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Rede: Europa und Amerika nach den US-Präsidentschaftswahlen. Wohin geht die Reise?

04.02.2013 - Rede

Der Koordinator für die transatlantische Zusammenarbeit, Harald Leibrecht (MdB), hielt am 4. Februar 2013 an der Universität Freiburg die diesjährige 'Berliner Rede'. Die Veranstaltung fand in Kooperation mit dem Carl Schurz Haus / DAI Freiburg und der Landeszentrale für politische Bildung statt.

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-- Es gilt das gesprochene Wort --


Sehr geehrter Herr Präsident,

liebe Frau Schulte,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

liebe Studentinnen und Studenten,


haben Sie vielen herzlichen Dank für Ihre freundlichen Worte. Ich freue mich sehr, dass ich heute Abend bei Ihnen in Freiburg sein kann.

Im vergangenen Jahr haben Sie bei der Auswahl des Redners für die „Berliner Rede“ im „Colloquium Politicum“ eine ganz besonders glückliche Hand bewiesen. Im Wintersemester 2011/12 hat Joachim Gauck hier bei Ihnen die „Berliner Rede“ gehalten, im Sommersemester 2012 wurde er dann zum Bundespräsidenten gewählt. Man soll ja nichts ausschließen, aber ich fürchte, eine solch rasante Entwicklung werde ich Ihnen nicht bieten können.

Aber ich deute das Vorbild von Herrn Gauck natürlich als gutes Omen für die eigene Zukunft – und als große Ehre. Haben Sie noch einmal herzlichen Dank für die Einladung, heute zu Ihnen zu sprechen.

I.

Die transatlantischen Beziehungen gehören zu den wichtigsten Pfeilern der deutschen Außenpolitik. Die deutsch-amerikanischen Institute wiederum sind für mich integraler Bestandteil unserer engen Beziehungen zu den USA. Und ich freue mich sehr, dass es mit dem Carl Schurz-Haus ein leistungsfähiges und aktives deutsch-amerikanisches Institut hier in Freiburg gibt.

Die transatlantischen Beziehungen brauchen nicht nur den Austausch von politischen Entscheidungsträgern. Die herausragende Qualität der transatlantischen Beziehungen beruht gerade auf der Begegnung von Menschen aus der ganzen Breite der Gesellschaft, auf dem wechselseitigen Interesse aneinander. Politik hat darauf nur begrenzten Einfluss. Deshalb ist die Arbeit der deutsch-amerikanischen Institute so wichtig. Wenn wir die transatlantischen Beziehungen in der Mitte unserer Gesellschaften verankern wollen, dann brauchen wir Ihr Engagement und Ihr Interesse.

Ich habe in der Zeit meiner Tätigkeit als Koordinator eine Reihe von Amerikainstituten in ganz Deutschland besucht. Viele leisten hervorragende Arbeit. Sie schaffen es, das Verständnis für Amerika und den Austausch mit Amerika in viele Ecken Deutschlands zu bringen; dafür schon einmal herzlichen Dank an alle, die sich hier im und für das Carl Schurz-Haus in Freiburg engagieren.

Lassen Sie mich zunächst kurz ein paar Worte zu meiner Tätigkeit als Koordinator für die Transatlantische Zusammenarbeit im Auswärtigen Amt sagen. Auf Vorschlag von Bundesaußenminister Westerwelle wurde ich im Juli 2011 von der Bundesregierung zum Koordinator für die transatlantische Zusammenarbeit berufen. Dieses Amt gibt es schon seit mehr als 30 Jahren. Ich habe diese Aufgabe sehr gerne übernommen, weil ich schon immer engste Beziehungen zu den USA hatte. Ich wurde in den USA als Sohn deutscher Eltern geboren und fühle mich auf beiden Seiten des Atlantiks zuhause. Mein Vater lehrte an der Columbia University, an der University of Chicago, der North Western University und in Harvard. Zwei meiner vier Geschwister leben auch heute noch mit ihren Familien in den USA. Bis heute habe ich neben der deutschen auch die amerikanische Staatsbürgerschaft.

Ich übe die Funktion als Koordinator zusätzlich zu meinem Bundestagsmandat aus. Da ich seit meinem Einzug in den Bundestag 2002 viel mit Außenpolitik und also auch sehr viel mit den USA zu tun habe, passt das alles ganz gut zusammen.

