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Rede von Außenminister Guido Westerwelle bei der zentralen Gedenkveranstaltung zum Volkstrauertag, 14. 11. 2010 in Berlin
-- Es gilt das gesprochene Wort --
Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
sehr verehrte Frau Wulff,
sehr verehrte Frau Bundesratspräsidentin,
sehr geehrter Herr Bundestagspräsident,
sehr geehrter Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts,
sehr geehrter Herr Präsident des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
sehr geehrter Herr Nuntius,
Exzellenzen,
meine Damen und Herren,
wir gedenken am heutigen Volkstrauertag all der Menschen, die durch Krieg und Terror, Gewalt und Diktatur ihr Leben verloren haben.
Wir gedenken heute derer, die wegen ihrer Überzeugung, ihrer Religion, ihrer Rasse, ihrer sexuellen Orientierung oder einfach nur weil sie sind, wer sie sind, verfolgt, geschunden und ermordet wurden.
Wir wissen, wie weit die Schrecken des Krieges und der Gewalt fortwirken. Kriege werfen lange Schatten. Auch auf die Generationen, die den Krieg selbst nicht miterleben mussten.
Krieg, Gewalt und Verfolgung sind keine Geißeln des vorigen Jahrhunderts allein. Auch unser noch junges 21. Jahrhundert ist voll von Konflikten, die Leid und Tod über Millionen Menschen bringen. Unsere Welt ist nicht friedlich.
Täglich erreichen uns Berichte und Bilder von menschlichen Tragödien, die Leben kosten. Wir wissen um die Macht dieser Bilder, die zugleich eine Ohnmacht offen legt. Wir dürfen nie vergessen: Hinter jedem Opfer steht eine persönliche Geschichte. Jedes Opfer wird vermisst.
Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge kümmert sich um Orte der letzten Ruhe. Er gibt den Toten Würde und den Lebenden einen Ort der Trauer und der Begegnung.
Der Volksbund erfüllt seine Aufgaben im Auftrag der Bundesregierung. Hierfür möchte ich Ihnen, lieber Herr Führer, ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und dem Volksbund insgesamt ausdrücklich danken.
Die Arbeit des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge wird getragen durch das ehrenamtliche Engagement tausender Mitbürgerinnen und Mitbürger. Über eine Million Spender und Unterstützer tragen dazu bei, dass der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge seine wichtigen Aufgaben erfüllen kann. Diese breite gesellschaftliche Unterstützung ist Ausdruck der großen Anerkennung der Arbeit des Volksbundes. Sie belegt ebenso das tiefe Bedürfnis unserer Gesellschaft, den Toten ein würdiges Andenken zu geben.
Mit dem Fall des Eisernen Vorhangskonnte der Volksbund seine Arbeit auch in den mittel- und osteuropäischen Staaten aufnehmen. In Russland, zuletzt in Kursk und Smolensk, in Weißrussland und in der Ukraine konnten in den vergangenen Jahren mehrere Kriegsgräberstätten angelegt werden. Aber auch 65 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist die Arbeit des Volksbundes noch längst nicht abgeschlossen.
Vor wenigen Wochen wurde in Eger die jüngste deutsche Kriegsgräberstätte eingeweiht. Nach mehrjährigen Bemühungen haben nun etwa 5000 Tote eine letzte Ruhestätte gefunden.
Erst in dieser Woche wurde der Fund eines Massengrabes in Slowenien bestätigt, in dem tausende Menschen seit Ende des Zweiten Weltkriegs verscharrt liegen.
Mit der Anlage und der Pflege von über 800 Kriegsgräberstätten für fast zwei Millionen Kriegstote in 45 Ländern hat der Volksbund nicht nur Orte des Gedenkens, sondern auch Lernstätten der Geschichte geschaffen. Die Überschrift „Versöhnung über den Gräbern – Arbeit für den Frieden“ beschreibt die großen Aufgaben und die politisch bedeutsame Arbeit des Bundes genau.
