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„Wir leben in historischen Zeiten“
Außenminister Guido Westerwelle zum mutmaßlichen Einsatz von Giftgas in Syrien, zu den Umbrüchen in der arabischen Welt und zur Verschärfung der homosexuellenfeindlichen Gesetzgebung in Russland. Erschienen im Südkurier vom 27.08.13.
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Herr Westerwelle, kurz bevor wir hier in Stockach sitzen, werden in Syrien Menschen mutmaßlich mit Giftgas getötet, in Ägypten sind die Leichenhäuser überfüllt. Was ist los in der arabischen Welt?
Wir leben in einer Zeit historischer Umbrüche. Das sind die ersten Minuten einer historischen Stunde. Leider auch mit großen Gefahren für den Frieden und die Stabilität der Region und damit auch für uns in Europa. Denn das ist unsere Nachbarschaft.
Das heißt, Deutschland kann nicht nur mahnen und warnen. Aber welche Möglichkeiten haben wir?
Man darf die Kraft des Wortes und des Dialoges nicht unterschätzen. Das Wort ist immer noch das wichtigste Mittel der Außenpolitik und der Diplomatie. Selbst wenn unser Einfluss begrenzt ist – und das ist er wenn wir an die Gewalt in Ägypten denken –, so ist es doch richtig, nichts unversucht zu lassen. Die Tatsache, dass sich die Europäer darauf verständigt haben, nicht nur alle Projekte der Zusammenarbeit auf den Prüfstand zu stellen, sondern auch die Lieferung von Gütern zu suspendieren, die für die Repressionen im Land eingesetzt werden können, zeigt, dass wir nicht nur reden, sondern auch entschlossen handeln.
Wie ist die Stimmung, wenn Sie in dieser Sache mit Ihren EU-Außenministerkollegen zusammentreffen? Wie spürbar ist die Hilflosigkeit?
Alle machen sich Sorgen. Und wenn wir an die schrecklichen Bilder aus Syrien denken, ist das nicht nur politische Sorge, sondern es ist auch echte Anteilnahme und oftmals tiefstes Entsetzen über das, was wir dort an Brutalität verfolgen müssen. Der Einsatz von chemischen Massenvernichtungswaffen wäre ein zivilisatorisches Verbrechen. Wenn sich ein solcher Einsatz bestätigen sollte, muss die Weltgemeinschaft handeln. Dann wird Deutschland zu denjenigen gehören, die Konsequenzen für richtig halten. Hierzu stehen wir in enger Abstimmung mit den Vereinten Nationen und unseren Verbündeten.
Können Sie ausschließen, dass es zu einem militärischen Einsatz kommen wird?
Nachhaltige Stabilität wird es in Syrien nur mit einer politischen Lösung geben. Das Regime in Syrien wird unverändert von Russland unterstützt. Die blockierende Haltung Russlands und Chinas im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen war ja schon bislang eine Ursache für die mangelnden Möglichkeiten der internationalen Gemeinschaft.
Ist es genau aus diesem Grund nicht an der Zeit, das Konstrukt Sicherheitsrat neu zu ordnen? Es kann doch nicht sein, dass bei jedem Konflikt die alte Ost-West-Problematik Lösungen verhindert.
Wir werden uns an eine Weltordnung gewöhnen müssen, in der nicht der Westen alleine das Sagen hat, sondern in der viele neue Kraftzentren entstehen, die auch ihre eigenen politischen Vorstellungen einbringen. Das ist der eigentliche Grund, warum ich für eine Reform des Sicherheitsrates werbe. Nicht wegen der aktuellen Lage in Syrien und der Blockade im Sicherheitsrat, sondern weil der Sicherheitsrat in der jetzigen Zusammensetzung eher die Machtverhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg widerspiegelt, aber nicht die Welt in der wir leben.
Deutschland ist wegen seiner Enthaltung im Sicherheitsrat bei der Abstimmung über ein Eingreifen in Libyen stark in die Kritik geraten. Würden Sie heute anders handeln?
Ich wollte keine deutschen Soldaten nach Libyen schicken und genau dazu wäre es gekommen. Wir werden sehen, wie die Zeit und die Geschichte darüber richten werden.