Kern der Tätigkeit des Koordinators ist es, auf beiden Seiten des Atlantiks Gemeinsamkeiten zu fördern und Unterschiede, die es ja auch gibt, zu erklären. Dabei setzt jeder Amtsinhaber eigene Schwerpunkte. Für mich stehen vor allem der zivilgesellschaftliche, der wissenschaftliche Austausch und die Förderung der Wirtschaft im Vordergrund, also die Zusammenarbeit und die Zusammenführung der Menschen auch über die Arbeit der Regierungen hinaus.

II.

Das Carl-Schurz-Haus in Freiburg und die Amerika-Institute in Deutschland insgesamt stehen für die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika und die feste Einbindung des geeinten Deutschlands in das westliche Bündnis. Das ist für viele Menschen auf beiden Seiten des Atlantiks heute selbstverständlich, und gerade diese Selbstverständlichkeit macht den großen Erfolg der Arbeit der Institute, ihrer Verantwortlichen und ihrer Mitglieder deutlich.

Vor 61 Jahren, 1952, im Jahr der Gründung dieses Instituts in Freiburg, waren Deutschlands Einbindung in den Westen und die Einheit Deutschlands allenfalls kühne Projekte, die sich erst nach und nach, im Fall der Einheit Deutschlands erst 1990 realisieren ließen. We have come a long way.

Heute sind die Beziehungen Deutschlands zu den Vereinigten Staaten exzellent und weitgehend problemfrei. Ich kann mich an kaum einen Augenblick in der jüngeren Geschichte erinnern, an dem wir so viel Konsens in sicherheitspolitischen Fragen hatten wie im Moment: Das gilt für die Frage, wie sich der Konflikt um das Atomprogramm des Irans friedlich lösen lässt; es gilt für den Nahostkonflikt insgesamt, und es gilt für die derzeit dringendste Herausforderung, die Beendigung der schrecklichen Gewalt gegen die Menschen in Syrien.

Beim NATO-Gipfel in Chicago im Mai 2012 haben wir uns über die weitere strategische Ausrichtung der Allianz verständigt. Wir sind uns mit den USA über das grundsätzliche Ziel einig, langfristig eine atomwaffenfreie Welt zu schaffen. Wir haben einen gemeinsamen Fahrplan für den Abzug unserer Soldaten aus Afghanistan beschlossen und uns auf die Finanzierung des Aufbaus der afghanischen Streitkräfte nach 2014 verständigt. Am Horn von Afrika, in Kosovo und natürlich in Afghanistan sind deutsche und amerikanische Soldaten gemeinsam im Einsatz, um für Frieden und Sicherheit zu sorgen. Das alles kann sich sehen lassen.

Europa und die USA ziehen in den wichtigsten außen- und sicherheitspolitischen Fragen an einem Strang.

Beim G8-Gipfel in Camp David im Mai vergangen Jahres und beim G20-Gipfel in Los Cabos im Juni 2012 ist deutlich geworden, dass auch die in der Presse manchmal hoch geschriebenen Unterschiede zwischen dem europäischen und dem amerikanischen Ansatz zur Lösung der Staatsschuldenkrise im Euroraum keine unüberbrückbaren Gegensätze sind.

Die USA erwarten von uns mit Recht, dass wir Europäer die Staatsschuldenkrise in Europa lösen, und wir in Europa wiederum erwarten, dass die USA ihr Haushaltsdefizit in den Griff bekommen. Haushaltskonsolidierung und Wachstum gehören zusammen; sie ergänzen sich. Ohne fiskalische Konsolidierung wird es mittel- und langfristig kein Wachstum geben. Und ohne Wachstum werden wir die Haushalte nicht konsolidieren können.

Auch ordnungspolitisch liegen die USA und Europa also letztlich nicht weit auseinander.

III.

Die transatlantischen Beziehungen sind eine Erfolgsgeschichte, auf die wir mit Recht stolz sind. Zur Selbstzufriedenheit aber besteht kein Anlass. Auch der Austausch zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Europa muss im 21. Jahrhundert neu erarbeitet werden. Auch die transatlantischen Beziehungen sind kein Selbstläufer. Ich finde es deshalb richtig, den Beginn der zweiten Amtszeit von Präsident Obama vor zwei Wochen zum Anlass zu nehmen, um auch grundsätzlich über die Zukunft der transatlantischen Beziehungen nachzudenken.

