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Staatsminister Hoyer vor dem Deutschen Bundestag zur Lage in Libyen

24.02.2011 - Rede

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn wir in diesen Tagen auf Libyen schauen, dann sehen wir dort genau das Gegenteil dessen, was wir als human, ethisch und verantwortbar bezeichnen und anstreben. Wir sehen Verwüstung, Verzweiflung, Verletzte und unzählige Tote.

Das Bild ist natürlich nicht komplett. Der Informationszugang ist begrenzt. Es ist wieder einmal eine Situation, in der wir uns bewusst machen können, welche Bedeutung eine freie, überall tätig sein dürfende Presse fur uns hat. Wir sehen Menschen, die gezielt ermordet werden, weil sie ihre Freiheit und ihre Würde zurück erlangen wollen.

Wir sehen einen Diktator, der nach 40 Jahren Herrschaft nicht davor zurückschreckt, mit offen kommuniziertem Vernichtungswillen gegen das eigene Volk vorzugehen. Wir sehen einen Diktator – hier liegen die Unterschiede zu den anderen Ereignissen der letzten Wochen –, der sich zu einer Zeit, wo sich andere konstruktiv in den Nahost-Friedensprozess eingebracht haben, für einen anderen Weg entschieden hat. Wir sehen einen Diktator, der unverhohlen auf das Instrument der Erpressung setzt – nicht erst jetzt. Ich wiederhole dies deshalb, weil wir Europäer uns bewusst sein müssen, um was für ein Regime es sich hier handelt. Wir alle haben die letzte Rede Gaddafis im Fernsehen gesehen. Sie war nicht nur bizarr und schockierend, sie weckte auch deutliche Zweifel an seinem Realitätssinn.

Aber das macht es gerade so gefährlich. Die Lage vor Ort bleibt unübersichtlich. Wir schauen daher äußerst besorgt und angesichts des Vorgehens des Regimes sehr empört auf die Lage in Libyen.

Anders als in Ägypten sind in Libyen die Voraussetzungen für den Sieg der Freiheit ungleich schwerer. Das liegt am Regime. Das liegt natürlich aber auch an den schwierigen tribalen Strukturen des Landes. Es ist gewissermaßen eine Parallele zu dem, was wir in den 90er-Jahren im früheren Jugoslawien gesehen haben, wo alle ethnischen Konflikte plötzlich wieder hochkamen und virulent wurden, nachdem die Eisdecke des Kommunismus weggezogen worden war. In Libyen ist unter dem Wüstensand vieles verborgen geblieben, was es an tribalen Konflikten gegeben hatte, bis Gaddafi vor mehr als 40 Jahren die Macht übernahm.

Unsere erste Sorge gilt natürlich den deutschen sowie den europäischen und nichteuropäischen Staatsangehörigen. Viele der ursprünglich über 600 deutschen Staatsangehörigen konnten das Land inzwischen verlassen. Die Evakuierungsmaßnahmen laufen weiterhin auf Hochtouren. Zusätzliche Kapazitäten wurden sowohl kommerziell als auch seitens der Bundeswehr bereitgestellt. Ich bedanke mich bei der Bundeswehr ebenso wie bei der Lufthansa für die hervorragende Zusammenarbeit. Wir konnten Deutsche auch auf anderem Wege, per Schiff und auf dem Landweg, aus dem Land herausholen. Wir danken unseren Partnern, die in ihre Evakuierungsbemühungen auch deutsche Staatsbürger einbezogen haben, so wie wir es umgekehrt selbstverständlich auch getan haben.

Die Bundeskanzlerin und der Bundesaußenminister haben von Anfang an die Gewaltanwendung des libyschen Regimes mit deutlichen Worten verurteilt und ein sofortiges Ende der Gewalt gefordert. Europa hat sich inzwischen deutlich positioniert. Als derjenige, der am Sonntag und am Montag die Verhandlungen für Deutschland im Rat geführt hat, sage ich: Ich hatte mir gewünscht, Europa wäre schneller, deutlicher und geschlossener gewesen.

