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„Wir sehen das große menschliche Leid“

06.09.2012 - Interview

Außenminister Guido Westerwellle im Interview zur Debatte über die europäische Schuldenkrise, zur Entwicklung in Syrien und zum Konflikit über das iranische Atomprogramm. Erschienen in der Neuen Osnabrücker Zeitung und der Nordsee-Zeitung vom 06.09.2012.

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Herr Minister, Sie lesen über sich viele gute Schlagzeilen – auch weil Sie sich als Hüter des europäischen Erbes sehr deutlich von den Ausfällen der CSU gegen die Griechen abgrenzen. Hat das Bündnis weitere Risse bekommen?

Meinem Unmut über manche Äußerungen habe ich nicht Luft gemacht, um innenpolitisch Streit anzufachen. Ich mache mir um die Wirkung solcher Äußerungen jenseits unserer Grenzen ernste Sorgen. Auf Reisen habe ich erlebt, dass die jüngsten Misstöne in der Europa-Debatte dem Ansehen unseres Landes schaden. Made in Germany steht für Qualität, Zuverlässigkeit und Respekt. Ich begrüße sehr, dass CSU-Chef Horst Seehofer diese Haltung ausdrücklich teilt.

Auch FDP-Chef Rösler hat keine Geduld mehr mit Athen. Gibt es da einen Dissens zwischen Ihnen und Rösler?

Es ist nicht gerecht, die Äußerungen von Philipp Rösler in das große europakritische Konzert hineinzumischen. Wir alle wissen, dass unsere Arbeitsplätze, unser Wohlstand und auch unsere Selbstbehauptung auf dem globalen Markt vom europäischen Zusammenhalt abhängen. Ich sehe hier keine Meinungsunterschiede innerhalb der FDP-Spitze.

Selbst am starken Kern Europas nagen Zweifler. In den Niederlanden könnten Nationalisten nächste Woche bei der Wahl gewinnen...

Warten wir das Ergebnis erst einmal ab. Aber es stimmt, dass Populisten und Nationalisten in ganz Europa auf dem Feuer der Krise ihr unappetitliches Süppchen der Renationalisierung kochen. Ich rufe alle dazu auf, dem zu widerstehen. Solche Tendenzen sind hochgefährlich. Denn es ist offensichtlich, dass Europa auf Dauer nur zusammen gegen die neuen Kraftzentren in Asien und anderswo bestehen kann. Ob wir es packen, entscheidet sich angesichts einer Hochgeschwindigkeitsglobalisierung bereits in den nächsten zehn Jahren.

Deutschland hat seit dem 1. September für einen Monat den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat. Wo wollen Sie Akzente setzen?

Die Konflikte im Nahen Osten fordern uns heraus – der Bürgerkrieg in Syrien und die andauernde Verweigerung des Iran, sein Nuklearprogramm offenzulegen.

Es heißt, dass Israel noch vor der US-Wahl Anfang November den Iran angreifen könnte. Es wirft den Weltmächten vor, dem Iran bei dessen atomaren Aktivitäten keine Grenzen zu setzen. Sie reisen am Wochenende nach Israel...

Die Lage ist sehr ernst. Ich mache mir sehr große Sorgen. Ich kann die Menschen in Israel gut verstehen, die sich in Anbetracht der Verletzlichkeit ihres Landes um ihre Existenz sorgen, wenn beim großen regionalen Nachbar Iran die Vernichtung ihres Landes gepredigt wird und Iran ohne Rücksicht auf Völkerrecht und politische Verantwortung an einem Atomprogramm arbeitet. Ich appelliere nachdrücklich an die iranische Regierung, endlich ihren internationalen Verpflichtungen nachzukommen.

Was genau erwarten Sie?

Wenn das iranische Atomprogramm zivil ist und keine Atomwaffen gebaut werden, dann wäre es für die Führung in Teheran doch das Einfachste und Vernünftigste, so schnell wie möglich den Inspekteuren der Internationalen Atomenergiebehörde vollen Zugang zu allen Atomanlagen zu gewähren. Die Zeit rennt.

Eine atomare Bewaffnung Irans wäre im Übrigen nicht nur eine Bedrohung für Israel, es würde auch die Sicherheitsbalance der gesamten Region zerstören und auch weltweit erhebliche Auswirkungen haben. Es besteht die Gefahr, dass im Nahen Osten sehr schnell ein atomarer Rüstungswettlauf einsetzt.

Die Hoffnungen auf eine rasche Beendigung des Bürgerkriegs in Syrien schwinden. Der neue UN-Gesandte Lakhdar Brahimi sagte: „Wir tun nicht genug.“ Ein Armutszeugnis für die Weltgemeinschaft?

Er stellt dieses Zeugnis mit Recht aus. Die Blockadepolitik von Russland und China im UN-Sicherheitsrat ist deprimierend angesichts von inzwischen über 20000 Toten. Ich fordere Russland und China auf, endlich die schützende Hand vom syrischen Diktator Assad abzuziehen. Seine Zeit ist vorüber.

Über 200000 Flüchtlinge halten sich in der Türkei, in Jordanien, dem Irak und dem Libanon auf. Sie halten die Aufnahme von Syrern in Deutschland inzwischen für denkbar ...

Übermorgen besuche ich in Jordanien ein Lager für syrische Flüchtlinge. Ich schließe in der Tat nicht aus, dass wir Flüchtlinge aus Syrien in Deutschland aufnehmen. Ich habe mich dazu mit dem Bundesinnenminister ausgetauscht. Er sieht wie ich das große menschliche Leid. Aber es macht keinen Sinn, das im nationalen Alleingang zu entscheiden. Diese Fragen müssen zusammen mit dem Hohen Kommissar für Flüchtlingsfragen, den Aufnahmeländern in der Region und mit unseren europäischen Partnern besprochen werden. Und: In Syrien selbst sind noch viel mehr Menschen auf der Flucht. Priorität hat daher Hilfe vor Ort. Wir engagieren uns mit 22 Millionen Euro bei der Versorgung von Flüchtlingen.

Deutschland hat in den 70er-Jahren mit der Aufnahme vietnamesischer „Boatpeople“ und in den 90er-Jahren mit Asyl für bosnische Kriegsflüchtlinge Signale der Menschlichkeit gesetzt ...

Wir werden jetzt erst versuchen, die Probleme vor Ort zu lösen, auch weil die ganz überwiegende Zahl der Syrer in der Nähe ihrer Heimat bleibt und so schnell wie möglich zurückkehren will. Aber wenn dies nicht gehen sollte, habe ich keinen Zweifel, dass die Deutschen den Syrern mit einer Welle der Hilfsbereitschaft begegnen werden.

Haben die Beziehungen zu Russland nachhaltig gelitten, weil Wladimir Putin Syrien unterstützt?

Ich bin dagegen, den Gesprächsfaden auszudünnen oder gar abzuschneiden. Wir haben eine strategische Partnerschaft mit Russland wie auch mit China. Dabei sprechen wir fundamentale Meinungsunterschiede in der Bewertung der Syrien-Frage an, leider bislang ohne konkretes Ergebnis.

Fragen: Beate Tenfelde. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Neuen Osnabrücker Zeitung.

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