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„Millionen wollen diese Gewalt nicht“
Im Interview spricht Außenminister Guido Westerwelle über die Unruhen in der arabischen Welt und die Grenze zwischen Religions- und Meinungsfreiheit. Über die Lage in Syrien sagt der Minister: „Es gibt die Pflicht, die derzeitige Ohnmacht zu überwinden.“ Erschienen in der Welt am Sonntag vom 23.09.2012.
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Welt am Sonntag: Herr Westerwelle, seit zwei Wochen halten durch schmähende Darstellungen des Propheten Mohammed ausgelöste Unruhen die Welt in Atem. In Pakistan gab es bei Ausschreitungen Tote und Verletzte. Ein Fall für den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen?
Das kommt darauf an, ob die Lage weiter eskaliert. Wichtig ist, dass in der westlichen Welt verstanden wird, dass die Gewalttäter nicht repräsentativ für die große Mehrheit der Völker in der arabischen Welt sind. Und dass in der islamischen Welt verstanden wird, dass die große Mehrheit der Menschen im Westen ihre Religion nicht nur respektiert, sondern Beschimpfungen und Beleidigungen auch ablehnt.
Wer demonstriert da eigentlich? Geht es um verletzte religiöse Gefühle, oder steckt eine politische Steuerung antiwestlicher Kräfte dahinter?
Das ist unterschiedlich. Bei dem Anschlag in Libyen kann ein terroristischer Hintergrund nicht ausgeschlossen werden. Im Sudan gab es erkennbar auch eine Orchestrierung durch einige politische Fundamentalisten. Die tunesische Regierung war aufrichtig schockiert über die Gewalt gegen die US-Botschaft. Ich bin mir sicher: Die Millionen Menschen, die in den vergangenen Monaten für Freiheit, Rechtsstaat, Demokratie und gegen Unterdrückung auf die Straße gegangen sind, wollen diese Gewalt nicht. Auch wichtige religiöse Vertreter sowie viele Staats- und Regierungschefs der Region haben sich von der Gewalt distanziert und zu friedlichem Protest gegen die Verunglimpfung ihrer Religion aufgerufen.
Halten Sie diese Distanzierung, gerichtet an die Weltöffentlichkeit, für glaubwürdig? Nach innen klingt das oft anders.
Ich halte sie für repräsentativ für die Mehrheit. Diejenigen, die den Mord des amerikanischen Botschafters in Libyen gutheißen, sind eine extremistische Minderheit.
War die Hoffnung auf eine demokratische Entwicklung nach dem Sturz der Diktatoren nicht von Beginn an naiv?
Die Bundesregierung hat die arabischen Umbrüche von Anfang an sehr differenziert, von Land zu Land unterschiedlich begleitet. Ich spreche deshalb auch nicht mehr von einem arabischen Frühling, sondern von arabischen Jahreszeiten. Wir haben eine völlig andere Lage im postrevolutionären Libyen, im evolutionären Marokko, im weit vorangekommenen Tunesien, in dem sich gerade neu aufstellenden Ägypten. Und in Syrien, wo die Menschen um ihr Leben fürchten müssen, weil sie gegen das Regime aufstehen.
In allen diesen Ländern gibt es, in verschiedener Stärke, islamistische Kräfte. Was tut die deutsche Außenpolitik, um den Vormarsch der Radikalen zu stoppen?
Wir unterstützen mit unserem Konzept der Transformationspartnerschaft die Stärkung der Zivilgesellschaften und der wirtschaftlichen Entwicklung. Beides stärkt das demokratische Immunsystem. Und ich warne vor dem Irrtum, Islam mit Gewalt gleichzusetzen und politischen Islam mit fundamentalistischem Islamismus. Wir konnten doch nicht erwarten, dass aus den arabischen Revolutionen christdemokratische, liberale oder sozialdemokratische Parteien westlicher Art hervorgehen. Die politischen Landschaften in diesen Revolutions- und Evolutionsländern sind sehr unterschiedlich. Und ja, es gibt dort auch gewaltbereite Fundamentalisten, die die Freiheitsrevolutionen zum Scheitern bringen wollen. Wir wollen das Gegenteil.
Nicht alle westlichen Regierungen vertrauen den Beteuerungen, dass ihre Einrichtungen geschützt werden. Amerikaner und Franzosen haben ihre Botschaften und Schulen in muslimischen Ländern teilweise geschlossen. Plant Deutschland das auch?
Ausschließen kann ich es im Einzelfall aus Sicherheitsgründen nicht. Sicherheit geht vor, aber ich möchte das vermeiden. Gerade in diesen Zeiten ist es wichtig, dass der Austausch zwischen Ländern und Kulturen fortgesetzt wird. Und dass ich mir Sorgen mache, muss ich nicht verschweigen. Der Krisenstab des Auswärtigen Amtes hat die Sicherheitsvorkehrungen an den deutschen Institutionen in den betroffenen Ländern erhöht, teilweise auch das Sicherheitspersonal verstärkt. Die Regierungen der Gastgeberländer haben die unbedingte Verpflichtung, ausländische Vertretungen zu schützen. Wo das nicht geschieht, kritisieren wir es mit Nachdruck. Wo es immer noch nicht geschieht, wird es nicht ohne Konsequenzen bleiben.
