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Rede von Bundesminister Steinmeier zum Thema „Abrüstung“, 26.06.06

26.06.2006 - Rede

Rede von Bundesminister Steinmeier auf der SPD-Fachkonferenz „Frieden durch Abrüstung: Völkerrecht und nukleare Nichtverbreitung“ in Berlin, 26. Juni 2006

Sehr geehrter Herr Generaldirektor,
sehr geehrter Herr Vorsitzender,
Exzellenzen,
liebe Genossinnen und Genossen,
meine Damen und Herren (...)

Einige von Ihnen werden nachgedacht haben, ob die heutige Tagung zur Abrüstung eigentlich zeitgemäß ist.

In der Tat: Nach den Hochzeiten in den letzten Jahrzehnten ist es um die Rüstungskontrollpolitik ziemlich still geworden.

Die Genfer Abrüstungskonferenz tritt seit sieben Jahren auf der Stelle. Auf dem letztjährigen VN-Gipfel wurde keine einzige Empfehlung zur weiteren Abrüstung ausgesprochen.

Ich halte, offen gesagt, diesen Trend für besorgniserregend. Deshalb möchte ich mir ausdrücklich den Satz von Hans Blix zu eigen machen, der unlängst anlässlich der Vorstellung des Berichts „Weapons of Terror“ ausrief: „It is time for a revival.“

Ich weiß, auch das möchte ich gleich eingangs sagen, dass es wenige Politikbereiche gibt, in denen es so sehr auf Geduld und beharrliche Überzeugungsarbeit ankommt wie bei der Abrüstung.

Wenn wir ernsthaft versuchen wollen, den Abrüstungszug wieder auf die richtige Schiene zu setzen, müssen wir in Zeiträumen von vielen Jahren denken.

Dann müssen wir die nicht allzu großen Spielräume, die die derzeitigen Verhandlungen bieten, geschickt nutzen.

Und weil es Zeit braucht, müssen wir vor allem auch darauf achten, dass der abrüstungspolitische Aquis nicht durch Desinteresse und mangelndes Engagement langsam erodiert.

An die Länder, die vom Rohstoff- und Exportboom der letzten Jahre besonders profitiert haben, möchte ich einen nachdrücklichen Appell richten: „Verschwenden Sie Ihren neu gewonnenen Wohlstand nicht für rüstungspolitische Prestigeprojekte! Aufrüstung schafft keine Sicherheit! Zukunftssicherung, das sind Investitionen in Bildung, in Forschung, vor allen Dingen aber in sozialen Zusammenhalt!“

Und gerade von einem Land wie China erwarten wir, dass es sein Gewicht und seinen immens gewachsenen Einfluss in verantwortlicher Weise nutzt, wie es jetzt hoffentlich beispielhaft und dauerhaft bei den Bemühungen um die Lösung des Irankapitels der Fall ist.

Ich möchte meine heutigen Ausführungen auf drei Kernaufgaben konzentrieren:

- Nukleare Abrüstung und Nichtverbreitung,
- Kontrolle von Kleinwaffen sowie
- Europäische Rüstungskontrolle


I.

Was stand eigentlich am Anfang?

Zu Beginn der sechziger Jahre sah sich die damalige Kennedy-Regierung mit einem Alptraum-Szenario konfrontiert: Es drohte die Entstehung von zwanzig bis dreißig Kernwaffenstaaten innerhalb von 10 bis 20 Jahren. Der Ausbruch eines Nuklearkrieges schien nur noch eine Frage der Zeit.

Vor diesem Hintergrund entschied sich die damalige amerikanische Führung, den irischen Vorschlag für einen nuklearen Nichtverbreitungsvertrag zu unterstützen, der 1970 in Kraft trat.

Sicherheitspolitisch hat sich die Lage mit dem Ende des Kalten Krieges durchgreifend geändert. An die Stelle der bipolaren Weltordnung sind neue, schwerer kalkulierbare Konflikte und Konfrontationsmuster getreten:

- regionale Konfliktpotentiale, die während des Ost-West Gegensatzes unterdrückt waren,
- neue Regionalkonflikte als Folge des Zerfalls der Sowjetunion,
- der internationale Terrorismus
- neue Proliferationsgefahren.

Vor diesem Hintergrund zeichnet sich erneut eine Entscheidungssituation ab. Sollten die iranische und nordkoreanische Nuklearkrise nicht gelöst werden, dass muss ich leider prognostizieren, droht mit Ablauf des nächsten Jahrzehnts erneut ein nuklearer Wettlauf. Denn weder in Nordostasien noch im Nahen und Mittleren Osten werden die näheren und weiteren Nachbarn in der Region sich dem nuklearen Bedrohungs- und Erpressungspotential aussetzen oder ihre eigenen gemutmaßten oder gewünschten regionalen Vormachtansprüche unterlaufen lassen wollen.

