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Rede von Bundesaußenminister Steinmeier vor dem Deutschen Bundestag zur Raketenstationierung in den Ländern Osteuropas
Bundesaußenminister Steinmeier hat am 21.03.2007 in der Aktuellen Stunde des Deutschen Bundestages zur geplanten Raketenstationierung in den Ländern Osteuropas Stellung genommen: „Die Zahl von Staaten mit Atomwaffen ist seit dem Kalten Krieg gestiegen. ... Die Entwicklung erfüllt mich mit großer Sorge. Und meine Antwort lautet: Wir brauchen dringend neuen Schwung für eine neue Abrüstungspolitik. ... Dauerhafter Friede basiert heute weniger denn je auf militärischer Abschreckung, sondern auf der Bereitschaft zur Zusammenarbeit und zur Überwindung politischer Trennlinien.“
Sehr geehrter Herr Präsident,
meine Damen und Herren,
es ist lange her, dass das Thema Abrüstung als brisantes und tagesaktuelles Thema der Politik wahrgenommen wurde. Und es ist ein Thema, das sich nicht für Klamauk eignet.
Ich habe auf die Notwendigkeit und die bevorstehende Renaissance einer neuen Abrüstungspolitik häufiger - zuletzt in der abrüstungspolitischen Debatte hier im Parlament - allerdings vor nicht besonders gut gefüllten Bänken, hingewiesen. Darum ist es gut, dass jetzt alle Parteien dem Thema die Aufmerksamkeit schenken, die es nach meiner Meinung schon länger verdient.
Ich möchte es noch einmal mit allem Nachdruck sagen: Die Welt steht am Scheideweg. Die Zahl von Staaten mit Atomwaffen ist seit dem Kalten Krieg gestiegen. Immer mehr Staaten sind in der Lage, Atomwaffen zu bauen, und auch terroristische Organisationen versuchen möglicherweise, sich Material zum Bau sogenannter schmutziger Bomben zu beschaffen. Zudem arbeiten manche Länder an der Entwicklung von Trägersystemen, die auch europäische Hauptstädte erreichen können. Der entscheidende Unterschied zum Zeitalter des Kalten Krieges ist: Damals bedrohten sich praktisch nur die USA und die Sowjetunion mit solchen Waffen - das war vergleichsweise überschaubar.
Vielleicht schon bald werden aber viel mehr Staaten sich eine ähnliche Machtposition verschaffen können. Darin liegt die Gefahr einer neuen Rüstungsspirale, und die Aussicht, dass dann irgendjemand eines Tages auf den roten Knopf drückt, wäre ungleich größer. Die Entwicklung erfüllt mich mit großer Sorge. Und meine Antwort lautet: Wir brauchen dringend neuen Schwung für eine neue Abrüstungspolitik.
Das ist der Grund, warum ich mich seit meinem ersten Tag im Auswärtigen Amt so intensiv um den Iran-Konflikt kümmere. Wenn der Iran eines Tages Atomwaffen besäße, bedeutete das nicht nur Gefahren aus dem Iran. Nein! Es brächte weitere Staaten - nicht nur in der Region - in unmittelbaren Zugzwang. Und das hätte unabsehbare Folgen auch für die Sicherheit in Europa und Deutschland. Diese Büchse der Pandora darf sich nicht öffnen!
Am Beispiel Iran erkennen wir jedoch auch, dass wir die größten Herausforderungen, die schwierigsten Probleme unserer Zeit, nur gemeinsam lösen können. Nicht nur beim Klimaschutz sitzen die Menschen von Alaska bis Auckland, von Spitzbergen bis Südafrika, in einem Boot!
Und darum unterstreiche ich hier meine Position: Dauerhafter Friede basiert heute weniger denn je auf militärischer Abschreckung, sondern auf der Bereitschaft zur Zusammenarbeit und zur Überwindung politischer Trennlinien.
Hier liegt auch der tiefere Kern des Konflikts um die Raketenabwehr. Die grundlegende Frage ist, mit welcher Strategie wir uns gegen die neuen Gefahren durch Raketentechnologien und Massenvernichtungswaffen wappnen. Die USA wollen dies im Kern erreichen, indem sie einen weltweiten Abwehrschirm errichten. Dafür sind sie bereit, eine beträchtliche Summe in die Hand zu nehmen - bislang mindestens 100 Milliarden Dollar.
Oberstes Ziel unserer Anstrengungen war es bisher, mit präventiver Diplomatie - und das schließt Druck ein - Bedingungen zu schaffen, dass interessierte Staaten auf die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen und Raketentechnologie verzichten. Das erfordert kluges und entschiedenes Handeln der Staatengemeinschaft - wie wir es im Falle des Iran derzeit versuchen und wie es im Falle Nordkoreas zu ersten Erfolgen geführt hat.
Das erfordert aber auch - und hier beziehe ich mich ausdrücklich auf den wegweisenden Artikel von George Shultz, William Perry, Henry Kissinger und Sam Nunn im Wall Street Journal - klare Signale der Kernwaffenstaaten, dass sie es Ernst meinen mit ihren Abrüstungsverpflichtungen aus dem Nichtverbreitungsvertrag - und nicht durch unbedachtes Handeln die bestehende Abrüstungsarchitektur weiter erodieren lassen.
