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„Politischer Islam ist nicht das Gleiche wie radikaler Islamismus“

13.01.2012 - Interview

Außenminister Guido Westerwelle äußert sich in einem Artikel zur Rolle islamischer Parteien bei den Umbrüchen in Nordafrika und der arabischen Welt.

In einem Artikel, der am 13. Januar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen ist, äußert sich Außenminister Guido Westerwelle zur Rolle islamischer Parteien bei den Umbrüchen in Nordafrika und der arabischen Welt.

Dem „Arabischen Frühling“ drohen drei Gefahren: Erstens, die Restauration, also das Wiedererstarken der Kräfte der alten autokratischen anciens régimes. Zweitens, ein wirtschaftliches Scheitern, das soziale Spannungen verschärft und zu neuen Unruhen führt. Drittens, die Unterwanderung des demokratischen Aufbruchs durch radikale, fundamentalistisch-islamistische Bewegungen.

Wir müssen die Umbruchprozesse in Nordafrika und der arabischen Welt politisch und wirtschaftlich unterstützen. Mit Investitionen, Bildungspartnerschaften und offeneren Märkten können wir viel tun, damit sich die wirtschaftlichen Perspektiven und persönlichen Lebenschancen für die Menschen verbessern.

Politisch sollten wir auf die Verankerung demokratischer Institutionen und Prozesse, auf Teilhabe und Pluralität drängen. Wie gehen wir dabei mit politischen Gruppen um, die ihre politische Agenda aus den Wert- und Moralvorstellungen des Islam schöpfen? Da, wo gewählt wurde oder wird, zeichnet sich eine Mehrheit für islamisch-orientierte Kräfte ab. Wie begegnen wir dem Islam in der Politik?

Wichtig ist ein nüchterner und unvoreingenommer Blick. Politischer Islam ist nicht das Gleiche wie radikaler Islamismus. Islamische Orientierung bedeutet nicht per se rückwärts gewandte, anti-moderne, anti-demokratische und unfreiheitliche Gesinnung.

Wir müssen lernen, genau hinzusehen und zu differenzieren. Natürlich sind auch fundamentalistische, also tatsächlich „islamistische“ Gruppen in den politischen Wettbewerb eingetreten, mit denen ein Dialog keine Aussicht auf Erfolg hat. In Tunesien oder Marokko beispielsweise aber sehen wir, dass bislang eher gemäßigte, moderat-islamische Parteien Mehrheiten gewonnen haben.

Es ist notwendig, gerade mit diesen gemäßigten Kräften den Dialog über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft, Politik und Religion zu suchen. Denn von islamischen Werten und nationalen Traditionen inspirierte Parteien haben gegenwärtig die größte Chance, sich langfristig zu mehrheitsfähigen Volksparteien in der Region zu entwickeln. Wir müssen es respektieren, wenn Parteien in den Ländern Nordafrikas Politik mit einem islamischen Wertekompass gestalten möchten, so wie es in Europa selbstverständlich ist, dass viele Parteien sich christlichen Werten verpflichtet fühlen und auf dieser Grundlage ihre politischen Vorstellungen verwirklichen wollen.

Die entscheidende Frage für uns muss sein, wie sich islamisch-politische Parteien zur Demokratie stellen. Sind es islamisch-demokratische Parteien, so wie es im europäischen Parteienspektrum ganz selbstverständlich christlich-demokratische Parteien gibt? Ich bin davon überzeugt, dass die Verbindung zwischen islamischer Ausrichtung und demokratischer Gesinnung, zwischen Islam und Demokratie möglich ist.

In den Transformationsländern Nordafrikas kann sich das praktisch erweisen. Immerhin beziehen sich schon jetzt viele Vertreter gemäßigt-islamischer Kräfte in Nordafrika auf die Entwicklungen in der Türkei. Dort ist mit der AKP – bei allem, was es kritisch zu beobachten gilt – eine Partei zur derzeit stärksten politischen Kraft geworden, die starke islamische Wurzeln hat und sich demokratischen Grundsätzen verpflichtet fühlt.

Wir müssen uns die Programmatik der islamischen Parteien genau ansehen, und vor allem müssen wir sie an ihrem Handeln messen. Wichtig sind das Bekenntnis zu Demokratie und Rechtsstaat, zu einer pluralistischen Gesellschaft und zu religiöser Toleranz sowie zur Wahrung des inneren und äußeren Friedens. Das sind die sechs Kriterien, die wir anlegen und einfordern werden. Wer sich daran hält, kann auf unsere Unterstützung zählen.

In Tunesien hat die Ennahda-Partei die Mehrheit bei den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung gewonnen. Vertreter Ennahdas erklären die Versöhnung von Tradition und islamischer Identität mit den Herausforderungen moderner Gesellschaften zu ihrer Zielvorstellung; sie nennen aber auch Demokratie und Pluralität als politischen Rahmen ihres Wirkens. Nach den Wahlen ist Ennahda mit säkularen, also nicht-religiös ausgerichteten Parteien eine Koalition eingegangen. Das sind ermutigende Zeichen auf dem Weg zu einer Parteienlandschaft, in der islamisch-demokratische Parteien einen wichtigen Platz einnehmen. Wir sollten das Unsere tun, um positive Entwicklungen zu befördern, indem wir Dialog und Unterstützung für einen nachhaltigen Wandel hin zu einer demokratischen und pluralen Gesellschaft anbieten.

Eines ist dabei klar: Der Bruch mit der autokratischen Vergangenheit kann nicht über Nacht erfolgen. Es braucht auf beiden Seiten des Mittelmeers Geduld und langen Atem. Der Arabische Frühling hat tief greifende gesellschaftliche Umbruchprozesse und politische Veränderungen in Gang gesetzt. Mit dem Ende der Autokraten und Diktatoren in Tunesien, Libyen und Ägypten ist die erste revolutionäre Wegstrecke durchschritten. Der noch viel längere Weg des politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Neuaufbaus hat gerade erst begonnen.

Es besteht die Chance, dass sich gemäßigt islamische Kräfte dauerhaft als islamisch-demokratische Parteien etablieren. Wir haben ein großes Interesse daran, dass sich das Leitbild islamisch-demokratischer Parteien verfestigt. Deshalb sollten wir es nach Kräften unterstützen.

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