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„10 Jahre nach den Anschlägen in New York und Washington“. Von Staatsminister Werner Hoyer

27.08.2011 - Interview

Beitrag von Staatsminister Werner Hoyer, erschienen in der Ausgabe 09/2011 der Zeitschrift: „Kompass – Soldat in Welt und Kirche“

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Jahrestage bieten Gelegenheit, herausragende politische Ereignisse nach ihrer historischen Bedeutung einzuordnen – eine Rückschau, mit der eine kritische Bewertung des Umgangs mit diesem Ereignis verbunden sein sollte.

Auch der 10. Jahrestag der Anschläge am 11. September 2001 regt an zu vertiefter Betrachtung bisheriger Anti-Terror-Politik, zur vorläufigen Bilanzierung von Erfolgen, Rückschlägen und Fehlern. Dabei muss außerdem die internationale Zusammenarbeit bei der Terrorismusbekämpfung diskutiert werden, ein für unsere auswärtige Politik wichtiger Aspekt des multidimensionalen und vielschichtigen Phänomens „Internationaler Terrorismus“, wie er von al-Qa‘ida propagiert und praktiziert wird.

Historische Zäsur und die Folgen für die Sicherheit in Deutschland und weltweit

Im politischen wie im medialen Diskurs firmieren die Anschläge von New York und Washington vielfach unter dem Kürzel „9/11“ und werden als ein Ereignis von epochaler Dimension gewertet. In der Tat handelte es sich bei „9/11“ um die einzige Angriffshandlung gegen das amerikanische Festland in neuerer Zeit, vorgetragen in einer höchst spektakulären Operation, die in der Folge gerne zum Paradigma für asymmetrische Kriegsführung erklärt wurde; außerdem schienen die Anschläge ein Menetekel zu sein für die weit verbreitete These eines „Kampfs der Kulturen“.

Folgerichtig rief der NATO-Rat am Tag nach „9/11“ zum bisher einzigen Mal den Bündnisfall aus. Ebenfalls am 12. September verabschiedete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen unter Kapitel VII der Charta die Resolution 1368, die Rechtsgrundlage für die gegen den al-Qa‘ida/Taliban-Komplex gerichtete Operation „Enduring Freedom“. Am 20. September 2001 verkündete Präsident Bush vor dem Kongress den „war on terror“; ein Bündel innerstaatlicher Abwehrmaßnahmen folgte am 25. Oktober mit der Annahme des sogenannten „Patriot Act“.

Andere Länder, insbesondere Partnerstaaten der USA, schlossen sich dem Kampf gegen den Terrorismus an: Deutschland beteiligte sich an „Enduring Freedom“; am 1. Januar 2002 trat das Terrorismusbekämpfungs-Gesetz in Kraft. Auch die Weltgemeinschaft reagierte: Neben der bereits erwähnten Resolution 1368 des Sicherheitsrates wurde am 28. September 2001 die Resolution 1373 verabschiedet, die alle Mitgliedsstaaten generell und ohne spezifischen Verweis auf eine Terrorgruppe zur Terrorismusbekämpfung verpfl ichtet.

Der al-Qa‘ida/Taliban-Komplex war bereits mit Resolution 1267 (1999) mit Sanktionen (Vermögenseinfrierung, Reisebeschränkungen, Waffenembargo) belegt worden, die mit Resolution 1390 vom 16. Januar 2002 unter Hinweis auf „9/11“ bestätigt wurden.