Barack Obamas Wahl zum ersten schwarzen Präsidenten der Vereinigten Staaten 2008 machte ihn früh zu einer historischen Figur. Eine wirklich große Präsidentschaft aber war Obama bisher nicht vergönnt. Mit seiner Wiederwahl ist allerdings klar, dass Obama keine Übergangsfigur ist, sondern Gesellschaft und Politik in den USA nachhaltiger prägen könnte, als viele bisher glauben.

Mir scheinen im Zusammenhang mit der Wiederwahl Obamas zwei Faktoren von besonderer Bedeutung für das transatlantische Verhältnis zu sein:
- zum einen die demografischen Veränderungen in den USA, die ganz entscheidend zu Obamas Wahlsieg beigetragen haben,
- zum anderen das Gefühl vieler Amerikaner, in einer Nachkriegszeit zu leben, in der es zunächst einmal vor allem um Investitionen in Bildung, Infrastruktur in den USA und die wirtschaftliche Belebung in Amerika gehen muss – und weniger um amerikanisches Engagement im Ausland.

Zunächst zu den demografischen Veränderungen, zum „changing face of America“, wie es einige Beobachter nennen.

IV.

Wie Sie wissen, verdankt Obama seinen Wahlsieg einer Koalition aus weiblichen, jungen, städtischen, oft unverheirateten Wählern, vor allem aber der Unterstützung von Afroamerikanern, Hispanics und asiatisch-stämmigen Amerikanern.

Afroamerikaner votierten mit 93% für Obama. Bei den Latinos und Asiaten waren es 71% bzw. 73%. Obama profitierte zudem entscheidend davon, dass der Anteil der von Angehörigen der Minderheiten abgegebenen Stimmen gegenüber 2008 noch einmal anstieg: Im wichtigen „Swing State“ Ohio beispielsweise betrug der Anteil der afroamerikanischen Stimmen 2012 13% - nach 11% im Jahr 2008.

Mitt Romneys Team hatte hingegen mit einem Rückgang der Mobilisierung unter den Minderheiten im Vergleich zu 2008 gerechnet – und war daher von der Niederlage am Wahlabend ehrlich überrascht. Es war ihm anzusehen.

Diese demographische Entwicklung wird anhalten: Spätestens 2050 wird die weiße Bevölkerung nur noch 47% der Gesamtbevölkerung ausmachen; sie wird zur größten Minderheit. Der Anteil der hispanisch-stämmigen Bevölkerung wird von heute 17% auf dann 29% steigen; asiatisch-stämmige Amerikaner machen 2050 9% der Bevölkerung aus, heute nur 5%. Die USA wandeln sich rasch.

Dieser Wandel hat Folgen für das US-amerikanische Parteiensystem: Die Republikaner beispielsweise werden sich stärker als bisher für die immer wichtigeren Minderheiten öffnen müssen; ansonsten geraten sie in eine strukturelle Minderheitenposition. Und am veränderten Umgang der Republikaner mit dem Thema Einwanderung in den letzten Wochen lässt sich eine solche Öffnung schon ablesen.

Der demografische Wandel Amerikas hat aber auch Folgen für uns. Kürzlich hieß es in der Süddeutschen Zeitung , Europas Politiker und Diplomaten kommunizierten fast ausschließlich mit dem „alten, weißen Amerika“. Das mag ein wenig übertrieben sein; in der Tendenz aber stimmt es. Wir haben die politischen Vertreter der Minderheiten bisher sicher vernachlässigt. Wir müssen uns jetzt ganz gezielt auch für diese Gruppe in den USA öffnen. Und da gibt es einige, die schon jetzt wichtige Funktionen haben – und mit denen das Gespräch lohnt: Marco Rubio, Senator aus Florida mit kubanischen Vorfahren, Nicky Haley, Gouverneurin von South Carolina oder Bobby Jindal, Gouverneur von Louisiana; beide haben indische Vorfahren.

Das „Gesicht Amerikas“ verändert sich, und wir sollten das Gespräch mit den Vertretern der immer wichtigeren Minderheiten suchen und auch sie für Europa interessieren.

