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„Wir müssen verhindern, dass in Irak ein Stellvertreterkrieg regionaler Mächte ausbricht“
Außenminister Frank-Walter Steinmeier im Interview über die Geländegewinne der Isis-Miliz im Irak und was sie für den Abzug der Bundeswehr vom Hindukusch bedeuten. Außerdem spricht der Außenminister über die Suche nach einem neuen EU-Kommissionspräsidenten. Erschienen in der Welt am Sonntag (15.06.2014).
Außenminister Frank-Walter Steinmeier im Interview über die Geländegewinne der Isis-Miliz im Irak und was sie für den Abzug der Bundeswehr vom Hindukusch bedeuten. Außerdem spricht der Außenminister über die Suche nach einem neuen EU-Kommissionspräsidenten. Erschienen in der Welt am Sonntag (15.06.2014).
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Herr Steinmeier, die islamistische Isis-Miliz erobert im Irak eine Stadt nach der anderen, tötet Soldaten, Polizisten, Zivilisten. Wie gefährlich ist diese Entwicklung?
Hochgefährlich. Es droht eine weitere Destabilisierung der gesamten Region. Die Isis wandelt sich von einer terroristischen in eine militärische Organisation, die ihren Aktionsradius ausweitet und auch großflächigere Operationen ausführen kann. Das bedroht den Zusammenhalt des Irak, es gefährdet auch die Nachbarstaaten – nicht zuletzt durch wachsende Flüchtlingsströme.
Wer kann die Kämpfer, die sich von al-Qaida abgespaltet haben, aufhalten?
Das ist die Aufgabe der irakischen Sicherheitskräfte. Viel wird davon abhängen, ob Isis ihre Operationen im Wesentlichen auf den sunnitisch besiedelten Teil des Iraks beschränkt oder in die kurdischen und schiitischen Gebiete ausgreift. Die Kämpfer sind nahe an Bagdad herangerückt. Dort wird der Widerstand gegen Isis viel größer sein. Der Erosion zentralstaatlicher Hoheitsgewalt des Irak zu begegnen gelingt nur dann, wenn in Bagdad schiitische, sunnitische und kurdische Interessen unter einen Hut gebracht werden. Da ist manches versäumt worden in den letzten Jahren. Der Druck aus der Bedrohung durch Isis verändert die politische Lage natürlich stark. Ich denke, dass man sich nichts vormachen darf: Nach den Flächengewinnen der Isis ist das nicht einfacher geworden.
Welche Regierung sollte jetzt in die Verantwortung gehen? Washington? Teheran?
Wir müssen verhindern, dass jetzt auch noch auf irakischem Boden ein Stellvertreterkrieg der regionalen Mächte ausbricht. Alle Nachbarn – Saudi-Arabien, die Golfstaaten, die Türkei, übrigens auch der Iran – können kein Interesse daran haben, dass sich jenseits von Syrien in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft ein riesiger herrschaftsloser Raum entwickelt, der zum Tummelplatz für Söldnergruppen, Islamisten jedweder Couleur und Terroristen wird. Der Irak darf nicht zu einem ständigen Gefahrenherd für den Nahen und Mittleren Osten werden.
Was kann Deutschland leisten?
Wir haben seit 2003 eine ganze Menge in die Entwicklungen im Irak investiert. Deutschland unterhält tragfähige Beziehungen zu allen Staaten der Region. Aber wir sollten den möglichen deutschen Beitrag nicht überschätzen.
Schließen Sie aus, dass deutsche Soldaten mithelfen werden, den Irak zu stabilisieren?
Ich kann mir keine Konstellation vorstellen, in der deutsche Soldaten dort zum Einsatz kommen.
Der Nato-Partner Türkei, den Isis ebenfalls ins Visier genommen hat, könnte den Bündnisfall auslösen...
Die Entführung von türkischen Diplomaten in Mossul ist ein Tabubruch, den wir auf das Schärfste verurteilen. Ich kann aber nicht erkennen, dass sich Isis einen Angriff auf türkisches Hoheitsgebiet vorgenommen hätte. Jedenfalls hat die Türkei keinerlei Erwartungen an die Nato gerichtet.
Kommentatoren geben gern den Vereinigten Staaten die Schuld an der Entwicklung im Irak. Die einen beklagen die Intervention, die anderen den Abzug ...
Die Geschichte hält – wie meistens – keine eindeutigen Antworten bereit. Anteile an Fehlentwicklungen im Nahen Osten, auch von außen, lassen sich auf viele Schultern verteilen, kluge Analysen dazu füllen Bibliotheken. Aber das hilft nicht weiter. Es ist das Unvermögen der Zentralregierung in Bagdad, durch die Einbindung unterschiedlicher Landesteile, Bevölkerungsgruppen und Religionen die Stabilität des ganzen Landes zu fördern. Und das in Jahren, in denen internationale Hilfen reichlich geflossen sind. Deutschland hat in den vergangenen zehn Jahren insgesamt 400 Millionen Euro bereitgestellt, andere Länder noch mehr. Die internationale Hilfe ist nicht ausreichend zur Herstellung politischer und wirtschaftlicher Stabilität eingesetzt worden.
Droht in Afghanistan ein ähnliches Szenario?