Bundespräsident Professor Theodor Heuss hielt die erste Rede zum Volkstrauertag in der noch jungen Bundesrepublik. Darin zitierte er einen Soldaten, mit dem er zuvor über seine Gedanken gesprochen hatte, mit den Worten: „Vergessen Sie nicht, die Empfindungen der deutschen Mütter und Gattinnen sind auch die der englischen, französischen, italienischen, amerikanischen, auch der russischen Frauen.“ Das individuelle Kriegsleid von Millionen Familien sowohl auf Seiten der Besiegten und Befreiten als auch auf Seiten der Sieger und Befreier wurde zu einer verbindenden Kraft für Versöhnung und Frieden, die bis heute wirksam ist.
Wo Feindschaft und Misstrauen lange das Verhältnis beherrschten, konnte neues Vertrauen entstehen.
Vertrauen ist etwas Kostbares. Zwischen Staaten genauso wie zwischen Menschen. Es braucht Zeit zu wachsen und ist rasch zerstört. Vertrauen braucht feste Grundlagen. Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit können Vertrauen begründen. Vertrauen geht aber immer über gute Gründe hinaus und wagt den Schritt ins Ungewisse, ins Neue. Das macht die Kraft von Vertrauen aus.
Vor 65 Jahren vertraute niemand den Deutschen. Deutschland hatte sich selbst außerhalb der Staatengemeinschaft gestellt. Vor diesem Hintergrund haben die Väter und Mütter des Grundgesetzes in der Präambel der deutschen Politik einen klaren Auftrag gegeben: „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. Mit diesem Kompass haben wir uns über Jahrzehnte das Vertrauen erarbeitet, das die deutsche Einheit vor 20 Jahren erst möglich machte. Dieser Kompass bestimmt auch heute den Kurs unseres Landes.
DieWahl Deutschlands in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen erfolgte nur ein paar Tage, nachdem wir den 20. Geburtstag der Deutschen Einheit feiern durften. Beide Ereignisse haben etwas mit dem Vertrauen zu tun, das Deutschland in der Welt entgegengebracht wird.
Das große Verdienst der Nachkriegs-Generationen ist die Aussöhnung mit unseren Nachbarn. Die Arbeit des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge hat ihren Anteil daran.
Wir sind heute auf gutem Weg, im Verhältnis zu Polen das zu erreichen, was über Jahrzehnte zwischen Deutschen und Franzosen gewachsen ist. Wir wollen das Zusammenwachsen Europas auch Richtung Osten vollenden. Die Vollendung der Aussöhnung mit Polen bleibt unsere historische Aufgabe.
Die Europäische Union ist das Fundament deutscher Außenpolitik. Europa heißt mehr Freiheit, mehr Sicherheit und mehr Wohlstand für alle. Aber vor allem ist die europäische Einigung von Beginn an ein einzigartiges Friedensprojekt. Sie hat die Konfrontation in Europa überwunden und durch ein Modell der Kooperation und der Integration ersetzt.
Wenn wir gelegentlich über Europa klagen, dann dürfen wir nie vergessen, was uns Europa wert ist. Hätte uns Europa nicht mehr gebracht als jahrzehntelangen Frieden auf unserem Kontinent, es hätte sich schon gelohnt.
Ich mache mir Sorgen um Europa. Vor einer Renationalisierung gegen Europa kann ich nur warnen. Wer als Antwort auf die Euro-Krise vom Frühjahr den europäischen Gedanken in Frage stellt, der hat aus der Geschichte nichts gelernt. Kooperation kann anstrengend sein. Wer aber die Folgen von Konfrontation kennt, wer die europäische Geschichte kennt, der weiß, dass Kooperation jede Mühe wert ist.
Das Erfolgsgeheimnis der europäischen Einigung ist der Tisch in Brüssel, an dem alle EU-Staaten unabhängig von ihrer Größe gleichberechtigt und ebenbürtig sind. Die Union ist nicht geteilt in wichtige und unwichtige Staaten. Wir konnten Jahrhunderte der Konfrontation nur deshalb durch das Prinzip der Kooperation überwinden, weil wir uns auf gleicher Augenhöhe begegnen.