Ich bin mir der Probleme der Südländer der Europäischen Union selbstverständlich bewusst, und wir haben auch keinen Nachholbedarf an Solidarität. Aber das darf nicht dazu führen, unsere eigenen Werte zu verraten.

Wir müssen hier in dieser Angelegenheit klar Position beziehen. Wir haben das im Außenministerrat am Montag, wie ich finde, noch nicht endgültig befriedigend getan. Mittlerweile hat das Politische und Sicherheitspolitische Komitee der Europäischen Union nachgelegt, sodass wir damit jetzt ganz zufrieden sein können. Aber es ist schon bemerkenswert, dass der Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen, der nicht zuletzt auf deutsches Betreiben hin zusammengetreten ist, in dieser Frage eine klarere Positionierung vorgenommen hat. Wir werden den Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen auch noch an manchen Stellen brauchen.

Außenminister Westerwelle hat früh auf die Notwendigkeit von Sanktionen hingewiesen, sollte das System seinen Kurs der Gewalt gegen die eigene Bevölkerung weiterverfolgen. Das ist leider der Fall.

Nein. Es gibt hier gar keinen Zweifel, dass dann, wenn diese Gewaltexzesse weitergehen – und sie gehen weiter –, an Sanktionen kein Weg vorbeiführt. Diese kann man allerdings nicht einmal eben aus dem Ärmel ziehen. Wenn Sie zum Beispiel Asset Freeze machen wollen, müssen Sie schon sehr präzise die Konten, deren Inhaber und den strafrechtlich relevanten Vorwurf definieren. Man kann sich also nicht überschlagen; aber an Sanktionen geht kein Weg vorbei.Morgen wird sich auch der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen mit dem Thema Libyen befassen, das ja pikanterweise Mitglied des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen ist.

Wir dürfen über die eskalierende Lage in Libyen die Situation und die Entwicklung in den anderen Ländern der Region nicht vernachlässigen.

Diese ist – das müssen wir uns immer wieder klarmachen – in jedem der betroffenen Länder anders.

Wir haben kein geschlossenes, homogenes Bild für die Problemlagen in den nordafrikanischen und arabischen Ländern. Aber eines ist völlig klar: Die Europäische Union muss ihre Nachbarschaftspolitik neu kalibrieren, und zwar gilt das für die Mittelmeerpolitik ebenso wie für die Politik gegenüber dem Osten; denn die Diskussion, die wir jetzt über Gaddafi und andere „nette“ Menschen führen, haben wir vor wenigen Wochen auch über Lukaschenko geführt. Das Grundproblem bleibt.

Daraus müssen wir die entsprechenden Konsequenzen ziehen.

Wir haben seitens der Bundesregierung in der letzten Woche konkrete Vorschlage für eine Neuausrichtung der Politik der Europäischen Union vorgelegt. Dadurch, aber auch bereits durch frühere deutsche Beitrage zu den Diskussionen um Tunesien und Ägypten ist es uns gelungen, den Entscheidungsfindungsprozess in der Europäischen Union nachhaltig zu prägen. Auch da muss ein Bewusstseinswandel stattfinden. Wir können es uns nicht mehr leisten, dass es in der Europäischen Union Länder gibt, die aufgrund ihrer geografischen Positionierung in Europa entweder nur nach Süden oder nur nach Osten blicken. Als Mitglied der großen Europäischen Union und auch des Binnenmarktes der Europäischen Union ist eben auch Finnland ein Mittelmeerland.

Wir müssen auch diejenigen, die weit vom Mittelmeerbereich entfernt sind, mit in die Verantwortung nehmen; genauso geht auch das, was in Weißrussland passiert, einen Portugiesen etwas an. Wir als Deutsche sind diejenigen, die es sich aufgrund ihrer zentralen Lage – geografisch, politisch und auch wirtschaftlich – am allerwenigsten leisten können, den Blick nur auf den Süden oder nur auf den Osten zu verengen. Deswegen werden wir auch hier eine engagierte Führungsrolle wahrnehmen.