Andere statusbewusste Staaten mit Führungsanspruch in Afrika, Lateinamerika und Asien könnten ihre frühere Entscheidung, auf Kernwaffen zu verzichten, überdenken. Nukleare Abschreckung würde unter diesen neuen Bedingungen zersplitterter Konfliktzonen und nuklearer Ausbreitung kaum noch funktionieren. Terroristische Netzwerke hätten leichteren Zugang zu nuklearem Waffenmaterial.

Die Verhinderung einer solchen Entwicklung ist ein wichtiger Grund für unser Engagement im Streit um das iranische Nuklearprogramm.

Es geht nicht darum, einen einzelnen Staat unter Anlegung eines doppelten Maßstabs zu diskriminieren. Niemand will dem Iran seine vertraglich zustehenden Rechte auf friedliche Nutzung der Kernenergie beschneiden. Das haben wir etliche Male zum Ausdruck gebracht. Aber wer 18 Jahre lang die internationale Gemeinschaft hintergeht und vertragliche Pflichten eklatant verletzt, muss die Verantwortung dafür übernehmen, verlorenes Vertrauen wiederherzustellen und für eine rückhaltlose Aufklärung zu sorgen.

Beim Iran geht es nicht nur um die Autorität des Nichtverbreitungsvertrages, sondern auch um die Verhinderung eines nuklearen Wettrüstens im Nahen und Mittleren Osten und – nicht zuletzt – den Schutz Israels vor einer existenziellen Bedrohung.

Das zwischen den EU 3, den USA, Russland und China abgestimmte Kooperationsangebot eröffnet dem Iran Aussichten auf eine weit reichende und zukunftsorientierte Kooperation.

Es kommt jetzt, das habe ich dem iranischen Außenminister am Samstag in aller Deutlichkeit gesagt, auf den Iran an, das große Potential dieses Angebots für seine Wirtschaft und seine Sicherheit zu erkennen.

Hat der Iran das verloren gegangene Vertrauen wieder hergestellt, so spricht nichts dagegen, dass er dann wieder in vollem Umfang seine Rechte nach dem Nichtverbreitungsvertrag wahrnimmt.

Wir erwarten deshalb, das habe ich Herrn Mottaki gesagt, vom Iran ein konstruktives Eingehen auf unser Angebot und die Bereitschaft, verloren gegangenes Vertrauen in die mit dem iranischen Nuklearprogramm verfolgten Ziele und Absichten wiederherzustellen.

Die Gefahr der sprunghaften Ausbreitung nuklear bewaffneter Staaten und die damit verbundenen massiven Sicherheitseinbußen unterstreichen die Notwendigkeit, am Ziel einer Welt ohne Atom- und andere Massenvernichtungswaffen festzuhalten.

Deshalb muss uns tiefe Sorgen bereiten, dass die multilateralen Vertragswerke ernsten Erosionsgefahren ausgesetzt sind. Das Scheitern der Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag erst im letzten Jahr ist eine ernste Warnung.

Darin zeigte sich eine Tendenz der letzten Jahre, den Grundgedanken dieses Vertrages immer weniger akzeptieren zu wollen. Der Atomwaffensperrvertrag beruht im Kern auf einem Gegengeschäft: Verzicht der Nichtkernwaffenstaaten auf Atomwaffen einerseits gegen Abrüstung der Kernwaffenstaaten andererseits.

Wollen wir die Autorität und Integrität des Vertrages aufrechterhalten und die bestehenden Erosionsgefahren abwehren, so müssen wir dem Grundgedanken des Gegengeschäfts neue Geltung verschaffen.

Das heißt, wir können nicht einseitig nur die Nichtverbreitung betonen und einfordern. Vielmehr brauchen wir auch ein neues Momentum für die nukleare Abrüstung.

Wenn ich im Folgenden unsere wichtigsten Anstrengungen skizziere, werden Sie die große Nähe zu den eben gehörten Vorschlägen von Dr. El Baradei feststellen.

Was wollen wir erreichen?

Wir wollen in erster Linie die Glaubwürdigkeit stärken. Wir setzen uns ein für eine Wiederbelebung des nuklearen Abrüstungsprozesses. Grundlage dafür sind die Vereinbarungen der Überprüfungskonferenz aus dem Jahre 2000. Hierzu zählen die Inkraftsetzung des umfassenden Kernteststoppvertrages (CTBT), die Wiederaufnahme von Substanzarbeiten in der Genfer Abrüstungskonferenz, die Fortsetzung der Bemühungen der Kernwaffenstaaten zur weiteren ausgewogenen Abrüstung ihrer strategischen Kernwaffenpotentiale und auch die schrittweise rüstungskontrollpolitische Erfassung substrategischer Systeme. Hier stehen insbesondere Russland und die USA in der Pflicht. Die im Bericht der Blix-Kommission erwähnten nahezu 27.000 Nuklearwaffen befinden sich hauptsächlich in ihren Arsenalen.