Dies gilt umso mehr, als auf beiden Seiten des Atlantiks ein Generationswechsel stattfindet. Wer heute in Washington auf Capitol Hill oder mit der US-Regierung Gespräche führt, der stellt fest, dass die Erinnerung an Aufenthalte in Deutschland, zum Beispiel als Mitglied der U.S. Army, als Student oder Schüler, für viele amerikanische Entscheidungsträger kaum noch eine Rolle spielt. Viele Vertreter der Nachkriegsgeneration, die die transatlantischen Beziehungen lange geprägt haben, treten langsam ab: Ich denke auf amerikanischer Seite an die Senatoren Joe Lieberman, Richard Lugar, Sam Nunn oder etwa den früheren US-Außenminister Henry Kissinger, auf deutscher Seite an Hans-Dietrich Genscher, Richard von Weizsäcker und natürlich an Helmut Schmidt.

Präsident Obama hat mit John Kerry und Chuck Hagel zwei überzeugte Transatlantiker an zentraler Stelle in seinem außenpolitischen Team für die zweite Amtszeit postiert. Das ist großartig, und es wird die Zusammenarbeit mit den USA in den kommenden Jahren sicher erleichtern, weil wir uns kennen – und die Chemie stimmt.

Wir sollten uns von den bekannten Gesichtern aber nicht täuschen lassen: Vielen jungen neuen Entscheidungsträgern auf beiden Seiten des Atlantiks fehlt die emotionale Bindung an den jeweils anderen Kontinent, die die großen Transatlantiker des 20. Jahrhunderts hatten. „NATO is no longer in the genes“ hat der frühere amerikanische Verteidigungsminister Bob Gates im Sommer 2011 gesagt, und ich glaube, das beschreibt diese Veränderung in den transatlantischen Beziehungen ganz gut.

Die transatlantischen Beziehungen werden insgesamt weniger emotional. Wir können die Bindung, die durch Krieg, Versöhnung und später durch den Ost-West-Konflikt und die Vollendung der deutschen Einheit entstand, nicht einfach ersetzen. Das zu wollen wäre unsinnig. Würde der amerikanische Präsident heute eine Rede in Berlin halten, und ich hoffe, er wird es bald tun - dann hätte die zwangsläufig einen anderen Ton - wohl einen sachlicheren - als die Rede Ronalds Reagans am Brandenburger Tor 1987 - oder die John F. Kennedys 1963, zwei Jahre nach dem Mauerbau – mitten im Kalten Krieg.

V.

Die demografischen Veränderungen im Inneren korrespondieren außenpolitisch mit der strategischen Neuorientierung der USA nach Asien, von der Sie alle sicher gehört haben. Die USA haben seit dem Herbst 2011 ein „rebalancing“ Richtung Asien/Pazifik begonnen, den sogenannten „pivot to Asia“. Damit reagieren sie auf die immer weiter steigende wirtschaftliche Bedeutung der asiatischen Schwellenländer und den Aufstieg Chinas. Präsident Obama ist kurz nach seiner Wiederwahl schon im November 2012 erneut nach Asien gereist, nach Myanmar, Kambodscha und Thailand – wohl ein Indiz dafür, dass er die Öffnung nach Asien auch in seiner zweiten Amtszeit weiter verfolgen wird.

Ich glaube, dass diese Intensivierung des amerikanischen Interesses am asiatisch-pazifischen Raum nicht im Widerspruch steht zu guten und engen transatlantischen Beziehungen. Ganz im Gegenteil.

Auch Europa hat sein Engagement in Asien/Pazifik immer weiter intensiviert. Das deutsche Außenhandelsvolumen ist in den vergangenen Jahren immer weiter gestiegen. Aber nirgendwo sind die Zuwächse so groß wie im Handel mit dem asiatisch-pazifischen Raum. Lange Zeit waren die USA Deutschlands größter Handelspartner außerhalb der Europäischen Union. Im Jahr 2011 hat erstmals China diese Position übernommen. Das relativiert nicht die Bedeutung der transatlantischen Wirtschaftsbeziehungen. Aber es dokumentiert, dass gerade die deutsche Wirtschaft sich im Hinblick auf ihre Außenhandelspartner diversifiziert hat. Und die Länder Asiens nehmen dabei einen immer prominenteren Platz ein.

Als Handelsstaat hat Deutschland ein elementares Interesse an Frieden und Sicherheit im asiatisch-pazifischen Raum, an der friedlichen und von Regeln geleiteten Beilegung von Konflikten, an der Freiheit der Schifffahrtswege und an der Stärkung multilateraler regionaler Organisationen. Deutschlands Interessen im asiatisch-pazifischen Raum sind also weitgehend mit denen der Vereinigten Staaten von Amerika identisch. Und ich glaube, dass Amerikas Präsenz in Asien/Pazifik auch eine Chance für alle Länder in dieser Region ist, ihren Wohlstand weiter zu steigern, die regionalen Sicherheitsstrukturen zu stärken und Konflikte friedlich beizulegen.