Sie waren vor kurzem selbst in Ägypten, zuletzt auch in Tunesien. Was ist Ihr Eindruck: Ist der arabische Frühling zum arabischen Winter geworden?
Ich bin nicht der Überzeugung, dass das Wort arabischer Frühling passt – auch nicht arabischer Winter. Denn in Wahrheit erleben wir arabische Jahreszeiten. Die Lage ist von Land zu Land höchst unterschiedlich. Libyen mit Syrien zu vergleichen, wird den Realitäten in keiner Weise gerecht. In Syrien haben wir schließlich in hohem Maße auch religiöse und ethnische Konflikte, die übrigens auch in die Nachbarländer hineinwirken. Ich denke beispielsweise an die immer noch sehr schwierige Lage im Irak, die Ansteckungsgefahr in Libanon, die Destabilisierung durch die Flüchtlingswellen in Jordanien und die Spannungen an der türkischen Grenze und die Sicherheitsinteressen unseres demokratischen Verbündeten Israel.
Sie haben von einer historischen Stunde gesprochen. Wird die Uhr nicht eher wieder zurückgedreht? In Ägypten drängen die alten Mächte zurück an die Macht.
Diese Gefahr besteht. Wir senden eine klare Botschaft als Europäer: Eine Wende zurück in die Zeit vor der Revolution, sprich die Restauration eines alten, militärgestützten, autokratischen Regimes lehnen wir ab und das entspricht sicherlich auch nicht dem Willen, geschweige denn den Interessen der Menschen in Ägypten. Aber der Weg Ägyptens wird in Ägypten entschieden. Nicht in Brüssel, nicht in Washington und auch nicht in Berlin. Hier dürfen sich weder Europa noch der Westen verheben. Wir können nur helfen.
Was ist Ihr Eindruck von den Menschen? Was ist deren Triebfeder für den Umbruch? Sind das religiöse Motive, der Wunsch nach Wohlstand oder doch die Sehnsucht nach Demokratie, die wir so gerne darin sehen möchten?
Es ist von allem etwas und noch mehr. Die idealisierende Sicht der öffentlichen Diskussion im Westen habe ich nie geteilt. Ich bin begeistert gewesen vom Aufbruch auf dem Tahrir-Platz unmittelbar nach der Revolution. Aber ich habe nach meinem Besuch in Kairo vor zweieinhalb Jahren sofort gesagt: Es sollte sich niemand täuschen, die Menschen dort haben nicht nur nach demokratischer Teilhabe gerufen, sondern vielmehr nach sozialen und wirtschaftlichen Chancen. Ich rate uns dazu, die Lage in der arabischen Welt mit der nötigen Differenzierung zu bewerten.
Was meinen Sie damit?
Wir haben evolutionäre Länder von Marokko über Jordanien bis in den Oman. Wir haben Länder, die haben traumatische Zeiten erlebt wie Algerien. Und wir haben revolutionäre Entwicklungen wie in Libyen, in Tunesien und in Ägypten. Sie sehen, dass auch schon bei diesen Ländern die Entwicklung höchst unterschiedlich ist.
Das ist aus deutscher Sicht nicht immer einfach zu durchschauen.
Das liegt auch daran, dass bei uns manche Diskussionen oberflächlich sind, weil wir zu vieles gleichsetzen. Wir sprechen vom Islam und achten nicht auf die Unterschiede und Konflikte innerhalb des Islams. Wir sprechen von der arabischen Welt und sehen nicht, dass die arabische Welt kein monolithischer Block ist. Wir sprechen vom arabischen Frühling, dabei müssten doch wir als Europäer spätestens seit 1989 wissen, dass Revolutionen höchst unterschiedlich verlaufen und mitunter auch mit empfindlichen Rückschlägen verbunden sind. Wobei ich nicht einmal glaube, dass das, was derzeit in den Transformationsländern passiert, wirklich so leicht mit 1989/90 in Europa zu vergleichen ist.
Nicht nur die arabische Welt erlebt derzeit Konflikte, auch Russland geht einen Schritt zurück in der modernen Zeitrechnung, indem es Gesetze gegenüber Homosexuellen verschärft. Bei der Leichtathletik-WM in Moskau haben zwei Sportlerinnen mit lackierten Fingernägeln protestiert.