Dazu müssen wir Regelungslücken schließen. Dazu sind vorrangig Verhandlungen über ein Verbot der Produktion von Spaltmaterial für Waffenzwecke (sog. Cut-off-Vertrag) aufzunehmen. Daneben müssen weitere Regelungen zur Verhinderung des Missbrauchs der zivilen Nutzung der Kernenergie geschaffen werden. Dabei dürfte es auch um multilaterale Konzepte für die Nutzung des Brennstoffkreislaufes gehen, die eine erneute Zwei-Klassen-Gesellschaft vermeiden. Die internationale Diskussion – zum Beispiel bei den G8 - geht in diese Richtung.

Wir müssen auch überlegen, wie wir die zivil genutzten Bestände an hochangereichertem Uran erfassen und überall dort sukzessive ersetzen, wo dies technisch möglich ist.

Wir wollen die Entdeckung von Vertragsverletzungen erhöhen. Neben der Erklärung des IAEO-Zusatzprotokolls zum Verifikationsstandard und zur Liefervoraussetzung für zivile Nukleargüter gilt es vor allem, „Verdachtskontrollen“ als routinemäßige Verifikationsinstrumente zu etablieren.

Wir wollen, dass multilaterale Verpflichtungen von den Staaten auch national implementiert werden. Wir setzen uns deshalb für die Erarbeitung gemeinsamer Mindeststandards ein, die klare Regeln für die Umsetzung internationaler Vertragsregime und Resolutionen des VN-Sicherheitsrates in nationales Recht schaffen.

Das ist auch der Kern der Sicherheitsrats-Resolution 1540, die alle Staaten verpflichtet, die Weitergabe von Massenvernichtungswaffen zu kriminalisieren, strikte Exportkontrollen zu gewährleisten und die für Massenvernichtungswaffen relevanten Materialien zu sichern.

Wir wollen die universelle Wirkung des Atomwaffensperrvertrags erreichen. Das heißt auch, dass aus unserer Sicht auch Indien, Pakistan und Israel dem Vertrag beitreten sollten. Wir wissen allerdings auch, dass dieses Ziel in kurzfristiger Perspektive unrealistisch ist. Deshalb müssen wir nach Wegen suchen, die diese Staaten näher an das Nichtverbreitungsregime heranführen.

Mit großem Interesse habe ich deshalb die Ausführungen von Dr. ElBaradei verfolgt, die er zu dem indisch-amerikanischen Nuklearabkommen gemacht hat. Sein Verständnis, dieses Abkommen als Tauschgeschäft von Energieentwicklungshilfe gegen die Übernahme von verbindlichen Verpflichtungen aus dem Atomwaffensperrvertrag und dem Nichtverbreitungsregime zu benutzen, ist der richtige Weg.

Unter diesem Gesichtspunkt wäre es ein gutes Signal, wenn Indien dem umfassenden Teststoppvertrag beiträte, ein Produktionsmoratorium für Spaltmaterial für Waffenzwecke erklärte und auch Verpflichtungen zur Beschränkung und letztendlich zur Abrüstung seines Kernwaffenprogramms akzeptierte. Dies ist bereits Gegenstand der Beratungen der Nuclear Suppliers Group, wo diese Vorschläge geprüft werden.

Eine erfolgreiche internationale Politik zur nuklearen Abrüstung und Nichtverbreitung bedarf eines gut abgestimmten Systems unterschiedlicher Maßnahmen und Vorgehensweisen. So können beispielsweise Proliferationsfälle nicht losgelöst vom regionalen Kontext gesehen werden. Handelt es sich um Sicherheitsprobleme, setzt eine erfolgreiche Lösung voraus, dass die legitimen Sicherheitsinteressen der Staaten anerkannt werden. Daher messe ich der regionalen Sicherheitspolitik so große Bedeutung bei. Daher kommt der Gewährung von Sicherheitsgarantien eine große Bedeutung zu.

Sie stehen in einer Reihe von Maßnahmen zur Schaffung einer regionalen Sicherheitsarchitektur, die vertrauensbildende Maßnahmen, Rüstungskontrollregime und massenvernichtungswaffenfreie Zonen einschließen.


II.

Ich komme nun zu den beiden anderen Kernaufgaben unserer rüstungskontrollpolitischen Agenda.

