Willkommen auf den Seiten des Auswärtigen Amts

Region im Aufbruch

17.02.2011 - Interview

Beitrag von Bundesaußenminister Guido Westerwelle, erschienen im Tagesspiegel vom 17.02.2011

------------------------------------------------------

Tunesien, Ägypten und eine ganze Region stehen vor dem Scheideweg. Eine Revolution aus der Mitte der Gesellschaften, mit Hilfe von Jasmin und Facebook, hat die autokratischen Herrscher davon gejagt. Das ist einmalig in der jüngeren arabischen Geschichte; Erinnerungen an 1989 liegen in der Luft.

Das Fenster der Freiheit wurde geöffnet – aber die Zukunft ist noch nicht gewonnen. Neue, demokratische Strukturen müssen erst noch entstehen. Die Gefahr des Rückfalls in autoritäre Systeme ist nicht gebannt. Die Demokratie wird sich nur entwickeln können, wenn die Freiheit auch Wohlstand bringt. Anderenfalls könnten sogar radikale Kräfte Nutznießer des demokratischen Aufbruchs werden.

Tunesier und Ägypter müssen ihre Zukunft selbst gestalten. Doch Deutschland und Europa haben ein Interesse, dass sich diese Region in unserer unmittelbaren Nachbarschaft in Richtung Demokratie entwickelt. Deshalb bieten wir unsere Unterstützung beim notwendigen Transformationsprozess an. Folgende Punkte sind zentral:

Erstens: Die Verankerung freiheitlicher Werte und eine lebendige Zivilgesellschaft. In Tunis und Kairo haben die Menschen für die Freiheit und demokratische Rechte demonstriert. In Tunis habe ich einen Blogger getroffen, der für den Wandel gestritten hat und ihn jetzt als Staatssekretär mit gestalten möchte. Presse- und Meinungsfreiheit sind dabei zentral. Ausbildungsangebote für Journalisten können beispielsweise helfen, dass die neue Freiheit lebendig wird.

Zweitens: Freie und faire Wahlen und der Aufbau von unabhängigen politischen Parteien. Wir werden die Vorbereitung und Durchführung der Wahlen unterstützen. Aber die Demokratie kann nicht von heute auf morgen wachsen. Insbesondere die Kräfte der sich neu formierenden demokratischen Opposition brauchen Zeit, um sich zu organisieren. Unsere politischen Stiftungen mit ihrer weltweiten Erfahrung können das Entstehen eines wirklichen Parteienpluralismus fördern.

Drittens: Der Aufbau einer unabhängigen Justiz. Sie ist eine unverzichtbare Säule jedes stabilen und demokratischen Staates. In Tunis wurde eine Kommission mit der Reform des Justizwesens beauftragt. Wir haben ihr unsere Beratung bereits angeboten.

Viertens: Die Schaffung von Bildungs- und Entwicklungsperspektiven. Der Bildungshunger junger Menschen in der Region ist das Kapital der Zukunft. Ägypten hat eine großartige Bildungstradition, Kairo ist Sitz einer der ältesten Universitäten der Welt. Jedes Jahr drängen hunderttausende Schulabgänger auf den Arbeitsmarkt. Wir setzen auf verstärkten akademischen Austausch, zusätzliche Stipendien und eine Berufsbildungsinitiative, damit diese jungen Mensche ihre Chancen nutzen können.

Fünftens: Wirtschaftliche Freiheit und wirtschaftliche Chancen. Die Menschen sind auf die Straße gegangen, um etwas aus ihrem Leben zu machen. Aufgrund ihrer jungen und wachsenden Bevölkerungen benötigen Ägypten und Tunesien 6% Wirtschaftswachstum pro Jahr, damit neue Jobs entstehen. Allein in Tunesien schaffen über 250 deutsche Unternehmen Zehntausende von Arbeitsplätzen. Die Region braucht Investitionen in Zukunftsbranchen wie erneuerbaren Energien. Europa muss seine Märkte für weitere Produkte aus der Region öffnen.

Sechstens: Regionale Stabilität. Ägypten ist das bevölkerungsreichste Land der arabischen Welt. Was dort passiert, hat Auswirkungen auf die gesamte Region. Ägypten hat bislang eine moderate und konstruktive Rolle im Nahen Osten gespielt. Wir erwarten von jeder künftigen Regierung in Kairo, dass sie sich zur Aussöhnung mit Israel und dem Frieden im Nahen Osten bekennt.

Die Menschen in Tunesien und Ägypten haben den Aufbruch zur Demokratie gewagt. Der Begeisterung auf der Straße muss jetzt die Beharrlichkeit beim Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft folgen. Nur wenn der revolutionäre Geist in nachhaltigem Wandel und neuen Chancen mündet, werden die Menschen nicht auf Boote steigen und ihr Glück anderswo suchen. Die Transformation kostet Kraft und braucht Partner. Als Nachbar darf sich Europa dieser Aufgabe nicht verweigern.

Verwandte Inhalte

Schlagworte

nach oben