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Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier beim Egon-Bahr-Symposium

21.04.2016 - Rede

Liebe Adelheid Bahr,
lieber Wolfgang Schmidt, lieber Roland Schmidt,
liebe Mitglieder des Willy-Brandt-Kreises,
liebe Gäste, liebe Freunde!

Ich danke Euch für die Einladung! Ich glaube, Egon wäre sehr zufrieden mit uns und einem Symposium, in dem wir sein Erbe zum Anlass nehmen, nicht für eine eingestaubte Gedenk-Veranstaltung, sondern um in die Zukunft zu schauen – so, wie er es auch immer getan hat.

Und Ihr hattet recht: um die Zukunft der europäischen Friedensordnung machte er sich in seinem letzten Lebensjahr allergrößte Sorgen. Es war kein Zufall, dass er die letzte große Rede vor seinem Tod in Moskau gehalten hat, an jenem Ort, der für Weichenstellungen in seinem politischen Leben ebenso steht wie für Schicksalsstunden im deutsch-russischen Verhältnis.

Ich selbst habe mit ihm noch kurz vor dieser Moskau-Reise zusammengesessen. Er war voller Sorge um das Verhältnis zu Russland, um die neuen Gräben zwischen Ost und West – zurecht. Es waren ernste Gespräche, suchend wo wir der wieder wachsenden Entfremdung zwischen Deutschen und Russen Einhalt gebieten können. Nach seiner Moskau-Reise waren wir wieder verabredet, er wollte von seinen Eindrücken berichten - nach seinen Gesprächen mit Gorbatschow und anderen erprobten russischen Gesprächspartnern. Wie so oft in den letzten Jahren! Doch es kam nicht mehr dazu. Jetzt fehlt mir seine Stimme – genau wie vielen von Euch.

Aber nicht nur sein kluger Rat fehlt mir aus diesen Gesprächen. Sondern auch, zum Beispiel, das vertraute Ritual unseres kleinen Tabakkollegiums! Alle paar Monate meldete er sich an: „Ich brauche genau eine Stunde!“ Fünf Minuten vor der Zeit war er da, setzte sich in den großen Sessel rechts von mir und stellte stets dieselbe allererste Frage – egal ob es nachher um Moskau, Washington oder Kiew ging: „Frank, wie geht es Deiner Frau?“ Dann kramte er Zigarettenschachtel und Feuerzeug aus der Jackentasche und hielt sie provozierend vor meine Nase. Immer dasselbe Ritual. Ich sage: „Egon, Du weißt doch, ich bin mühsam zum Nichtraucher geworden.“ Darauf er: „Kannst Du ja auch bleiben. Aber nimm eine, wirst sehen: es redet sich besser.“ Und dann saßen wir rauchend und redend die Stunde beieinander – bis er sagte: „Ich gehe jetzt, Du hast Wichtigeres zu tun.“ Und so pünktlich, wie er gekommen war, ging er hinaus, mit seinen bekannten kurzen Schritten.

Die Verantwortung für den europäischen Frieden, das Erbe von Egon Bahr und Willy Brandt, müssen wir heute, in stürmischen Zeiten, fortführen. Und diese Verantwortung für den europäischen Frieden hieß für die beiden immer auch: die Sorge um das Verhältnis zu Russland, um die Verhinderung neuer Gräben zwischen Ost und West.

Als der Kalte Krieg am kältesten war, wagten Willy Brandt und Egon Bahr den Aufbruch der Neuen Ostpolitik – damals heftig umstritten; deren Maximen uns heute aber geradezu zur außenpolitischen Staatsraison geworden sind. Der „Wandel durch Annäherung“, den Egon Bahr ab 1966 im Planungsstab des Auswärtigen Amtes minutiös vorausplante, wurde Wirklichkeit unter Willy Brandt im Kanzleramt, in der Politik der Kleinen Schritte, zu den Ostverträgen, zum KSZE-Prozess, und schließlich hin zur Wiedervereinigung und zum Zusammenwachsen Europas. Aus dem KSZE-Prozess ist nach der Wende die OSZE erwachsen, deren Vorsitz Deutschland in diesem Jahr innehat. Die Europäische Friedensordnung, der Willy Brandt und Egon Bahr mitten im Kalten Krieg den Weg bereitet haben, hat also bis heute eine erstaunliche Beharrungskraft erwiesen – und heute tragen wir Verantwortung für sie!

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Wo stehen wir heute mit dem Erbe der Brandt‘schen Ost- und Entspannungspolitik?

Ein zentrales Grundprinzip der Ostpolitik hat weiterhin Bestand – allein schon aus geographischen Gründen (die sich ja bekanntlich nur sehr langsam verändern…): Russland ist unser größter europäischer Nachbar. Oder wie Egon einmal sagte: „Amerika ist unverzichtbar. Russland ist unverrückbar.“ Und das bedeutet: Nachhaltige Sicherheit für Europa gibt es nicht ohne und schon gar nicht gegen Russland.

Aber die Vorzeichen unserer Ostpolitik sind heute andere. Sie haben sich geradezu umgekehrt!