VI.

Damit komme ich zur zweiten Entwicklung in den USA, die ich für wichtig halte für die weitere Entwicklung der transatlantischen Beziehungen: In Präsident Obamas Antrittsrede von vor zwei Wochen heißt es: „A decade of war is now ending. An economic recovery has begun.“ Amerika befindet sich in einer selbsterklärten Nachkriegsphase. Und wenn ich auf meine jüngsten Reisen in die USA zurückblicke, muss ich sagen: Dieser Satz Obamas entspricht dem Lebensgefühl vieler Amerikaner, mit denen ich spreche. Viele Menschen in den USA sind kriegsmüde. Viele sind von den Ergebnissen der Kriege seit 9/11 nicht überzeugt. Und verständlicherweise wünschen sie, dass sich ihre Politiker wieder stärker dem eigenen Land zuwenden, dass Investitionen in die Infrastruktur Amerikas getätigt werden, dass Brücken nicht nur im Irak oder Afghanistan gebaut und erneuert werden, sondern vor allem in den USA selbst. Nicht zufällig wird Präsident Obama heute von manchen Kommentatoren mit Präsident Eisenhower verglichen, der die USA durch die Epoche nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs führte.

Präsident Obamas Regierung steht vor einer Herkulesaufgabe - „Nation building at home“, gewissermaßen: Die Infrastruktur muss erneuert, Bildungssystem und Einwanderungsgesetzgebung reformiert, die Wirtschaft belebt, Arbeitsplätze geschaffen und die Sozialversicherungssysteme zukunftsfähig gemacht werden. Die Staatsverschuldung liegt bei rund 100% des BIP. Sie muss zurückgeführt werden, was weitere Konjunkturprogramme ausschließt. Unmöglich ist all dies nicht – zumal die neu entdeckten Vorkommen an Gas und Öl günstige Energiepreise mit sich bringen, die die Reindustrialisierung der USA erleichtern und das Wachstum fördern werden.

Wir Europäer sind jedenfalls gut beraten, damit zu rechnen, dass sich die USA angesichts dieser Aufgabenfülle in den kommenden Jahren etwas stärker auf die „Baustellen“ im eigenen Lande konzentrieren werden als in der jüngsten Vergangenheit. Schon jetzt haben die USA beschlossen, ihre Militärausgaben in den kommenden zehn Jahren um 458 Mrd. USD zurückzufahren; im Libyenkrieg und jetzt in Mali greifen sie unterstützend ein, überlassen die Initiative und damit die Hauptlast aber anderen Ländern. Und dieser Trend dürfte sich unter den künftigen Ministern Kerry und Hagel fortsetzen. Beide stehen als Veteranen des Vietnamkriegs groß angelegten militärischen Einsätzen ausgesprochen skeptisch gegenüber.

Was heißt das für uns in Deutschland und Europa?

Die letzten beiden US-Verteidigungsminister, Robert Gates und Leon Panetta, haben im Verlauf der vergangenen zwei Jahre in jeweils sehr eindrucksvollen Reden deutlich gemacht, dass die USA erwarten, dass Europa international mehr Verantwortung übernimmt und die Lasten der internationalen Politik gerechter verteilt werden. Ich finde diesen Wunsch verständlich, und ich denke, dass Deutschland in Afghanistan, jetzt in der Türkei und an vielen anderen Orten in der Welt unter Beweis gestellt hat, dass es um seine Verantwortung weiß und diese Verantwortung auch wahrnimmt.

Der amerikanische Wunsch nach mehr „burden-sharing“ dürfte sich in Präsident Obamas zweiter Amtszeit noch verstärken. Die Anforderungen und Erwartungen an uns werden steigen.

Wo früher Emotionen im transatlantischen Verhältnis dominierten, spielen heute Kosten-Nutzen-Kalkulationen eine immer wichtigere Rolle. Wir sollten uns ganz grundsätzlich darüber im Klaren sein: Europas Bedeutung für Amerika wird in Zukunft ganz entscheidend auch davon abhängen, ob Europa bereit und in der Lage ist, seinen Beitrag zur Lösung regionaler Konflikte und der globalen Herausforderungen zu leisten. Nur dann bleiben wir auch ein für die USA relevanter und wichtiger Partner. Zum Wandel in den transatlantischen Beziehungen im 21. Jahrhundert gehört also auch, dass viele Amerikaner Europa heute aus einem utilitaristischen Blickwinkel betrachten.

