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Ukraine: „Ich kann die Angst verstehen“
Außenminister Frank-Walter Steinmeier im Interview über die aktuelle Lage in der Ukraine. Erschienen im Spiegel 18/2014.
Außenminister Frank-Walter Steinmeier im Interview über die aktuelle Lage in der Ukraine. Erschienen im Spiegel 18/2014.
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Herr Minister, können Sie es verstehen, wenn jemand in diesen Tagen Angst vor einem Krieg mit Russland hat?
Wir alle spüren doch, dass die Ereignisse der letzten Monate zu einem Bruch, zu einer Wegscheide für Europa werden können. Dass das den Menschen Angst macht, kann ich gut verstehen. Niemand hat vorhersehen können, wie schnell wir in die schwerste Krise seit dem Ende des Kalten Krieges geschlittert sind. Wer sich an die Zeit vor dem Fall der Mauer erinnert, der weiß, was wir in den letzten 25 Jahren erreicht haben. Dieser Zugewinn an Frieden, Freiheit und Wohlstand nahezu überall in Europa steht nun auf dem Spiel. Deshalb ist es auch jeden Einsatz wert, Schlimmeres zu verhindern.
Eine militärische Eskalation zwischen Ost und West in Europa galt lange Zeit als ausgeschlossen. Muss man sich nun von dieser Gewissheit verabschieden?
An eine militärische Eskalation zwischen West und Ost will ich nicht denken, aber eines ist klar: Wenn jetzt die falschen Entscheidungen getroffen werden, könnte jahrzehntelange Arbeit für Frieden und Sicherheit in Europa dahin sein. Das kann niemand ernsthaft wollen, der bei vollem Verstand ist. Denn den Preis würden wir in Europa bezahlen, und zwar alle, ausnahmslos.
Spielt die russische Führung mit dem Feuer?
Jedenfalls ist es ein gefährliches Spiel mit potentiell dramatischen Folgen, gerade für Russland selber. Schon jetzt fällen die Finanzmärkte ihr Urteil: Moskauer Aktien und Anleihen sind stark gefallen, Wachstumsaussichten passé, offenbar jubeln viele Russen ihrer Führung zu und ziehen gleichzeitig in bislang ungekanntem Ausmaß ihr Kapital aus Russland ab. Mal ganz abgesehen von Investitionen aus dem Ausland, die das Land für seine Modernisierung so dringend braucht. Dem nationalistischen Überschwang kann schnell der Kater folgen.
Warum ist die Lage in der Ostukraine so undurchsichtig, so chaotisch?
Die Ukraine hat 1991 eine schwierige Erbschaft in ihre Unabhängigkeit mitgenommen. An der Grenze zwischen Ost und West, mit Landesteilen ganz unterschiedlicher Geschichte, mit einer ganzen Fülle ungelöster ethnischer, religiöser, sozialer und wirtschaftlicher Konflikte. Es überrascht mich nicht, dass das aufbricht, wenn der Druck im Kessel zu stark wird. Jetzt in der Krise gibt es Akteure vor Ort, die uns über ihre wirklichen Motive und Taten im Ungewissen lassen, manche spielen auch mit gezinkten Karten.
Haben Sie eine Vorstellung, worauf Wladimir Putin kurz- wie langfristig hinauswill?
Ob es im Kreml einen Masterplan gibt oder die russische Führung letztlich auf Sicht fährt, sei dahingestellt. Klar scheint mir aber, dass Präsident Janukowitschs panikartige Flucht aus Kiew am 21. Februar in Moskau eine Handlungsdynamik ausgelöst hat, mit deren Folgen wir jetzt umgehen müssen. Dass es – zumindest kurzfristig – in Russland ja durchaus viel Zustimmung für diesen Kurs gibt, kommt dabei komplizierend dazu.
Wären die Bundesregierung und die Nato gut beraten, ihre strategische Verteidigungsplanung und ihre Rüstungsschwerpunkte noch mal zu überdenken?
Für den Konflikt in der Ukraine gibt es keine militärische Lösung. Auch wenn das mitunter frustrierend ist: Ich bin fest davon überzeugt, dass uns nur beharrliche diplomatische Arbeit überhaupt einer Lösung näherbringen kann. Deshalb setze ich mich mit aller Kraft dafür ein, dass die OSZE eine Chance bekommt, ihren Auftrag aus der Genfer Vereinbarung auch zu erfüllen. Aber das schließt nicht aus, ja es ist ein Ding der Selbstverständlichkeit, dass wir auch im Nato-Bündnis die letzten Entwicklungen in unsere gemeinsamen Planungen einfließen lassen. Das war ja schon der Auftrag der Außenminister auf dem jüngsten Nato-Rat. Und das wird jetzt auch umgesetzt.
Werden eher die Europäer oder eher die Amerikaner geopolitisch gestärkt aus dem gegenwärtigen Konflikt hervorgehen?
Ich habe leider keine Kristallkugel. Aber ich warne davor, nun mitten in der Krise mit Konzepten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nach Siegern und Verlierern zu suchen. Einflusssphären, geopolitische Räume, Hegemonie, Dominanzstreben … das alles sind keine Kategorien unserer Außenpolitik, auch wenn wir gut beraten sind, das Denken anderer in solchen Mustern in unser Kalkül einzubeziehen. Wer heutzutage glaubt, mit den Mitteln des Krieges Siege davontragen zu können, die auch Bestand haben, dem sollte ein Blick in die Geschichtsbücher Europas reichen, um eines Besseren belehrt zu werden.
Interview: Nikolaus Blome. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Spiegel.
www.spiegel.de/