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Dietmar Woidke zur Solidarität mit Polen und den drei baltischen Staaten: „Es gibt keine NATO-Verbündeten zweiter Klasse!“

19.01.2017 - Artikel

Rede des Koordinators für die deutsch-polnische Zusammenarbeit und Brandenburgischen Ministerpräsidenten Dietmar Woidke vor dem Landtag von Brandenburg

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Sehr geehrte Damen und Herren,

wir leben in bewegten Zeiten. In Europa und der Welt tragen sich Entwicklungen zu, die deutlich aus dem Rahmen der Normalität fallen, an die wir uns in den Jahrzehnten nach dem Kalten Krieg gewöhnt hatten.

Gewöhnt hatten wir uns an zunehmende internationale Kooperation statt Konfrontation.

Gewöhnt hatten wir uns an die Erweiterung und das immer engere Zusammenwachsen der Europäischen Union.

Gewöhnt hatten wir uns an die Vorstellung, dass das alte machtpolitische Nullsummendenken in miteinander konkurrierenden Einflusszonen nach dem Ende der Sowjetunion für immer Geschichte sei.

Gewöhnt hatten wir uns an die neue europäische Realität, dass die Völker unseres Kontinents in freiheitlicher Selbstbestimmung über ihre Bündniszugehörigkeiten entscheiden können.

Gewöhnt hatten wir uns, kurz gesagt, an das einst von Michail Gorbatschow geprägte Bild vom „Gemeinsamen Haus Europa“, in dem wir im 21. Jahrhundert alle miteinander in Frieden und Wohlstand miteinander leben würden.

Heute erkennen wir: Vieles ist deutlich anders gekommen. Eingetreten sind hoch problematische Entwicklungen und schwere Verwerfungen, die unsere friedliche und freiheitliche Ordnung in Europa vor große neue Herausforderungen stellen:

Da ist die Finanz- und Eurokrise.

Da waren – und sind – die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland und der Krieg in der Ostukraine.

Da sind die Kriege südlich und östlich des Mittelmeers und die durch diese Kriege verursachten Flüchtlingskrisen hier bei uns in Europa.

Da ist der verstärkte Auftritt radikal-völkischer und rechtspopulistischer Bewegungen in verschiedenen europäischen Ländern.

Da ist die Bedrohung unserer Gesellschaften durch den islamistischen Terrorismus.

Da ist die Entscheidung der Briten für den Austritt aus der EU.

Da ist die Unsicherheit über den zukünftigen Kurs der USA

Wir leben heute, in einem Europa, in dem es weniger Vertrauen, weniger Miteinander, weniger Zusammenhalt, weniger Solidarität und weniger Sicherheit gibt, als wir uns das einmal erhofft hatten – dafür umso mehr Misstrauen, mehr aggressive Konflikte, mehr Gegeneinander, mehr nationale Egoismen, mehr Spannungen und mehr militärische Gewalt.

Wir alle zusammen sollten uns in einem einig sein: Das alles sind keine guten Entwicklungen. Misstrauen, Aggression, Egoismus, Spannungen und Konflikte führen immer nur zu mehr Misstrauen, mehr Aggression, mehr Egoismus, mehr Spannungen und mehr Konflikten.

Ich bin grundlegend davon überzeugt: Diese Abwärtsspirale in Europa muss unterbrochen werden. Sie nützt letztlich niemandem. Sie löst keine Probleme, sondern sie schafft nur immer neue Probleme, die dann noch schwerer zu lösen sein werden.

Wir befinden uns in einer grundlegend veränderten, neuen Lage. Das müssen wir erst einmal zur Kenntnis nehmen! Und wer in solch einer neuen Lage mit alten Tabus oder Denkverboten hantiert, statt neu nachzudenken, der macht etwas gründlich verkehrt!

Nutzen wir doch diese Debatte, um die Lage in Europa besser zu begreifen, statt uns unsinnige Vorwürfe um die Ohren zu hauen!

Mir ist in der vergangenen Woche vorgehalten worden, ich würde als Polenkoordinator zu wenig Verständnis für die sicherheitspolitische Sicht der Polen an den Tag legen. Das ist einer dieser unsinnigen Vorwürfe, die niemandem weiterhelfen. Glauben Sie mir, ich kenne die polnischen Einstellungen und Sichtweisen wirklich sehr genau:

Es ist vollkommen klar: Für Polen ist die Unabhängigkeit, ist die Souveränität der Nation ein besonders hohes Gut. Die Gründe liegen in der polnischen Geschichte. Wie wir alle wissen, wurde Polen von seinen Nachbarn Preußen, Russland und Österreich Ende des 18. Jahrhunderts geteilt und verschwand für 123 Jahre von der europäischen Landkarte. Dieses Trauma, zwischen den größeren und stärkeren Nachbarländern zerrieben zu werden und der lange und schließlich erfolgreiche Kampf um nationale Unabhängigkeit – das alles prägt das polnische Nationalbewusstsein bis heute.