Das lässt sich doch nicht vergleichen. Selbstverständlich ist nicht alles gut in Afghanistan. Es gibt viele und große Unzulänglichkeiten in der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung. Natürlich ist Afghanistan nicht über den Berg. Wir wären alle gern weiter. Aber wir sollten auch Veränderungen zum Besseren wahrnehmen. Es ist doch ermutigend, dass in Afghanistan gerade eine Präsidentschaftswahl stattfindet. Der erste Wahlgang ist gelungen. Es ist gut, dass so viele Menschen auch in der Stichwahl zu den Urnen gegangen sind. Neu ist: Die politische Macht in Afghanistan wird nicht mittels Gewalt und Krieg an sich gerissen oder per Erbfolge geregelt, sondern von den Wählern entschieden. In der Stichwahl stehen zwei Kandidaten zur Wahl, die über die Grenzen ihres Landes hinaus Anerkennung finden. Beiden kann man zutrauen, dass sie die sicher nicht einfache Übergangszeit nach dem Ende des Isaf-Einsatzes hinbekommen.
Bleibt es beim Fahrplan für den Abzug der Bundeswehr vom Hindukusch?
Der Abzugsfahrplan steht. Die Planungen für unser Engagement ab 2015 laufen. Es ist gut, dass die Amerikaner jetzt auch ihre Pläne für die Zeit nach Abzug unserer Kampftruppen vorgestellt haben. Gemeinsam mit unseren Partnern treffen wir alle notwendigen Entscheidungen dann, wenn alle Vorfragen geklärt sind. Dazu gehört auch der rechtliche Status unserer Soldaten in der Folgemission „Resolute Support“. Beide Kandidaten für das Präsidentenamt stehen im Wort, hier gleich nach Amtsantritt zu handeln.
Der scheidende afghanische Präsident Karsai wurde als Bürgermeister von Kabul verspottet, weil sein Einfluss nicht über die Hauptstadt hinausreiche. Bundeskanzlerin Merkel hingegen wird als mächtigste Frau der Welt apostrophiert. Ist beides übertrieben?
Vor allem sollten wir uns selbst vor jeder Überheblichkeit schützen! Es stimmt: Deutschland hat in den letzten zwölf Jahren einen Weg vom sprichwörtlichen kranken Mann Europas zu einem politischen Stabilitätsanker und wirtschaftlichem Zugpferd zurückgelegt, der uns viel Respekt verschafft hat. Wer an der Spitze einer deutschen Regierung steht, repräsentiert diese Stärke. Deshalb hat die Kanzlerin Einfluss und Prägekraft über die deutsche Politik hinaus.
Gelingt es Angela Merkel denn, Jean-Claude Juncker als Präsidenten der EU-Kommission durchzusetzen?
Wir sollten nicht zu ungeduldig sein. Ich jedenfalls habe nicht erwartet, dass wir uns in der Woche nach den Wahlen zum Europäischen Parlament über ein komplexes Tableau von Spitzenpersonalien verständigen würden. Es geht ja nicht nur um Juncker und den Posten des Präsidenten der Europäischen Kommission, sondern um die gesamte Architektur eines großen Personalpakets. Neben der persönlichen Eignung geht es auch um politische Kräfteverhältnisse: zwischen den Parteienfamilien, zwischen großen und kleinen Staaten, zwischen Nord und Süd, zwischen Staaten mit und ohne gemeinsame Währung, zwischen Frauen und Männern…
Kämpft Merkel wirklich für den früheren luxemburgischen Ministerpräsidenten?
Am besten fragen Sie sie selbst! Für mich gilt: Beide großen europäischen Parteienfamilien haben in demokratischem Selbstbewusstsein die Verabredung getroffen, dass der Spitzenkandidat der stärksten Partei auch das Spitzenamt der Europäischen Kommission bekommen soll. Das ist die Richtschnur. Jetzt laufen die Gespräche.
Will Juncker überhaupt noch Kommissionspräsident werden?
Auch diese Frage sollten Sie besser nicht an mich, sondern an Jean-Claude Juncker richten. Ich habe keine Anzeichen von Unlust oder Rückzug entdecken können.
Wie viel Rücksicht muss in solchen Fragen auf Großbritannien genommen werden?
Es geht um wichtige Fragen, es geht um ein politisches Programm für die wichtigen nächsten fünf Jahre, in denen Europa aus dem wirtschaftlichen Tal kommen muss und wir eine politische Krise als Folge der wirtschaftlichen Probleme in einigen Ländern zu verhindern haben. Niemand sollte wegen aktueller Schwierigkeiten bei der Verständigung auf ein europäisches Personaltableau auf die Idee kommen, dass man einfach so auf Großbritannien verzichten könnte oder gar sollte. Eine Europäische Union ohne Großbritannien wäre eine andere – und sie wäre nach meiner festen Überzeugung keine bessere!
In der CDU mehren sich Stimmen für eine zweite Amtszeit von Günther Oettinger in der EU-Kommission. Sperrt sich die SPD dagegen?
Warum sollte ich an der Qualifikation von Günther Oettinger herummäkeln? In letzter Zeit, während der Ukraine-Krise, haben wir viel miteinander zu tun. Aber die Besetzung wichtiger Ämter in Europa kann nicht ohne Sozialdemokraten laufen, und wir haben Erwartungen!
Wäre der sozialistische Spitzenkandidat Martin Schulz ein guter europäischer Außenminister?
Martin Schulz ist zweifellos eine hervorragende Besetzung für europäische Spitzenämter.
Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Welt am Sonntag.