Jeder Mensch schuldet jedem Menschen Respekt. Jedes Land schuldet jedem Land Respekt.
Das gilt in Europa, und das gilt in der Welt.
Frieden, Freiheit und Menschenrechte sind auf der Welt auch heute an vielen Orten bedroht. Deutschland stellt sich seiner internationalen Verantwortung. Das ist eine Verpflichtung, die sich auch aus unserer eigenen Geschichte ergibt. Im sogenannten Dritten Reich ging erst die Achtung der Menschenrechte Einzelner verloren, dann die Freiheit aller in Deutschland und dann der Frieden in Europa und in der Welt.
Heute wird unser Eintreten für Frieden, Freiheit und Menschenrechte weltweit geschätzt. Deutschlandist an mehreren Friedenseinsätzen beteiligt. Alle haben ein klares Mandat der Vereinten Nationen. Militärische Mittel bleiben für uns ultima ratio. Deutschland steht auch künftig für eine Kultur der Zurückhaltung, wenn es um den Einsatz militärischer Macht geht.
Der Einsatz in Afghanistan zeigt uns, wie gefährlich die Arbeit für Frieden und Menschenrechte sein kann. 44 Landsleute haben ihren Dienst dort mit dem Leben bezahlt. Ihrer gedenken wir heute ebenfalls. Ihren Angehörigen gilt unser tief empfundenes Mitgefühl.
Unsere Gedanken sind bei allen, die fernab ihrer Heimat für uns alle ihren wichtigen Dienst tun: Bei den Soldatinnen und Soldaten, den Polizistinnen und Polizisten, den Entwicklungshelferinnen und Entwicklungshelfern, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Nichtregierungsorganisationen und den Diplomatinnen und Diplomaten. Ihnen allen sind wir dankbar. Und wir sind stolz auf das, was sie leisten.
Unser Land schaut nicht weg, wenn Menschenleben in Gefahr sind. Deutschland engagiert sich für Sicherheit, wo Menschen sich ihres Lebens nicht sicher sein können. Wir wollen helfen, Freiheit dort zu schaffen, wo Menschen heute noch in Unfreiheit leben müssen.
Wir nehmen unsere Verantwortung wahr im Jemen, in Somalia und auch im Nahen Osten. Vergangene Woche bin ich von meiner dritten Reise nach Nahost zurückgekehrt. Wir sollten uns nicht vormachen, dass wir den Schlüssel zu einer friedlichen Lösung in unserer Hand hielten. Aber wir wollen alles tun, um den fragilen Prozess hin zu einer Zweistaatenlösung zu befördern und zu stärken.
Deutschlandsbeharrliches Ringen um friedliche Konfliktlösungen sollte niemand mit einem Mangel an Realismus verwechseln. Unsere Möglichkeiten, gescheiterte oder zerfallende Staaten zu stabilisieren, sind begrenzt. Die wichtigste Voraussetzung für die Überwindung von Gewalt bleibt die Friedenssehnsucht und die Versöhnungsbereitschaft derer vor Ort.
In Europa ist es in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gelungen, ein neues Kapitel der Überwindung des Hasses und der Versöhnung aufzuschlagen. Gerade wir Europäer, insbesondere wir Deutsche, sind deshalb aufgerufen, weltweit und immer wieder für Verständnis und Aussöhnung zu werben, damit Frieden möglich wird.
Politik ist weit mehr als staatliches Handeln. Die Toten lehren uns, dass die Gemeinschaft Verantwortung für jeden einzelnen Menschen trägt. Sie lehren uns auch, dass jeder Mensch Verantwortung trägt für die Gesellschaft, in der er lebt. Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe sind Werte, die keinen Unterschied nach Hautfarbe oder Glauben machen. Das gilt für unser Zusammenleben in Deutschland und das gilt auch für Deutschlands Handeln in der Welt.
Der Volkstrauertag mahnt uns, den Wert des Lebens und die unveräußerliche Würde des Menschen als das anzuerkennen, was sie sind, nämlich das höchste Gut.