VII.

Ich glaube allerdings: Im amerikanischen Wunsch nach mehr Lastenteilung liegt auch eine Chance für Europa. Die USA haben in der Vergangenheit die Entwicklung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik manchmal eher skeptisch begleitet. Sie schienen Europas Bemühungen um eine gemeinsame Verteidigungspolitik als Konkurrenz zur Atlantischen Allianz wahrzunehmen. Das hat sich geändert. Heute fordern die USA ein politisch und auch militärisch handlungsfähiges Europa. Wir sollten dies als Chance begreifen und unsere Sicherheitspolitik und Verteidigung in Europa stärker zusammenführen. Der Vertrag von Lissabon hat die rechtlichen und institutionellen Grundlagen dafür geschaffen. Vorschläge zur Umsetzung liegen auf dem Tisch.

Europa muss noch stärker als bisher zum „Partner in Verantwortung“ werden. Wir müssen als EU bereit sein, insbesondere in unserer Nachbarschaft sicherheitspolitisch mehr Verantwortung zu übernehmen.

Gleichzeitig müssen wir die europäischen und die atlantischen Sicherheits- und Verteidigungsstrukturen enger verzahnen, so dass NATO-Aktionen und das europäische Engagement im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik aufeinander abgestimmt sind und sich sinnvoll ergänzen. Wir sind hier am Anfang. Dass derzeit 40 US-Amerikaner in zivilen Missionen der europäischen GSVP mitarbeiten, ist ein gutes Zeichen dafür, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
VIII.

Ich habe jetzt viel von den amerikanischen Erwartungen an uns gesprochen. Natürlich aber haben wir auch Erwartungen an die Vereinigten Staaten – und an Präsident Obama in seiner zweiten Amtszeit.

Außenminister Westerwelle hat schon im November letzten Jahres vier Felder benannt, auf denen wir mehr US-Engagement wünschen:
- bei der Lösung des Nahost-Konflikts,
- beim Kampf gegen den Klimawandel,
- bei der Fortschreibung der nuklearen Abrüstung und
- bei der Schaffung eines gemeinsamen transatlantischen Wirtschaftsraums.

Auf das zuletzt genannte Projekt will ich ein wenig ausführlicher eingehen, weil ich glaube und hoffe, dass es zu dem transatlantischen Projekt schlechthin werden könnte.

Europa und Amerika suchen gleichermaßen nach Wachstumsimpulsen, die unsere Wirtschaften beleben und neue Arbeitsplätze schaffen. Wir glauben, es ist Zeit, dass wir uns auf das besinnen, was uns verbindet und enormes Potenzial bietet: die engere Verflechtung von Handel und Investitionen über den Atlantik hinweg.

Bald wird eine „Hochrangige Transatlantische Arbeitsgruppe für Wachstum und Jobs“ von EU und USA ihren Bericht vorlegen. Sie hat das transatlantische Netzwerk auf zusätzliche Wachstumschancen untersucht. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird sie empfehlen, beide Wirtschaftsräume, den amerikanischen und den europäischen, noch weiter zu öffnen und stärker zu integrieren. Auch die Bundeskanzlerin und Bundesaußenminister Westerwelle haben sich für das Projekt stark gemacht; auf amerikanischer Seite hat sich vor allem Außenministerin Clinton dazu bekannt.

Die ökonomischen Gründe dafür liegen auf der Hand. Der atlantische Raum stellt alle anderen Wirtschaftsräume in den Schatten. Gemeinsam erwirtschaften Europäer und Amerikaner fast die Hälfte des Weltsozialprodukts. Der amerikanisch-europäische Warenaustausch erreichte 2011 einen Wert von über 500 Milliarden Euro. Mehr als die Hälfte aller amerikanischen Auslandsinvestitionen geht nach Europa, auch heute noch. Umgekehrt betragen die europäischen Investitionen in den USA das Achtfache unserer Investitionen in China und Indien zusammen. Millionen Arbeitsplätze auf beiden Seiten sind durch diese Verflechtung geschaffen worden. Wir sollten diese Substanz nun für einen Ausbau hin zu einem Atlantischen Binnenmarkt nutzen.

