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„Es kann nur eine politische Lösung in Afghanistan geben“ (Interview)

27.11.2011 - Interview

Außenminister Guido Westerwelle und Verteidigungsminister Thomas de Maizière im Interview zur Situation in Afghanistan eine Woche vor der internationalen Afghanistan-Konferenz in Bonn. Erschienen in der Bild am Sonntag vom 27.11.2011.

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Herr Westerwelle, Herr de Maizière, in der kommenden Woche tagt in Bonn die große Afghanistan-Konferenz. Was kann sie für die Zukunft des Landes am Hindukusch leisten?

WESTERWELLE: In Bonn wird es um drei Themen gehen: Die Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die Afghanen bis 2014, die Fortschritte bei der inneren Aussöhnung und das klare Bekenntnis der internationalen Gemeinschaft, dass wir Afghanistan auch nach 2014 nicht vergessen werden.

Die Isaf-Führung spricht aktuell von einer Wende im Krieg gegen die Taliban. Gewinnt der Westen den Krieg am Hindukusch doch noch?

DE MAIZIÈRE: Es geht hier nicht darum, einen Krieg zu gewinnen. Es geht vielmehr darum, die Sicherheit für Afghanistan in afghanische Hände zu legen. Das wird keine perfekte Sicherheit sein, aber eine ausreichende. Dabei machen wir Fortschritte: Im Norden haben wir in diesem Jahr zum ersten Mal im Vergleich zu den Vorjahren einen Rückgang der Anschläge zu verzeichnen. Wir haben jetzt auch eine fast flächendeckende, gebietsmäßige Überlegenheit. Die Isaf-Truppen haben im Norden die Initiative fast vollständig übernommen. Aber auch in ganz Afghanistan nehmen die Anschläge ab. Diese Fortschritte müssen gesichert und ausgebaut werden.

Herr Westerwelle, Sie haben angekündigt, Deutschland werde nach dem Abzug der Kampftruppen 2014 seine Freunde in Afghanistan nicht vergessen. Wer sind unsere Freunde am Hindukusch?

WESTERWELLE: Unsere Freunde sind die, die sich gegen den internationalen Terrorismus stellen. Denn wir sind zuerst in Afghanistan, um unsere eigene Sicherheit zu schützen. Wir unterstützen aber auch diejenigen, die fundamentale Menschen- und Bürgerrechte schützen wollen, zum Beispiel die Rechte der Frauen. Nach zehn Jahren ist es offenkundig, dass es in Afghanistan keine militärische, sondern nur eine politische Lösung geben kann.

Bei der Bonner Konferenz ist Afghanistan durch eine Staatsdelegation vertreten, die die Kräfte im Lande repräsentieren soll. Heißt das, Sie werden in Bonn auch Vertreter der Taliban begrüßen?

WESTERWELLE: Die Zusammensetzung der afghanischen Delegation wird von Präsident Karsai entschieden. Mir ist wichtig, dass ein respektabler Teil der Delegation aus Frauen besteht. Wir dürfen nicht vergessen, dass es mittlerweile auch ehemalige Taliban gibt, die der Gewalt abgeschworen haben und für die afghanische Verfassung eintreten, ja sogar Parlamentsmitglieder sind.

Würden Sie Vertretern der Taliban am Verhandlungstisch in Bonn die Hand geben?

WESTERWELLE: Ich habe als Außenminister schon manchem die Hand gegeben. Das ist Teil meiner Arbeitsbeschreibung.

Sind die Taliban noch unsere Feinde oder bereits unverzichtbare Partner für die Gestaltung der Zukunft Afghanistans?

WESTERWELLE: Unser Ziel ist ein erfolgreicher Aussöhnungsprozess. Aussöhnung findet nicht zwischen Freunden, sondern zwischen bisherigen Gegnern statt. Daran müssen wir arbeiten, statt darüber zu spekulieren, wer zur Aussöhnung bereit sein könnte.
Junge Männer, die nach vielen Jahren des Kämpfens müde geworden sind, wollen wir dazu bringen, sich von ihren extremistischen Führern loszusagen, die Verfassung zu respektieren und in ihre Dörfer zurückzukehren. Wir helfen ihnen dabei, indem wir ihnen Beschäftigungsmöglichkeiten zum Beispiel beim Straßenbau oder beim Bau von Schulen anbieten.
Niemand weiß heute, ob dieser afghanische Aussöhnungsprozess gelingt. Aber alle stimmen darin überein, dass er versucht werden muss. Dabei gibt es aber Prinzipien, die nicht verzichtbar sind.

