daran offensichtlich ebenso wenig etwas geändert wie das Angebot einer engen EU-Russland-Kooperation. Bei aller notwendigen Selbstkritik: vor diesem Hintergrund vermag ich substanzielle Fehler der EU nicht festzustellen.
Deshalb gilt: Je aktiver wir dem gestiegenen Schutzbedürfnis unserer Bündnispartner nachkommen, desto mehr müssen wir auch vertrauensbildende Signale in Richtung Russland senden. Denn trotz aller Differenzen werden wir Russland künftig nicht einfach ignorieren können. Russland wird unser Nachbar bleiben! Auch wenn die aktuelle Lage es erschwert: Wir haben ein großes Interesse daran, dass Russland nicht nur unser geographischer Nachbar ist, sondern dass wir mittelfristig auch wieder strategische Partner werden.
Die EU hat über viele Jahre den Abschluss eines neuen Partnerschaftsabkommens mit Russland vorangetrieben. Auch im Rahmen der Östlichen Partnerschaft, deren Inhalte über viele Jahre verhandelt wurden, standen und stehen Russland alle Türen offen. Das Projekt der Östlichen Partnerschaft war niemals gegen Russland konstruiert! Wir können dafür sorgen, dass unsere Türen offen stehen und Russland einladen. Klar ist aber auch: Den Schritt über die Türschwelle muss Russland letztlich selbst gehen.
Und auch in der Verteidigungspolitik brauchen wir vertrauensbildende Maßnahmen: Deshalb haben wir in Wales ganz bewusst die NATO-Russland-Grundakte nicht in Frage gestellt. Wir haben uns ausdrücklich dagegen entschieden, dauerhaft Kampftruppen im östlichen Bündnisgebiet zu stationieren.
Stattdessen haben wir bekräftigt, dass in unseren Augen eine Partnerschaft mit Russland, die sich auf dem Respekt des Völkerrechts gründet, weiter von strategischem Wert ist.
Denn allen Beteiligten ist klar: Eine stabile europäische Sicherheitsordnung ohne oder gegen Russland ist kaum vorstellbar. Insofern werden wir unser Handeln in den kommenden Monaten an den folgenden Leitfragen ausrichten:
- Wie können wir dazu beitragen, eine neue Eskalationsspirale mit Russland zu verhindern? Wird es uns gelingen, ungeachtet der derzeitigen Verhärtungen rüstungskontrollpolitische Regime zu retten bzw. an die veränderten Rahmenbedingungen anzupassen? Niemand hat Interesse an einem neuen Wettrüsten zwischen Ost und West!
- Wie verhindern wir eine dauerhafte Auseinandersetzung um rote Linien in den Ländern, die Russland zu seinem Einflussbereich zählt, ohne unsere eigenen Prinzipien in Frage zu stellen – etwa der demokratischen Willensbildung und der freien Bündniswahl souveräner Staaten? Diese Frage wird uns weiter beschäftigen im Zusammenhang mit den Assoziierungsabkommen der EU mit Moldawien und Georgien.
- Wie erhalten wir uns in internationalen Fragen das notwendige Maß an Kooperation mit Russland? Auch wenn der Dialog schwieriger geworden ist: Bislang hat Russland davon abgesehen, die Zusammenarbeit bei Dossiers wie der Iran-Frage oder Afghanistan aufzukündigen. Ebenso können wir es uns gerade in diesen turbulenten Zeiten nicht erlauben, dass der UN-Sicherheitsrat mittelfristig als Ort der Konfliktlösung ausfällt.
Die Krisen dieser Welt sind näher an Europa herangerückt. Das bedeutet aber im Umkehrschluss auch: Die Europäische Union kann sich bei diesen Konflikten nicht einfach wegducken und raushalten. Die EU wird sich künftig noch stärker als bisher außen- und sicherheitspolitisch einbringen müssen – auch deshalb, weil sich die USA mit ihrem internationalen Engagement mehr und mehr zurücknehmen.
Das kann nur gelingen, wenn sich die EU auch künftig nicht spalten lässt, nach außen mit einer Stimme spricht und geschlossen handelt. Deutschland kommt dabei eine wichtige ausgleichende Rolle zu.