Ja, die Zeit des Kalten Krieges ist vorbei. Aber er wirft noch lange Schatten. Sie tragen die Namen Misstrauen und Sprachlosigkeit. Das zeigt der Streit um die geplante Stationierung der amerikanischen Raketenabwehr in Polen und der Tschechischen Republik. Wir sehen hier, wie alte Reflexe aus der Zeit des Kalten Krieges bis in unsere Zeit ihre Wirkung entfalten - in den USA, aber auch Russland und Polen. Ich empfehle dazu nur den Artikel von Henry Kissinger in der heutigen Herald Tribune, ein kluger Appell für mehr Einfühlungsvermögen in die jeweiligen Sicherheitsinteressen und Bedrohungswahrnehmungen der russischen und amerikanischen Seite.
Genau an diesem Verständnis hat es nach meinem Eindruck bislang gefehlt, und vielleicht ist es ein Fortschritt, dass mir sowohl der amerikanische Verteidigungsminister als auch die amerikanische Außenministerin signalisiert haben, dass auch sie hier vertieften Gesprächsbedarf sehen.
Auch wenn internationale Politik oft kompliziert ist, sind die Regeln nicht anders als im ganz normalen Leben: Vertrauen bildet sich durch ehrliche Gespräche und durch Zeit, die man sich füreinander nimmt. Genau das ist jetzt beim Streit um die geplante Raketenabwehr gefragt. Wir müssen miteinander an einen Tisch und die Positionen und Interessen sorgsam austarieren. Viele Fragen technischer, aber vor allem auch politisch-strategischer Art sind noch unbeantwortet.
Ich verstehe den Wunsch der USA, sich vor einem Angriff mit Langstreckenwaffen zu schützen. Aber ich sage auch: Mit militärischer Überlegenheit allein lassen sich weder Freundschaft noch Frieden erzwingen. Darum bitte ich die USA, den Preis für eine im Streit durchgesetzte Stationierungsentscheidungen genau zu bedenken, zumal es die iranischen Langstreckenwaffen, gegen die sie gerichtet sein sollen, noch nicht gibt.
Die Gefahr einer Spaltung Europas und der Nato und ein Russland, das in alte Reflexe verfällt, wären aus meiner Sicht ein sehr hoher Preis.
Deutsche Außenpolitik zielt auf die Einheit Europas, die transatlantische Partnerschaft und die strategische Partnerschaft mit Russland. Ein neuer Kalter Krieg zwischen den USA und Russland, auch wenn er nur mit Worten ausgetragen wird, schadet den Sicherheitsinteressen unseres Landes.
Darum appelliere ich auch an Russland, die Gesprächsangebote aus Europa und den USA anzunehmen und Interesse am Dialog zu zeigen. So kann aus dem Streit um die Raketenabwehr sogar eine Chance werden: Wenn wir dieses Thema nicht isoliert betrachten, sondern einbetten in einen transatlantisch-russischen Dialog, einen Dialog, in dem wir ernsthaft darüber reden, wie wir mit den neuen Proliferationsbedrohungen umgehen - die sich ja am Ende nicht nur gegen den Westen richten, sondern ebenso gegen Russland! Oder, wie es Hans-Dietrich Genscher schon vor 20 Jahren als Auftrag verstanden hat: die Arbeit an der Perspektive eines Raums gemeinsamer Sicherheit von Vancouver bis Wladiwostok. Eine Perspektive, an die das andere in der deutschen Außenpolitik kaum minder bekannte Geburtstagskind - Egon Bahr - in Reden und Artikeln erinnert hat.
Eine mögliche Antwort - und ich betone hier: mögliche Antwort - könnte ja sein, dass wir: erstens darüber nachdenken, ob ein gemeinsames System oder mindestens gemeinsame Anstrengungen der Raketenabwehr möglich und wünschbar sind, dass wir zweitens gemeinsam und vor allem mit präventiver Diplomatie Proliferationsgefahren begegnen (wofür es ja im Falle Iran und Nordkorea ganz erfolgreiche Ansätze gibt), und uns drittens der Erkenntnis nicht verschließen, dass die Kernwaffenbesitzer eine Bringschuld haben, wenn die Zahl der Kernwaffenstaaten nicht unkontrolliert ausufern soll.
Der Nichtweiterbreitungsvertrag verpflichtet alle Kernwaffenbesitzer auf den Weg der Abrüstung und jeder, der sich nicht daran hält, gefährdet ihn in seiner Substanz. Lassen Sie mich schließlich einen vierten Punkt erwähnen, der mir nicht hinreichend wahrgenommen zu werden scheint: Die europäische Abrüstungsarchitektur, an der wir gemeinsam über Jahrzehnte gearbeitet haben, ist ein wegweisendes Modell auch für andere Konfliktregionen. Wir dürfen dieses Erfolgsmodell nicht gefährden! Auch deshalb ist bei allen Stationierungsentscheidungen besondere Sorgfalt am Platz!
Wir Deutsche haben ein strategisches Interesse daran, dass der Streit um die Raketenabwehr nicht eskaliert, sondern zum Ausgangspunkt für neues Vertrauen und einen neuen Geist von Verständigung wird. Lassen Sie uns also nicht um kleine innenpolitische Landgewinne streiten, sondern eine Diskussion führen, die die langfristige Sicherheit für die Menschen in Deutschland und Europa stärkt. Ich persönlich werde im Streit um die Raketenabwehr alles für eine Lösung tun, die dieses Ziel erreicht.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.