Die wahren Massenvernichtungswaffen der Gegenwart sind die so genannten Klein- und Leichtwaffen. In jedem Jahr werden schätzungsweise 300.000 bis 500.000 Menschen durch ihren Gebrauch getötet – weit mehr als mit Waffen aller anderen Kategorien zusammen.

Die große Verbreitung dieser Waffenart trägt zur Verschärfung von Konflikten bei. Sie ist geeignet, Gesellschaften und Staaten zu destabilisieren und die wirtschaftliche und soziale Entwicklung zu untergraben. Die Kleinwaffenkontrolle und –zerstörung ist deshalb häufig eine Bedingung für eine erfolgreiche Stabilisierungs- und Entwicklungspolitik. Sie trägt zur Krisenprävention und Friedenskonsolidierung bei. Deshalb engagiert sich Deutschland in besonderer Weise in diesem Bereich.

Auf der heute beginnenden Überprüfungskonferenz zum Kleinwaffenaktionsprogramm der Vereinten Nationen arbeiten wir erneut für unser Ziel, das globale Kontrollregime zu verbessern und insbesondere verstärkende Regelungen zur Transferkontrolle und zu Waffenvermittlungsgeschäften zu erreichen. Leicht wird dies nicht. Doch gerade hier ist Beharrlichkeit gefragt.


III.

Ernste Sorgen bereitet mir die europäische Rüstungskontrolle. Das Scheitern der dritten Überprüfungskonferenz zum KSE-Vertrag gefährdet ein Kernstück der europäischen Sicherheitsarchitektur.

Erinnern wir uns kurz, worum es bei diesem Vertrag ging.

Mit dem Wiener Dokument und dem Vertrag über den Offenen Himmel hat der alte KSE-Vertrag ein System wechselseitiger Information, partnerschaftlicher Verifikation und ausgewogener, transparenter Abrüstung und Rüstungskontrolle geschaffen.

Seit 1992 wurden etwa 60.000 konventionelle Waffensysteme im gesamten Anwendungsgebiet des Vertrages abgerüstet. Es entstand ein stabiles Gleichgewicht konventioneller Streitkräfte in Europa auf niedrigem Niveau, ohne die Fähigkeit zu Überraschungsangriffen und groß angelegten Offensivhandlungen.

Der friedliche Wandel in Europa und die Herstellung der deutschen Einheit wären ohne den KSE-Vertrag kaum so erfolgreich verlaufen.

Angesichts der politischen Veränderungen nach dem Kalten Krieg musste das Vertragswerk den neuen Bedingungen angepasst werden. Mit dieser Anpassung konnte die Stabilität der europäischen Sicherheitsarchitektur bewahrt werden.

Das 1999 unterzeichnete Anpassungsübereinkommen ersetzt daher die ursprüngliche Blockorientierung durch ein System nationaler und territorialer Obergrenzen für konventionelle Waffensysteme.

Es ist jedoch bisher nicht gelungen, den angepassten KSE Vertrag in Kraft zu setzen. Dies dürfen wir nicht gleichgültig hinzunehmen.

Wir dürfen es nicht zulassen, dass alte, überwunden geglaubte Denkstrukturen aus Zeiten des Kalten Krieges erneut die Oberhand gewinnen. Die Vertragsstaaten bleiben gefordert, ihrer Verantwortung gerecht zu werden und gemeinsam alles zu unternehmen, um das Anpassungsübereinkommen schnellstmöglich in Kraft zu setzen. Dafür wird sich die Bundesregierung mit aller Kraft einsetzen.

Wir werden auch deshalb so energisch für das europäische Rüstungskontrollregime kämpfen, weil wir wissen, dass sein Zusammenbruch Konsequenzen weit über unseren Kontinent hinaus hätte.

Noch gilt Europa weltweit als Modell zur Schaffung von Sicherheit und Stabilität.

Dieses Modell stünde auf dem Spiel - und damit unser Leitgedanke, dass Sicherheit nur miteinander und nicht gegeneinander geschaffen werden kann.

Gerade angesichts der neuen Gefahren weltweit bin ich der Meinung, dass dieser Leitgedanke wichtiger ist denn je.

Wir haben in den Zeiten des Kalten Krieges gelernt, dass Kooperation allemal fruchtbarer ist als Isolation und Konfrontation. Und diese Lektion dürfen wir auch unter veränderten Bedingungen nicht vergessen.

Mit unseren Bemühungen, der Rüstungskontrollpolitik wieder die Aufmerksamkeit zu verschaffen, die sie verdient, stehen wir in einer langen Tradition deutscher und - auch das darf ich hier im Willy-Brandt-Haus sagen – sozialdemokratischer Außenpolitik.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

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