Meinungsfreiheit wird von der Menschrechtscharta der Vereinten Nationen garantiert. Dennoch vertreten die muslimischen Länder bis hin zur Türkei den Standpunkt, dass Schmähungen ihres Glaubens nicht erlaubt sind. Ein Widerspruch?
Schmähungen und Beschimpfungen des Glaubens sind auch bei uns nicht erlaubt, wenn der öffentliche Frieden gestört wird. Ich zitiere Artikel 5 Grundgesetz: Dort wird in Absatz eins die Meinungsfreiheit garantiert. Und in Absatz zwei heißt es, dass dieses Recht Schranken findet in den allgemeinen Gesetzen, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre. Das Problem ist ein anderes: Früher hat es niemand zur Kenntnis genommen, wenn irgendein selbst berufener Regisseur ein absurdes Filmchen dreht. Heute bekommen wir alle das auf der ganzen Welt mit. Das Internet ist eben nicht nur Segen, wie wir in den arabischen Revolutionen gesehen haben, sondern auch Fluch: Weil nämlich auch der Dümmste sein Zeug mit weltweiter Wirkung verbreiten kann.
Wie damit umgehen?
Westerwelle: Es wird Zeit brauchen. Ich persönlich habe Auszüge aus diesem Video gesehen, fand sie absurd und geschmacklos. Andere sind tief gekränkt. Wiederum andere nutzen die Empörung über solche Machwerke, weil sie keine Demokratie in ihren Ländern wollen, sondern ein fundamentalistisches Regime.
Auch in Deutschland wird diskutiert, wo die Grenze zwischen Meinungs- und Religionsfreiheit verläuft. Sollte das Schmähvideo hier öffentlich gezeigt werden?
Das ist die berühmte Einzelfallabwägung, die nicht der Außenminister, sondern die Justizbehörden vorzunehmen haben. Wenn rechtsradikale Hassprediger im Westen mit der öffentlichen Aufführung Tumulte und Gewalt auslösen wollen oder dies zumindest billigend in Kauf nehmen, um anschließend ihre giftige Suppe auf diesem Feuer zu kochen, dann sollten die Behörden ein Verbot von solchen Aufführungen prüfen.
Was halten Sie von der Veröffentlichung von Mohammed-Karikaturen in Satiremagazinen in Frankreich und Deutschland?
Ich habe im Leben gelernt, dass Freiheit immer auch Verantwortung bedeutet. Manchmal lautet die Frage nicht, ob man etwas tun darf. Sondern ob man etwas tun sollte.
In Frankreich hat die Regierung alle öffentlichen Demonstrationen gegen die Mohammed-Karikaturen verboten. Ist eine solche Maßnahme auch in Deutschland nötig?
Über polizeiliche Maßnahmen des Versammlungsrechts entscheidet im deutschen Rechtsstaat richtigerweise nicht der Außenminister.
Muss ein Liberaler nicht bedingungslos gegen ein Verbot von Meinungsäußerungen eintreten, und seien sie noch so dämlich?
Ich bin als Liberaler bei Freiheitseinschränkungen besonders sensibel. Aber dämliche Meinungen sind das eine, Beleidigungen und Verunglimpfungen etwas anderes. Ich kann der Meinung sein, dass Sie ein ganz schrecklicher Kerl sind. Aber ich dürfte Sie deshalb nicht beleidigen und mich dabei auf die Meinungsfreiheit berufen. Sie umfasst nicht das Recht, Andersgläubige oder Andersdenkende zu beleidigen und damit absichtsvoll den öffentlichen Frieden zu stören. Das gilt übrigens nicht nur für die unerträgliche Darstellung des Propheten als Kinderschänder, sondern auch für den Umgang mit Jahwe oder Jesus Christus.
Christen sind im Zuge der Aufklärung duldsamer geworden. Die Gewaltbereitschaft ist vornehmlich im Islam festzustellen.
Wir wollen mal nicht so tun, als wäre das in Deutschland in den letzten 100 Jahren immer so gewesen. Noch in meiner Jugend wurde darüber anders gedacht als heute. Und es gibt übrigens auch in Europa ganz unterschiedliche Auffassungen über die Trennung von Religion und Staat. Erinnern Sie sich nur an die Debatte über einen Gottesbezug in der Präambel des europäischen Verfassungsentwurfes. Also: Das ist kein Kampf der Kulturen, das ist auch keine Konfrontation der Religionen. Es ist ein Kampf der Vernünftigen gegen die Fundamentalisten, ein Kampf der Friedlichen gegen die Gewalttäter. Etwas anderes sollten wir uns nicht einreden lassen.
Gegen ein Video gehen Tausende Muslime auf die Straße. Wo sind vergleichbare Demonstrationen gegen das Abschlachten von Menschen im syrischen Bürgerkrieg?