Polen ist fest entschlossen, nie wieder zum wehrlosen Spielball von Großmächten zu werden. Darum ist es kein Wunder, dass Polen klar und deutlich auf das sicherheitspolitische Versprechen der NATO pocht, vor allem ein Bündnis zur kollektiven Verteidigung zu sein.

Nachvollziehen kann ich auch, dass Polen die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und den bewaffneten Konflikt in der Ostukraine als viel direktere Bedrohung wahrnehmen als viele Deutsche. Die Ukraine grenzt unmittelbar an Polen. Die Zahl der Ukrainer, die in Polen Sicherheit und Schutz vor den Kämpfen in ihrer Heimat suchen ist weit höher, als wir uns das gelegentlich vorstellen. Die Aufstockung russischer Kampfverbände im Westen des Landes, die direkte Nachbarschaft Polens zum Kaliningrader Gebiet – all das trägt in Polen zur Nervosität und zu verstärktem Sicherheitsstreben bei.

Es ist absolut verständlich, dass gerade Polen in besonderem Maß auf die Beistandsverpflichtung der NATO pochen.

Diese Beistandsverpflichtung erfüllen die NATO-Bündnispartner durch Abschreckungs- und gegebenenfalls auch durch Verteidigungsmaßnahmen.

Völlig klar ist dabei, dass Polen – wie auch die baltischen Staaten – vollwertige Mitglieder der NATO sind. Es gibt keine NATO-Verbündeten zweiter Klasse! Unsere Solidarität mit Polen und den drei baltischen Staaten steht außer Frage.

Die aktuellen Maßnahmen der Nato in Polen und im Baltikum sind eine Reaktion auf das russische Vorgehen seit Beginn der Ukraine-Krise.

Diese Maßnahmen stehen im Einklang mit den internationalen Verpflichtungen der NATO, auch im Einklang mit der Nato-Russland-Grundakte.

Neben dem Prinzip der kollektiven Verteidigung gilt in der NATO als zweites Standbein zugleich auch das Prinzip der kooperativen Sicherheit. Dazu gehören Dialog, Gespräch und Kooperation – ja eine Politik der ausgesteckten Hand gerade vertrauensbildende Maßnahmen sind immer da am dringendsten (allerdings auch am schwierigsten), wo das Vertrauen am meisten fehlt.

Wir haben in Deutschland das große Glück eines international hoch angesehenen Außenministers. Frank Walter Steinmeier steht wie kein zweiter Politiker dafür, niemals die Bereitschaft zum Dialog, zum Kompromiss, zum Ausgleich zu verlieren. Frank-Walter Steinmeier ist der lebende Beweis dafür, dass es falsch ist, Menschen vorschnell zu diffamieren, nur weil sie versuchen, die Perspektive des Anderen nachzuvollziehen. Mit der Aufgabe eigener Prinzipien und Werte hat das nichts zu tun.

Annäherung statt Konfrontation, lieber kleine Schritte als große Worte – nach dieser Maxime handelte bereits Willy Brandt, als er mit seiner neuen Ostpolitik die Welt des Kalten Krieges veränderte. Für seine Politik des Wandels durch Annäherung schlug Brandt seinerzeit von vielen Seiten Misstrauen entgegen. Die Amerikaner wollten den westdeutschen Partnern anfangs keine freie Hand für Verhandlungen mit Moskau lassen. Polen und die DDR waren besorgt, es könnte zu einer Annäherung zwischen Bonn und Moskau über ihre Köpfe hinweg kommen. Und die CDU brandmarkte Brandts Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als Ausverkauf deutscher Interessen.

Wir müssen die NATO zusammenhalten: Dabei gilt aber auch: Die Prinzipien von Rechtsstaat und Demokratie gelten im Übrigen für alle NATO-Mitglieder.

Gemeinsam sind wir stark: Gemeinsam in Europa und gemeinsam in der NATO:

Deutschland muss seinen Einfluss heute vor allem darauf verwenden, in einem immer unsichereren Europa für mehr Vertrauen durch Kooperation zu sorgen.

Das war und bleibt die Kernbotschaft meiner Äußerungen in der vorvergangenen Woche. Und ich bin mir sicher: auch Polen und die baltischen Staaten sind letztlich – schon wegen der gemeinsamen Grenze mit Russland – an stabilen Beziehungen zu Russland interessiert. Auch sie wissen: dauerhaften Frieden in Europa kann es nur mit, nicht gegen Russland geben.

Ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Kalten Krieges stehen wir wieder an einer Wegscheide: Werden wir die Vision kooperativer Sicherheit in und für Europa weiter verfolgen - oder nicht? Und was wäre denn im Ernst die Alternative? Wie kann man im Ernst kritisieren, dass Reden und Diplomatie die besseren Ratgeber sind?

In diesem Sinne hoffe ich, dass uns allen der Kompass nicht verloren geht. Auch von Brandenburg aus sollten wir den Mut aufbringen, die größeren Zusammenhänge im Blick zu behalten – auch wenn es in der Welt da draußen gerade sehr kompliziert zugeht. Aber je schwieriger die Lage ist, desto besser stehen uns Besonnenheit und werben für mehr Miteinander zu Gesicht.

Vielen Dank!

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