DE MAIZIÈRE: Die Soldaten berichten mir, dass die Gewalt nicht einfach von „den Taliban“ ausgeht. Da gibt es externe Kämpfer – auch aus Deutschland, kriminelle Netzwerke und eine Mischung aus kriminellen und politischen Motiven. Je mehr man sich damit beschäftigt, desto weniger klar ist das Feindbild. In dieser Situation kann der Westen nicht einfach sagen: Ihr seid die Bösen, mit euch verhandeln wir nicht. Wir können nicht jeden vom innerafghanischen Aussöhnungsprozess ausschließen, der einmal das Schwert in die Hand genommen hat. Denn nur wenn eine ausreichende Menge der wichtigen Gruppierungen daran mitwirkt, hat das Ganze Aussichten auf Erfolg.

Planen Sie für die Zeit nach 2014 eine rein zivile Zusammenarbeit mit Afghanistan?

DE MAIZIÈRE: Mein russischer Kollege Serdjukow hat mir neulich gesagt, die Sowjetunion habe seinerzeit beim Abzug aus Afghanistan zwei Fehler gemacht: Abzuziehen, ohne Sicherheitsstrukturen aufzubauen, und zeitgleich die Zahlung von Hilfsgeldern einzustellen. Er hat uns dringend geraten, diese beiden Fehler nicht zu wiederholen. Natürlich werden wir weiterhin mit Geld helfen. Wir dürfen aber nicht nur Schecks ausstellen, sondern müssen auch mit Menschen in Afghanistan präsent bleiben. Das bedeutet, dass wir über 2014 hinaus beispielsweise mit Soldaten als Ausbilder Unterstützungsarbeit leisten werden. Das wären dann keine kämpfenden Truppen mehr, aber vielleicht Angehörige von Kampftruppen, die Kampftruppen in Afghanistan ausbilden. Und sie wären ausreichend bewaffnet, um sich schützen zu können.

Ist eine Präsenz deutscher Truppen am Hindukusch unabhängig von den US-Streitkräften überhaupt denkbar?

WESTERWELLE: Nein. Wir Deutsche stellen rund vier Prozent des derzeitigen Truppenkontingents. Es ist zwingend, dass sich die internationale Gemeinschaft auch zukünftig gemeinsam engagiert.

DE MAIZIÈRE: Es ist politisch ein wichtiges Signal, dass auch in Zukunft die Isaf-Staaten gemeinsam handeln. Wir brauchen die Türkei, die Mongolei. Je mehr mitmachen umso besser. Das darf nicht als Ost-West-Frage oder als Aktion Christen gegen Moslems missgedeutet werden können.

Was sind die nächsten konkreten Schritte bei der Übertragung der Sicherheitsverantwortung an die Afghanen?

WESTERWELLE: Ich gehe davon aus, dass Präsident Karsai bis zum Beginn der Konferenz in Bonn die nächsten Regionen bekannt geben wird, in denen die afghanische Seite die Verantwortung für die Sicherheit übernimmt. Thomas de Maizière und ich haben vereinbart, dass noch im Dezember die Gesamtführung am Standort Faisabad in zivile Hände kommt und vom Auswärtigen Amt übernommen wird.

Hunderte deutscher Soldaten sind schwer verletzt an Seele oder Körper aus Afghanistan zurückgekehrt. Können die sich auf die Fürsorge des Staates und die Anerkennung durch die Gesellschaft verlassen?

DE MAIZIÈRE: Der Deutsche Bundestag hat gerade erst mit den Stimmen aller Fraktionen dafür gesorgt, dass sich die Lage der Soldaten, die mit körperlichen oder geistigen Schäden aus Afghanistan zurückkehren, materiell verbessert. Aber natürlich kann man mit Geld nicht alles wiedergutmachen. Zuwendung können Sie nicht per Gesetz verordnen, das muss aus der Gesellschaft kommen. In Deutschland hat es nach 1945 lange Zeit das traurige Schicksal von Kriegsversehrten im Straßenbild gegeben. Dieses Bild wurde durch die Normalisierung beim allgemeinen Umgang mit behinderten Menschen abgelöst. Und jetzt müssen wir uns als deutsche Gesellschaft auch wieder daran gewöhnen, dass versehrte Menschen aus dem Afghanistan-Einsatz ins Straßenbild gehören. Sie brauchen Anerkennung.

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Fragen: Michael Backhaus und Martin S. Lambeck. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Bild am Sonntag.

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