Für die künftige Gestaltung der europäischen Sicherheit brauchen wir eine Europäische Union, die ihrer gewachsenen außen- und sicherheitspolitischen Verantwortung noch besser gerecht wird. Die Gelegenheit ist günstig dafür, dass die EU in ihrem Außenhandeln noch effektiver wird: Eine zentrale Aufgabe der neuen Hohen Vertreterin der EU, Federica Mogherini, wird es sein, die Politik der im Bereich des Außenhandelns tätigen Kommissare zu koordinieren. Die Ankündigung von Kommissionspräsident Juncker, Frau Mogherini diese Koordinierung im so genannten „external affairs cluster“ zu überlassen, ist ein großer Fortschritt. Ihre Stellung als Vize-Präsidentin der Kommission wird auch zu einer effektiveren Umsetzung des umfassenden Ansatzes, also der optimalen Anwendung aller außenpolitischen Instrumente, führen.
Auch bei der europäischen Nachbarschaftspolitik stehen wir vor einem Neubeginn. Gemeinsam mit Polen und Frankreich hat sich Deutschland für eine grundlegende Reform der Nachbarschaftspolitik ausgesprochen. Es geht darum, unseren Instrumentenkasten – von der Sicherheitspolitik über Entwicklungshilfe und Handelsabkommen bis hin zur Zusammenarbeit in Fragen von Bildung, Migration und Rechtsstaatlichkeit – selbstkritisch zu überprüfen. Unsere Nachbarn sind sehr unterschiedlich, ein einseitiger Ansatz nach dem Motto „One size fits all“ ist also zum Scheitern verurteilt. Wir müssen unseren Ansatz daher noch stärker auf die individuellen Bedürfnisse der einzelnen Länder abstimmen.
Trotz gestiegener Hoffnungen in die außenpolitische Handlungsfähigkeit der EU ist klar: Die EU wird die außen- und sicherheitspolitischen Bewährungsproben der Gegenwart und Zukunft nicht alleine bewältigen können.
Die USA sind und bleiben dabei unser wichtigster Partner, trotz aller Auseinandersetzungen und Unterschiede der vergangenen Monate. Mit ihnen verbindet uns eine Beziehung, die mehr ist als eine punktuelle Interessengemeinschaft ist. Wir arbeiten in einer Vielzahl außen- und sicherheitspolitischer Schlüsselthemen eng und vertrauensvoll zusammen. Wir bilden mit den USA eine Wertegemeinschaft, die sich weltweit für die Einhaltung von Menschenrechten und mehr Rechtsstaatlichkeit und Demokratie einsetzt.
Eine europäische Sicherheitsarchitektur, die nicht auch transatlantisch verankert ist, wird heutigen wie zukünftigen Krisen nicht standhalten. Gerade in Krisenzeiten wie diesen zeigt sich der Wert unserer Partnerschaft mit den USA. Der NATO-Gipfel in Wales Anfang September hat dies erneut eindrucksvoll unterstrichen. Manche bezeichnen den russischen Präsidenten Putin ironisch sogar als „Erneuerer des Westens“, da wir uns gerade in der gemeinsamen Reaktion auf die Ukraine-Krise noch einmal der transatlantischen Wertegemeinschaft vergewissern konnten.
Gleichzeitig fordern die USA in der Sicherheitspolitik mehr europäische Lastenteilung. Wir Europäer werden uns nicht darauf verlassen können, dass die USA ihren Sicherheitsschirm auf alle Zeiten den Wohlstandsgesellschaften in Europa zur Verfügung stellen. Diese Debatte hat in Washington durch eigene schmerzhafte Budgeteinschnitte und die Konzentration auf „nation building at home“ eine völlig neue Dimension erfahren. Die Frage ist heute daher nicht mehr, ob Europa stärkere sicherheitspolitische Verantwortung übernimmt, sondern in welcher Art und Weise wir diese Aufgabe bilateral, aber vor allem auch in der EU, der OSZE und der NATO angehen.
„Die Welt ist aus den Fugen“, so hat es unser Außenminister Frank-Walter Steinmeier kürzlich im Deutschen Bundestag formuliert, und ich glaube, er hat damit die Gefühle vieler unserer Landleute und auch vieler Europäer und Menschen weltweit auf den Punkt gebracht.
Ich bin jedoch zugleich überzeugt: Deutschland ist im Verbund mit seinen Partnern in Europa und in der NATO gut aufgestellt ist, um dazu beizutragen, die großen außen- und sicherheitspolitischen Bewährungsproben unserer Zeit zu meistern und die Welt wieder „einzurenken“.