Es geht jetzt im Kern darum, Ländern wie Ägypten und Tunesien eine Transformationspartnerschaft anzubieten. Wir müssen bei der Gratwanderung zwischen Ownership, die wir immer in den Vordergrund rücken müssen, und Verteidigung der eigenen Werte insbesondere demokratische und rechtsstaatliche Transformationsprozesse gezielter unterstützen. Es kann nicht im Sinne des Erfinders sein, dass am Ende eines rein formalen Wahlprozesses entweder diejenigen, die jetzt schon recht gut organisiert sind, wieder die alten Strukturen befestigen oder diejenigen, die aufgrund ihrer bisherigen Organisation in der Opposition einen riesigen Vorteil gegenüber anderen haben, am Ende des Tages sagen: Jetzt haben wir die Wahlen gewonnen; das waren auch die letzten Wahlen, die in diesem Land stattgefunden haben. Das ist die Lehre, die wir aus den Erfahrungen mit Algerien in den 90er-Jahren gezogen haben.

Deswegen müssen wir uns so stark einbringen und Angebote bei der Entwicklung des rechtsstaatlichen und verfassungsrechtlichen Rahmens für die beteiligten Länder machen.

Meine Damen und Herren, seien wir aber auch ehrlich: Die Menschen in Tunesien, in Ägypten und in anderen Ländern haben nach Freiheit gerufen, nach Partizipation, nach Würde; aber sie haben auch nach Brot gerufen. Wenn keine Verbesserung der sozialen und ökonomischen Lage erreicht wird, kann der ganze Prozess, der uns mit so viel Mut und so viel Freude ausgestattet hat, auch schnell in sich zusammenbrechen. Deswegen müssen wir auch ökonomisch handeln. Das heißt, wir müssen sehen, wann und wie – möglichst schnell, sofern verantwortbar – der Tourismus wieder in Gang gesetzt werden kann. Dass das gegenwärtig nicht möglich ist, ist ein riesiger Verlust für ein Land wie Tunesien. Aber wir müssen auch – das müssen wir in der Europäischen Union klar durchdeklinieren – unsere Märkte öffnen.

Ich erinnere mich an entsprechende Vorgänge aus den 90er-Jahren. Damals wurde gesagt: Wenn wir den Menschen in Nordafrika keine Perspektive bieten können, weil wir beispielsweise noch nicht einmal ein paar Tonnen Dosentomaten aus Marokko in die Europäische Union importieren wollen, dann werden wir unglaubwürdig. Auch bei diesem Thema muss sich daher etwas ändern.

Die Migrationsfrage wird uns sehr beschäftigen. Sie hat bisher, seien wir ehrlich, eine überschaubare Dimension.

Die Bilder sind furchtbar. Sie sind deshalb so furchtbar, weil man relativ schlecht vorbereitet war und weil man die Lager zwischenzeitlich geschlossen hatte. Wenn ich die Gesamtzahl der Flüchtlinge mit der Zahl von Asylbewerbern, die es in Deutschland im Jahr 2010 gab, vergleiche, dann muss ich sagen, dass die Situation nicht so dramatisch ist. Aber dies kann sich ändern, wenn wir es nicht schaffen, den Menschen vor Ort wieder eine Perspektive zu bieten. Das kann sich ändern, wenn die Gewaltexzesse weitergehen. Am Ende des Tages werden wir es an Solidarität sicherlich nicht fehlen lassen. Aber gegenwärtig ist all das, was angesichts dieser Situation gefordert wird, ein bisschen übertrieben.

Wir haben eine klare Aufgabe. Das Fenster der Freiheit ist geöffnet. Ob es möglicherweise vorzeitig wieder geschlossen wird, wird von den Menschen in den betroffenen Ländern abhängen. Ich mochte aber nicht, dass wir uns eines Tages den Vorwurf machen müssen, dass wir den Menschen nicht genügend geholfen haben, die Möglichkeit der Freiheit zu nutzen.

Vielen Dank.

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