Willkommen auf den Seiten des Auswärtigen Amts
Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier vor dem Deutschen Bundestag zu Afghanistan
Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier hat vor dem Deutschen Bundestag dafür plädiert, die Luftangriffe in Kundus erst nach sorgfältiger Untersuchung zu bewerten. Deutschland sei in sein Engagement in Afghanistan nicht kopflos hineingestolpert, deshalb dürfe man dort auch nicht kopflos hinaus.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Noch wissen wir nicht genau, wie viele Menschen bei dem Luftangriff am vergangenen Freitag in Afghanistan ums Leben gekommen sind. Noch wissen wir nicht, wie viele Zivilisten unter den Opfern waren. Aber eines wissen wir: Dieser Luftangriff war nicht irgendein bedauerlicher Zwischenfall, und wir können nach diesem Ereignis natürlich nicht ohne weiteres zur Tagesordnung übergehen. Dieser Freitagmorgen hat, ob wir das wollen oder nicht, ein Schlaglicht auf unseren Afghanistan-Einsatz geworfen und ihn neu ins Rampenlicht gerückt. Natürlich gibt es, das verstehe ich, darüber eine öffentliche Diskussion. Ich verstehe auch, dass Diskussionen nicht nur bei uns, sondern auch im europäischen und außereuropäischen Ausland geführt werden.
Eines allerdings verstehe ich nicht, das können wir auch nicht so lassen, nämlich dass, bevor die Untersuchungen abgeschlossen sind, Vorverurteilungen, auch im Ausland, stattfinden. Deshalb habe ich seit dem vergangenen Wochenende mit vielen europäischen Außenministern telefoniert und ihnen gesagt: Ihr müsst bitte genauso abwarten wie wir, bis öffentlich beurteilt werden kann, ob der Einsatz gerechtfertigt war oder nicht.
Ich habe aber nicht nur mit den europäischen Kollegen telefoniert, sondern vor allen Dingen vorgestern auch mit meinem afghanischen Kollegen, Herrn Spanta. Ich habe ihm im Namen der Bundesregierung das Mitgefühl für die möglicherweise unschuldigen Opfer zum Ausdruck gebracht, die es gegeben hat. Vor allen Dingen habe ich ihm versichert, dass es bei unserer Philosophie und unserem Verständnis des Einsatzes bleibt.
Niemand hier im Saal war so naiv, zu glauben, dass der Kampf gegen den Terrorismus in Afghanistan nur mit militärischen Mitteln zu gewinnen sei. Weit vor anderen haben wir gesagt, dass wir in Afghanistan nur dann miteinander Erfolg haben werden, wenn wir diesem in 30 Jahren Krieg und Bürgerkrieg geschundenen Volk helfen, wieder auf die Beine zu kommen. Wir haben immer gesagt, dabei bleibt es: Wenn es notwendig ist, gegen terroristische Kräfte vorzugehen, dann müssen dabei zivile Opfer vermieden werden. Das war unsere Politik in allen Gremien der NATO. Ich freue mich, dass wir uns damit durchgesetzt haben. Aber ich weiß auch: Wie immer die Untersuchung ausgeht, die im Augenblick stattfindet, einfacher wird es insgesamt natürlich nicht. Ich sehe das ja im Augenblick auf den Straßen. Es gibt viele, die unterwegs sind und nach den ganz einfachen Antworten suchen. Es werden Schilder mit der Aufschrift „Sofort raus aus Afghanistan“ hochgehalten. Menschlich kann man das noch nachvollziehen. Das ist unangenehm. Das ist quälend. Es geht nicht schnell genug; es ist gefährlich. Aber ich sage auch: So menschlich verständlich es ist, dass man sich von Aufgaben, die unangenehm sind, trennen möchte, möglichst nichts damit zu tun haben will, so ist das gleichzeitig unpolitisch und unhistorisch und deshalb nicht zu verantworten.
Viele, die so tun, als gäbe es eine einfache Antwort, haben aus meiner Sicht ein paar Dinge vergessen, nämlich dass das Nein zum Irakkrieg und das Ja zu unserem Afghanistan-Engagement zusammengehören und dass am Anfang etwas war, das dürfen wir in einer solchen Debatte nicht einfach zynisch übergehen: 3000 Opfer bei den Anschlägen in New York am 11. September. Ich habe in guter Erinnerung, weil ich damals Verantwortung getragen habe, in welchem Zustand dieses Land war, als sich nach den Anschlägen in New York in schneller Reihenfolge die Anschläge auf Djerba und Bali sowie in Casablanca wiederholten, darunter immer deutsche Opfer. Ich habe in guter Erinnerung, als die Anschläge näher kamen, nach Madrid und London. Ich weiß, dass die Angst in diesem Land davor ehrlich war, dass die terroristische Gefahr nicht nur besteht, sondern dass Terroristen auch hier in Deutschland zuschlagen könnten. Deshalb haben wir uns engagiert. Vielleicht haben wir nicht zu jeder Zeit in Afghanistan alles richtig gemacht. Das will ich auch gar nicht behaupten. Aber niemand war so naiv, zu glauben, dass wir dort nur mit militärischen Mitteln agieren könnten. Immer haben wir uns auf den Wiederaufbau konzentriert, weit vor anderen. Immer haben wir gesagt: Wir müssen diesem geschundenen Volk auf die Beine helfen. Und immer haben wir gesagt: Wir werden am Ende gemeinsam mit der afghanischen Regierung nur gewinnen, wenn wir die Herzen der Afghanen gewinnen. Insofern ziehe ich für mich noch immer die Zwischenbilanz: Wir sind in unser Engagement in Afghanistan nicht kopflos hineingestolpert. Weil das so ist, dürfen wir dort auch nicht einfach kopflos hinaus. Das geht nicht. Das ist nicht zu verantworten.