Es gab und gibt eine große Empörung in der arabischen Welt gegen die Grausamkeiten des Assad-Regimes. Die klare Haltung der Arabischen Liga, die gemeinsam mit den UN den Sonderbeauftragten Brahimi berufen haben, zeugt davon. Es gibt innerhalb der arabischen Gesellschaften eine Auseinandersetzung zwischen Toleranten und Intoleranten. Das ist kein Kampf der Kulturen. Es ist ein Kampf innerhalb der Kulturen.
Der Sicherheitsrat war im Fall Syrien bislang untätig, von den Veto-Mächten Russland und China zur Untätigkeit verdammt. Wird der deutsche Vorsitz da einen neuen Anlauf starten?
Ja, wir werden einen neuen Anlauf starten. Schon am Montag werde ich mich als Vorsitzender des Sicherheitsrates mit dem UN-Sonderbeauftragten Brahimi treffen, anschließend werden wir in einer geschlossenen Sitzung des Sicherheitsrates seine Vorschläge hören.
Sehen Sie Chancen auf einen neuen Friedensplan?
Es gibt in der Diplomatie immer neue Chancen. Und es gibt die Pflicht, die derzeitige Ohnmacht zu überwinden. Ich bin immer noch sehr aufgewühlt von meinem Besuch in einem Flüchtlingslager in Jordanien. Dort erfährt man: Es geht nicht um ferne Ereignisse, statistisch gezählte Tote, mathematisch erfasste Flüchtlinge. Sondern es geht um die Schicksale von Menschen. Mir hat ein Vater, der weit jünger war als ich selbst, sein Baby gezeigt, nackt, krank und ausgemergelt. Das vergessen Sie ein Leben lang nicht. Und auch nicht die Sprachlosigkeit, die Sie in diesem Moment erfasst.
Nicht nur die derzeitige Lage in Syrien macht Sorgen in der Nahostregion. Israel denkt laut über einen Militärschlag gegen den Iran nach. Stehen wir am Vorabend eines neuen Krieges?
Wir müssen alles tun, um das zu verhindern. Wir wollen eine politische und diplomatische Lösung. Sie ist unverändert möglich. Wir können eine atomare Bewaffnung Irans nicht akzeptieren. Dabei geht es um mehr als die Sicherheit Israels. Das allein wäre schon ein guter Grund zu handeln. Aber es geht auch darum, dass wir einen atomaren Rüstungswettlauf verhindern müssen. Wenn Iran Nuklearwaffen bekommt, dann ist es eine Frage der Zeit, bis auch andere Staaten der Region nach dieser Waffe greifen. Dann kann es sein, dass wir am Ende dieses Jahrzehnts mehrere neue Atommächte in dieser sensiblen Weltgegend haben – mit all den Gefahren, die für uns alle davon ausgehen.
Schließt sich das Fenster der Möglichkeit für Verhandlungen mit dem Iran?
Noch nicht. Ich habe Premier Netanjahu und Verteidigungsminister Barak vor wenigen Tagen in Jerusalem persönlich gesagt: Einerseits haben wir Verständnis für die Sorgen Israels um die eigene Sicherheit. Anderseits habe ich geraten, eine Lösung an der Seite der internationalen Gemeinschaft zu suchen. Diplomatie ist noch möglich. Allerdings sind die Gespräche, die bisher seitens des Iran geführt werden, nicht substanziell. Deswegen haben William Hague, Laurent Fabius und ich in einem Brief an die EU-Außenbeauftragte Cathy Ashton darum gebeten, dass die nächste Sanktionsrunde vorbereitet wird. Denn dass die Sanktionen Wirkung zeigen, das sieht mittlerweile jeder.
Netanjahu sieht die Sanktionen, aber fordert in einer beispiellosen Offenheit, dass man eine rote Linie gegenüber Iran einziehen soll.
Wer einmal in diesem kleinen, verletzlichen Land war und von dort aus die Reden von Ahmadineschad über die Vernichtung Israels hört, der versteht die große Sorge Israels. Nichtsdestotrotz bin ich fest überzeugt, dass die USA, Israel und Europa eng beieinander bleiben müssen und werden.
Macht Ihnen die wachsende Distanz zwischen den Regierungen in Washington und Jerusalem Sorgen? Ein israelischer Alleinschlag scheint nicht mehr ausgeschlossen.
Die Freundschaft zwischen den USA und Israel ist so gefestigt, dass ich an echte Irritation zwischen beiden Ländern nicht glaube.
Ihr Ministerkollege de Maizière hat einen Militärschlag Israels legitim, aber nicht klug genannt.
Ich kann Ihnen versichern, dass die gesamte Bundesregierung mit ganzer Kraft und großem persönlichen Einsatz der Bundeskanzlerin, des Verteidigungsministers und mir an einer diplomatischen Lösung arbeitet.
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Das Interview führten Jochen Gaugele, Thorsten Jungholt und Claus Christian Malzahn. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Welt am Sonntag.