Bemerkenswert, jedoch nicht verwunderlich ist die zeitliche Nähe dieser Abwehrmaßnahmen zu dem Ereignis, das sie auslöste. Diese für Staatsapparate eher ungewöhnliche Dynamik war ein Reflex auf die Neuartigkeit der Bedrohung, ihre Konturlosigkeit, auf die totale Konspiration in der Vorgehensweise des terroristischen Gegners. Die mangelnde Berechenbarkeit, die die klassische Beurteilung der Feindlage unmöglich machte, wirkte verstörend – erinnert sei hier auch an die Anschläge unter Verwendung des bakteriologischen Kampfstoffs Anthrax in den USA unmittelbar nach „9/11“. Und nicht umsonst wird in der in 2003 vorgelegten „National Strategy for Combating Terrorism“ der US-Regierung mit Sorge auf den möglichen Einsatz von Massenvernichtungswaffen (MVW) durch Terroristen verwiesen. Ein solches Raisonnement war auch Teil der Rechtfertigung für die Invasion des Irak durch eine US-geführte „Koalition der Willigen“ im März 2003, indem dem MVW-verdächtigen Saddam Hussein Verbindungen zum al-Qa‘ida-Netzwerk nachgesagt wurden – fälschlicherweise, wie sich später herausstellte.

Bei dem Konstrukt eines „Duo infernale“ Saddam Hussein / Usama bin Laden wird ein Grundzug der Terrorismusbekämpfung im Anschluss an „9/11“ deutlich: Unter Heranziehung des klassischen Begriffspaares „Absicht und Fähigkeiten“ („intent and capabilities“) wurde den Terroristen zu Recht ein Höchstmaß an Absicht zu regelloser Gewaltanwendung unterstellt; freilich wurde daraus auch eine Kongruenz von Absichten und Fähigkeiten abgeleitet, die es so nie gab.

Durchaus auch mit Selbstkritik ist festzustellen, dass diese etwas überdehnte Wahrnehmung der terroristischen Bedrohung exakt dem Kalkül der Terrorstrategen entspricht, das auf maximale psychologische Wirkung terroristischer Anschläge in der Zielgesellschaft abstellt. Diese Rezeption der terroristischen Bedrohung in Politik, Medien und Gesellschaft führte zu einer Gewichtsverlagerung im Spektrum der Politikfelder, zu einer relativen Stärkung des Politikfeldes Sicherheit. Auf Grund der substaatlichen Natur der Terrorakteure, der Transnationalität ihres Aktionsraumes und ihrer konspirativen Vorgehensweise sahen viele eine Verwischung der herkömmlichen Trennung von innerer und äußerer Sicherheit; damit ging eine Tendenz zur Überbetonung gegenüber anderen Politikfeldern einher.

Als erste Reaktion auf die „9/11“-Anschläge noch nachvollziehbar, ist eine solche Gewichtsverlagerung als Dauerzustand bedenklich, nicht zuletzt auch unter dem Gesichtspunkt nachhaltig erfolgreicher Terrorismusbekämpfung.

Voraussetzungen dafür sind nämlich nicht nur Effektivität, sondern auch Legitimität und Akzeptanz von Antiterror-Maßnahmen. Hier setzt ein weiteres wichtiges Kalkül der Terrorstrategen an, der Versuch nämlich, westliche Staaten zu diskreditieren, sie der Heuchelei und Doppelmoral zu bezichtigen.

Recht, Freiheit, Sicherheit

Den Ansatzpunkt bietet ein demokratieimmanentes Spannungsfeld: Bei der Terrorabwehr haben westliche Staaten das sensible Verhältnis von Freiheit und Sicherheit nicht immer sorgfältig austariert. Dabei entstandene Dissonanzen werden von Terroristen propagandistisch ausgenutzt. Und solche gab es: Die Exzesse im Gefangenenlager von Abu Ghuraib im Irak haben z. B. Einen Rekrutierungsschub für den islamistisch motivierten Terrorismus ausgelöst. Mit „renditions“ und „black holes“ werden Praktiken der Strafverfolgung umschrieben, die rechtsstaatlichen Normen nicht genügen. Im Zuge robuster

Antiterror-Operationen kommt es zudem immer wieder zu sogenannten „Kollateralschäden“. Im Sinne proaktiver Terrorabwehr haben westliche Staaten auch mit Ländern zusammengearbeitet, deren Menschenrechtsstandards die Normen der Vereinten Nationen nicht annähernd erreichen („Folterregime“).

Generell wurden die Erfordernisse der Terrorismusbekämpfung in der Dynamik nach „9/11“ unzureichend wahrgenommen, dies vor allem unter der Maxime der Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze. Objektiv wurden dadurch die Topoi der al-Qa‘ida-Propaganda – Doppelmoral, Dekadenz, Islam-Feindlichkeit des Westens – bedient.

