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Deutschland und Polen: „Wir müssen neue Brücken bauen“

17.06.2021 - Namensbeitrag

Gastbeitrag von Außenminister Heiko Maas zu 30. Jahrestag der Unter­zeichnung des deutsch-polnischen Nachbarschafts­vertrages, erschienen in der Rheinischen Post.

Der 17. Juni ist einer dieser zwiespältigen Tage in der deutschen Geschichte. Zum einen erinnert er uns an die blutige Niederschlagung des Volksaufstands 1953 in der DDR und damit an die Teilung Deutschlands und Europas. Zum anderen aber wurde an einem 17. Juni ebendiese Teilung ein großes Stück weit überwunden. So wie die Aussöhnung mit Frankreich zum Grundstein für die europäische Einigung nach dem Zweiten Weltkrieg wurde, so ist der am 17. Juni 1991 unterzeichnete Nachbarschaftsvertrag mit Polen unerlässlich für das Zusammenwachsen Europas zwischen Ost und West. Nach den deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg und der Spaltung des Kalten Kriegs wurde er zum Symbol der polnischen Versöhnungsbereitschaft. Diese hat es uns in den letzten drei Jahrzehnten ermöglicht, gemeinsam in die Zukunft zu blicken, ohne die Vergangenheit auszublenden.

All das ist heute dreifach aktuell. Erstens: Damals wie heute steht Europa vor einer geopolitischen Zeitenwende. Mächte wie China und Russland fordern unsere Demokratien und die internationale Ordnung immer offener heraus. Krisen und Konflikte umlagern unseren Kontinent. Darauf muss Europa reagieren. Zweitens lehrt die Erfahrung der 1990er, wie wir solchen Umbrüchen gegenübertreten: Indem wir die Einheit Europas stärken. Und drittens sind Deutschland und Polen – in der Mitte Europas – gefordert, in solchen Umbruchszeiten Brückenbauer zu sein. Nur wenn wir Ost und West zusammenhalten, werden wir Europa stark machen für neue Zeiten.

Seit dem Nachbarschaftsvertrag haben sich unsere Beziehungen revolutioniert. Dies mag dem Eindruck mancher Beobachter widersprechen, die vor allem auf Differenzen im politischen Tagesgeschäft blicken. Mein Eindruck aber ist: der polnisch-deutsche Alltag, das sind in erster Linie die über 850.000 Polinnen und Polen, die in Deutschland leben und arbeiten. Das sind zehntausende Grenzpendler, wo früher Schlagbäume und Zäune standen. Das sind tausende Unternehmen, die unsere Wirtschaftsräume auf das Engste verflochten haben. Und das sind politische Partner, die ganz selbstverständlich in der EU und in der NATO zusammenarbeiten.

Ein Grund dafür ist vielleicht auch, dass sich unser Blick auf die Vergangenheit in den letzten Jahren angenähert hat. Das Leid der polnischen Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg – lange Zeit nur ein Splitter in der deutschen Erinnerung – ist stärker in unser Bewusstsein gerückt. Großen Anteil daran hat ein Beschluss des Bundestages aus dem vergangenen Jahr, wonach in Berlin ein Ort des Erinnerns und der Begegnung für die polnischen Opfer des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Besatzung Polens entstehen soll. An dessen Umsetzung arbeiten wir derzeit mit Hochdruck.

Und ich bin überzeugt: Durch dieses gemeinsame Erinnern wächst auch das gegenseitige Verständnis für manches, was uns bis heute trennt. Polen konnte in den Jahrzehnten nach der Besatzung durch Nazi-Deutschland nicht frei über sein Schicksal entscheiden. Begriffe wie „Nation“ und „Souveränität“ sind in Polen von dieser Zeit besonders geprägt. Und auch manch polnische Skepsis gegenüber einer weiteren Vertiefung der europäischen Integration hat dort ihren Ursprung. Gerade wir Deutschen sollten diese Perspektive unseres Nachbarn nicht aus dem Auge verlieren. Das gilt für diejenigen, die Polen aufgrund der Defizite in Sachen Rechtsstaat oder Pressefreiheit am liebsten abschreiben würden. Das gilt aber auch für die Vertreter eines europäischen Hurra-Föderalismus, der Europa absehbar erneut in Ost und West spalten würde.

Beides kann nicht die Haltung Deutschlands sein. Vielmehr wollen wir dieses Jubiläum nutzen, um gemeinsam mit Polen nach vorne zu schauen. Dann werden wir sehen: Polnische und deutsche Interessen liegen oft näher beieinander, als wir denken. Wir wollen ein starkes, handlungsfähiges Europa, das seinen Teil zur transatlantischen Partnerschaft beiträgt. Dann aber dürfen wir Europas Außenpolitik nicht auf den kleinsten gemeinsamen Nenner reduzieren. Wir wollen, dass Europa glaubwürdig eintritt für seine Werte in der Welt. Dann dürfen wir sie im Innern jedoch nicht untergraben. Und wir wollen kein „Europa der zwei Geschwindigkeiten“, das Polen und andere Länder Mittel- und Osteuropas absehbar zu Mitgliedern zweiter Klasse degradieren würde. Dann aber müssen wir gemeinsam Vorschläge machen, wie wir die Europäische Union weiterentwickeln und stärken wollen.

Kurz gesagt: Wir müssen neue Brücken bauen zwischen Deutschland und Polen, zwischen West und Ost in Europa – heute genauso wie vor 30 Jahren.

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