Wenn ich sage: „Wir können da nicht einfach kopflos raus“, dann heißt das natürlich nicht - Herr Westerwelle, hier haben Sie völlig recht - dass die Aufgabe der Bundeswehr in Afghanistan eine Daueraufgabe ist oder sogar zu einer Daueraufgabe werden soll. Die Bundeswehr ist zusammen mit den anderen europäischen Truppenverbänden, die dort sind, keine Besatzungsarmee. Deshalb sind wir nicht für die Ewigkeit da. Ich sage Ihnen hier das, was ich schon vor diesen Ereignissen in der Nacht von von Donnerstag auf Freitag und zur Wahl in Afghanistan gesagt habe, nämlich dass die Wahl eines neuen Präsidenten in Afghanistan ein Einschnitt sein muss. Ein schlichtes „Weiter so“ kann es danach nicht geben. Was wir dann von dem gewählten und im Amt befindlichen afghanischen Präsidenten brauchen, ist eine klare Ansage, wie wir in welchen Schritten und in welchen Zeitabständen zu mehr afghanischer Eigenverantwortung kommen. Im Kern geht es doch immer darum, dass die Afghanen selbst Sicherheit im Land garantieren. Dazu gehört ganz zuvörderst aus meiner Sicht, Herr Schäuble, die Festlegung der endgültigen Stärke der afghanischen Polizei ebenso wie die Festlegung der endgültigen Stärke der afghanischen Armee. Darüber haben wir noch keine Vereinbarung mit der afghanischen Regierung. Das muss vereinbart werden, und das steht jetzt an.
Dazu gehören auch die Festlegung von Ausbildungsstandards für die afghanische Armee und die afghanische Polizei, die Festlegung von Ausrüstungsstandards und natürlich auch - Herr Westerwelle, Sie haben das in Bezug auf die Polizei angesprochen; die Polizisten, die Sie genannt haben, sind nur die, die im europäischen Rahmen im Einsatz sind; dazu kommen die, die wir im bilateralen Polizeiausbildungsprojekt haben, aber im Kern haben Sie Recht - klare Verantwortlichkeiten innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft, damit klar ist, wer für was zuständig ist und Verantwortung trägt.
Der geeignete Ort, das alles zu verabreden und dafür klare Vereinbarungen mit dem neuen afghanischen Präsidenten zu machen, ist der AfghanCompact. Der steht jetzt zur Neuverhandlung an. Wir müssen in diesem AfghanCompact, das ist mein Ziel, klare Perspektiven für die schrittweise Übergabe unserer Aufgaben in afghanische Hände festlegen. Für dieses Vorgehen werbe ich seit Wochen. Ich darf Ihnen sagen: Es gibt wachsende Unterstützung, jedenfalls der europäischen Kollegen, für dieses Vorgehen. Das ist aus meiner Sicht der einzige, aber, wie ich finde, ehrlicher und verantwortlicher Weg, um eine Perspektive in Hinsicht auf Dauer und Qualität unseres Einsatzes in Afghanistan zu gewinnen und damit eben auch eine Perspektive für die Reduzierung deutscher Truppen in Afghanistan zu gewinnen, eine Perspektive, von der ich sage, dass sie mit klaren Zeitangaben unterlegt werden muss. Meine Bitte an alle, außerhalb und innerhalb dieses Parlamentes, ist: Lassen Sie uns bitte der Öffentlichkeit nicht vormachen, es gäbe einen anderen Weg.
Ich erinnere mich - damit komme ich zum Schluss - noch an meinen letzten Besuch in Afghanistan. 24 Stunden nach einem Angriff auf eine Patrouille, bei dem zwei seiner Kameraden ums Leben gekommen sind, habe ich mit einem jungen Soldaten gesprochen. Ich habe länger mit ihm gesprochen, und er hat mir am Ende des Gesprächs gesagt: Herr Außenminister, seien Sie sicher, wir wissen, warum wir hier sind; wir werden dieses Land nicht in der Steinzeit zurücklassen.
Wir hier zu Hause, finde ich, dürfen nicht weniger verantwortlich reden als dieser deutsche Soldat in Afghanistan.