Gleichzeitig erfuhr die terroristische Bedrohung durch die Schärfe und das Ausmaß der Gegenmaßnahmen quasi eine Bestätigung; sie wurde in einer Weise hochgehalten, die die Frage nach Proportionalität aufkommen lässt. Etwas pointiert lässt sich feststellen, dass die nach „9/11“ ergriffenen Antiterror-Maßnahmen den al-Qa‘ida-inspirierten Terrorismus materiell geschwächt haben, nicht jedoch in gleichem Maße seine Anziehungskraft.

Diese Diskrepanz aufzuheben, ist Aufgabe künftiger Antiterror-Politik. Ansätze hierzu sind festzustellen: Im UN-Sanktionsregime etwa, das immer wieder Kritik wegen intransparenter Verfahren ausgesetzt war, wurde durch die am 17. Juni dieses Jahres verabschiedete Resolution 1989 des Sicherheitsrates das Amt der Ombudsperson gestärkt. Terrorverdächtige, die durch Aufnahme in entsprechende Listen mit durchaus einschneidenden Sanktionen belegt werden, können bei der Ombudsperson ihre „Entlistung“ beantragen; diese kann mit ihrem Votum eine Streichung aus der Liste maßgeblich befördern.

Die Ende Mai d. J. vorgelegte dritte Fortschreibung der „National Strategy for Counterterrorism“ der USA spricht nicht mehr vom „war on terror“; vielmehr werden ganz spezifi sch al-Qa‘ida und assoziierte Gruppen als Gegner bezeichnet, die von speziellen Einsatzkräften unter Anwendung adäquater Methoden bekämpft werden sollen. An prominenter Stelle werden die Grundprinzipien genannt, nach denen die Antiterror- Bemühungen sich richten; hier sind an erster Stelle zu nennen die Grundwerte der US-Gesellschaft (Beachtung der Menschenrechte, Stärkung von „good governance“, Rücksichtnahme auf private und zivile Freiheiten, Bewahrung der Rechtsstaatlichkeit).

Grenzen in der Bekämpfung des internationalen Terrorismus

Um zum Abschluss die Frage nach den Grenzen internationaler Terrorismusbekämpfung aufzugreifen: Hier scheint zunächst eine Klarstellung angezeigt. „Grenzen“ werden hier nicht so verstanden, dass internationale Terrorismusbekämpfung letztlich nicht erfolgreich sein kann. Das kann sie durchaus, vorausgesetzt die „Grenzen“, wie wir sie verstehen, werden eingehalten. Diese werden bestimmt durch ein ausgewogenes Verhältnis von Effektivität und Legitimität der Antiterror-Maßnahmen, das maßgeblich ist für ihre Akzeptanz.

Etwas plakativ formuliert: Rigoroses und unsensibles Durchgreifen heute schafft die terroristischen Gegner von morgen.

Zehn Jahre nach „9/11“ ist der al-Qa‘ida-inspirierte Terrorismus sicherlich noch nicht überwunden. Terrorstrukturen sind anpassungsfähig, auch innovativ, etwa in der Nutzung moderner Kommunikationstechnologie. Regionale Instabilität, der Verfall staatlicher Ordnung bieten Gelegenheit zur Schaffung von Rückzugsräumen. Dennoch gab es Erfolge bei Antiterror- Maßnahmen. Personelle und materielle Verluste durch speziell entwickelte operative Methodik haben daran ihren Anteil.

Noch wichtiger freilich ist das offensichtliche Versagen der al-Qa‘ida-Botschaft bei der politischen Neugestaltung in der arabischen Welt. Wirksam sind hier in erster Linie Ansprüche auf „good governance“, die es zu unterstützen gilt – wohlverstanden auch als langfristiger und wesentlicher Beitrag zur Terrorprävention.

Besonderer Dank gilt Herrn Dr. Manfred Mimler für seine Unterstützung bei der Ausarbeitung dieses Artikels.

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