Dabei geht es auch um Normen, Standards und Regulierungsfragen. Mit ihnen entscheiden sich die Marktchancen vieler guter Erfindungen und Produkte. Gemeinsam haben wir das Know-how und das Gewicht, um weltweit akzeptierte Maßstäbe zu setzen. Wir wollen, dass die Normen und Standards von morgen von uns und bei uns gesetzt werden, von der Elektromobilität bis zum Schutz geistigen Eigentums. Auch die hohen Sozial- und Umweltstandards in Europa und den USA könnten Maßstab werden für künftige Abkommen mit dem Rest der Welt.

Ein transatlantisches Abkommen hätte nicht nur wirtschaftliches Potenzial. Es wäre ein starkes politisches Signal für die gemeinsame Gestaltungskraft von Europa und Amerika. Es würde Maßstäbe setzen für eine offene Wirtschaftsordnung, wie wir sie weltweit erhalten und ausbauen wollen. Es würde auch unserer engen Sicherheitspartnerschaft in der NATO und unserer Zusammenarbeit in vielen wichtigen außenpolitischen Fragen zusätzlichen Schub geben.

Uns allen ist in den Jahren seit Ausbruch der Finanzkrise 2008 bewusst geworden, wie rasant der Aufstieg Chinas, Indiens, Brasiliens und anderer Länder die Welt verändert hat. Wenn es uns gelingt, über den Atlantik hinweg unsere wirtschaftlichen und kreativen Kräfte zu bündeln, dann können wir der jetzt nach und nach entstehenden multipolaren Welt einen Stempel aufdrücken, der unsere Interessen wahrt und fest in unseren gemeinsamen Werten verankert ist.

Amerika und Europa waren wegen der Finanzkrise in den vergangenen Jahren sehr auf sich selbst konzentriert. Wir sollten aus dieser Introvertiertheit ausbrechen und uns auf unsere enormen Stärken beiderseits des Atlantiks besinnen. Unsere Gesellschaften bringen die klügsten Köpfe hervor, sie produzieren die kreativsten Ideen, sie bieten die besten Chancen für die volle Entfaltung des Potenzials eines jeden Einzelnen. Ein umfassendes transatlantisches Abkommen wäre ein überzeugendes Signal für die Selbstbehauptung Europas und Amerikas in der Globalisierung und für unsere Entschlossenheit, die Zukunft nach unseren eigenen Werten zu gestalten.

IX.

Europa und Amerika teilen gemeinsame Werte. Das ist keine leere Phrase. Die Würde des Menschen steht für uns im Mittelpunkt unseres politischen Handelns. Das ist für alle politischen Entscheidungsträger auf beiden Seiten des Atlantiks unstrittig, auch über Parteigrenzen hinweg. Und diese Selbstverständlichkeit über das gemeinsame Wertefundament macht uns die Verständigung über das politisch und wirtschaftlich Notwendige leichter. Das schließt Differenzen über taktische Fragen nicht aus. Aber der Kurs ist derselbe, weil wir uns an einem gemeinsamen Kompass orientieren.

Ich glaube, dass es Amerikanern und Europäern gerade in einer immer stärker globalisierten Welt – und bei aller berechtigten Begeisterung über die wirtschaftlichen Chancen in Asien und Lateinamerika - gut tut, sich auf dieses gemeinsame Wertefundament zu besinnen. Wir sind „like-minded“, wie unsere amerikanischen und kanadischen Freunde sagen, und wir sollten das nicht gering schätzen.

Wenn unsere Werte in der Welt des 21. Jahrhunderts weiter Beachtung finden sollen, wenn unsere Vorstellungen vom demokratischen Regieren, von der gleichberechtigen Rolle der Frau, vom freiheitlichen Wirtschaften in sozialer Verantwortung weiter Gültigkeit haben sollen, dann müssen Europäer und Amerikaner gemeinsam für sie werben. Das hat nichts mit Werteimperialismus zu tun. Wir wollen niemandem vorschreiben, wie er zu leben hat. Aber wir haben allen Grund, für unsere gemeinsamen Werte zu werben.

Gerade weil wir in einer globalisierten pluralistischen Welt leben, ist das Besinnen auf die eigenen Werte so wichtig. Nur wer um das eigene Wertefundament weiß, kann mit Unterschieden gelassen umgehen. Und ich bin mir sicher: Wenn Amerikaner und Europäer unsere gemeinsamen Werte überzeugend vertreten, dann können wir auch andere für diese Werte begeistern.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und alles Gute!

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