Ich ziehe meinen Hut vor diesen beiden Sportlerinnen. Ich teile die Auffassung, dass die Behandlung von Homosexuellen in Russland nicht akzeptabel ist.
Haben Sie als deutscher Außenminister eine Möglichkeit, die Menschen zu unterstützen?
Ja, das tun wir beispielsweise durch die Stärkung der Zivilgesellschaft in Russland, auch durch viele demonstrative Begegnungen mit Mitgliedern der Opposition. Und nicht zuletzt kann man sich ausmalen, dass schon bei meiner ersten Antrittspressekonferenz in Moskau die Tatsache, dass dort ein deutscher Außenminister sitzt, der mit einem Mann zusammenlebt, für manches Gespräch am Rande gesorgt hat.
Wie bekommen Sie das mit?
Das können sie häufiger beobachten, wenn ich Länder besuche, in denen Homosexualität diskriminiert oder verfolgt wird: Es ist eine Ermutigung der zivilen Gesellschaft und führt gleichzeitig auch zu munteren Diskussionen der Gastgeber und der berichtenden Medien.
Trauen die sich, Sie direkt anzusprechen?
Ja, das hat es alles schon gegeben.
Auch im Negativen?
Ich werde nie vergessen, wie der weißrussische Diktator Alexander Lukaschenko, nachdem ich ihn bei meinem Besuch gemeinsam mit dem polnischen Außenminister aufgefordert habe, die Menschenrechte zu achten und die Opposition nicht länger zu unterdrücken, später gesagt hat, er sei lieber Diktator als schwul.
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Was würden Sie im Rückblick sagen, hat Ihre Amtszeit am stärksten geprägt?
Drei Dinge: Europa und die Aufgabe, das europäische Schiff durch stürmische See zu bringen – was uns bis heute gelungen ist. Die Umbrüche in unserer südlichen Nachbarschaft, also im Norden Afrikas, im Nahen Osten und in der arabischen Welt. Und dann war da noch etwas, das wohl den wenigsten Beobachtern der Politik in diesen vier Jahren bewusst geworden ist – aber ich halte es für die größte und wichtigste Aufgabe: Wie sichern wir unser freiheitliches und wirtschaftlich erfolgreiches Lebensmodell in Zeiten, in denen ganz neue Kraftzentren entstehen, in Asien, in Lateinamerika, auch in Afrika. Wir müssen acht geben, dass uns die neue Weltordnung nicht an den Rand drängt.
Ist Ihnen während Ihrer Arbeit bewusst, dass Sie aktiv an historischen Momenten teilhaben?
Dass wir in historischen Zeiten leben und ich in diesen Zeiten die Aufgabe des Außenministers übernehme, das ist mir schon sehr bewusst. Aber meistens ist die Arbeit in diesem Amt so fordernd, dass man für Besinnungsmomente keine Zeit hat. Ich will nicht klagen, weil ich meine Aufgabe sehr gerne wahrnehme. Aber es ist schwer, sich vorzustellen, wie fordernd in unseren Zeiten das Amt des Außenministers ist. Da müssen Sie schon die Konstitution eines Pferdes haben. Denn auch Pferde können im Stehen schlafen.
Das Magazin Fokus hat Sie kürzlich zum Reisemeister unter den deutschen Außenministern erklärt: Über 300 Reisen in 107 Länder. Gab es etwas, das Sie besonders beeindruckt hat?
Ich bin in Bangladesch in einem Slum gewesen, mit soviel Armut und Not, wie wir es uns in Deutschland überhaupt nicht vorstellen können. Ich habe dort eine Schule besucht, die in Wahrheit aus einem kleinen Zimmer bestand, und eine Krankenstation, die man besser einen dürftigen Behandlungsraum nennen sollte. Dort traf ich zwei junge Frauen, vielleicht Mitte 20, die dort wie selbstverständlich ein Jahr ihres Lebens als Medizinerinnen arbeiten. Ich war selten so stolz auf mein Land. Das sind für mich die wahren Helden unserer Zeit.
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Interview: Margit Hufnagel. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Südkuriers.