Egon Bahr und Willy Brandt suchten in einer Zeit der Trennung nach Verbindungen. Sie haben Brücken errichtet über die Gräben des Kalten Krieges hinweg. Wir, im Gegenzug, sind heute, nach einer Phase des zumindest scheinbaren Zusammenwachsens, mit neuen und wachsenden Rissen in der europäischen und internationalen Ordnung konfrontiert!

Viele dachten in den 90er und 2000er Jahren, das Zusammenwachsen der Welt sei praktisch zum Selbstläufer geworden. Ihr werdet Euch erinnern: Vor 12 Jahren diskutierten wir noch über einen möglichen NATO-Beitritt Russlands. Viele, auch ich, auch viele von Euch hier im Raum, hatten große Hoffnungen in die Modernisierung Russlands gesetzt, und in eine wachsende Partnerschaft in einer gemeinsamen europäischen Friedensarchitektur. Wer Putins Rede von 2001 im Deutschen Bundestag noch einmal nachliest, findet diese Hoffnungen auf russischer Seite sehr deutlich gespiegelt.

Heute aber treten Risse, Fliehkräfte und Gegenbewegungen unübersehbar zutage:

Mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und der Destabilisierung der Ostukraine hat sich, erstmals seit Ende des Kalten Krieges, ein Teilnehmerstaat der OSZE offen gegen die Souveränität eines anderen Staates gestellt und die Prinzipien der KSZE-Schlussakte massiv in Frage gestellt. Dieser Vorgang gefährdet die Europäische Friedensordnung. An die Stelle nüchternen Interessenausgleichs in wichtigen Fragen ist eine Prestigepolitik Russlands getreten, die auf Augenhöhe mit den großen Staaten, allen voran den USA, drängt.

Der Vision eines gemeinsamen Raumes vom Atlantik zum Pazifik, für die wir so lange und intensiv gearbeitet haben – und die ja die richtige Perspektive bleibt! -, stehen in Russland nationalistische Stimmen und Abgrenzungsstreben von Europa gegenüber.

Hinzu kommt die tiefe russische Wirtschaftskrise, die sich neben dem niedrigen Ölpreis auch aus strukturellen Reformdefiziten speist. Vor diesem Hintergrund begrüße ich, dass zumindest Gespräche zwischen deutscher Wirtschaft und Präsident Putin über mögliche Modernisierungsinteressen wieder begonnen haben.

Und: Wo wir uns um Austausch in Kultur, Wissenschaft und Zivilgesellschaft bemühen, müssen wir Versuche auf russischer Seite zur Kenntnis nehmen, Räume für gesellschaftliche Interaktion zu kontrollieren und einzuschränken. Auch die Frage von Einflussnahme auf russische Minderheiten im Ausland ist so ein Gegenstand geworden. Ich habe in Moskau sehr deutlich zu Präsident Putin und Minister Lawrow gesagt: Wenn im sogenannten „Fall Lisa“, der in der Sache laut staatsanwaltlichen Ermittlungen völlig gegenstandslos war, in schneller Folge gleichzeitig Demonstrationen in mehreren Städten stattfinden, so muss es wohl Einflussnahme gegeben haben, was wir in den sozialen Medien, unter aktiver Beteiligung mancher russischer Botschaften, auch beobachten konnten.

Ich glaube: Zum realistischen Blick und letztlich zur Verantwortung für das Erbe von Egons und Willys Ostpolitik gehört, dass wir diese Risse erkennen und beim Namen nennen. Denn wir müssen davon ausgehen, dass diese Faktoren unser Verhältnis mit Russland auf lange Zeit beeinflussen werden.

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Was heißt das nun für unsere Politik? Ich werbe für den „Doppelten Dialog“ mit Russland: den Dialog über Gemeinsamkeiten und mögliche Felder der Zusammenarbeit. Aber auch den ehrlichen Dialog über unsere Unterschiede!

Ihr wisst, dass ich für den Dialog mit Russland werbe, wo immer es realistische Felder der Kooperation gibt. Ich suche diese Gespräche nicht nur bilateral – erst an Ostern habe ich in Moskau lange mit Putin, Lawrow und Medwedew gesprochen– sondern auch in den multilateralen Kontexten: innerhalb der OSZE, zwischen EU und Eurasischer Wirtschaftsunion, zwischen NATO und russischem Militär und Verteidigungspolitik, usw. Ich will, dass wir, wo es russische Bereitschaft zu Kooperation und gemeinsamer Konfliktlösung gibt, diese auch nutzen: Ich denke zum Beispiel an das Iran-Abkommen. Nach Verhandlungen, die ich über 10 Jahre lang begleitet habe und die mehr als nur einmal kurz vor dem Scheitern standen, weiß ich, wie wertvoll die Kooperation mit Russland zur Beendigung dieses Konflikts war. In ähnlicher Konstellation müssen wir das jetzt im Rahmen der ISSG für Syrien unbeirrt fortsetzen. Wir brauchen Russland am Verhandlungstisch, genau wie die Regionalmächte Türkei, Saudi-Arabien und den Iran. Ohne Russland gibt es keinen effektiven politischen Lösungsprozess für Syrien – und ich beobachte, dass Russland diese Lösung tatsächlich auch will. Die Rückschritte der letzten Tage in Genf, so glaube ich, bedeuten eine Unterbrechung, aber keinen Abbruch dieses Prozesses.

In diesen Kontext der Kooperation gehört auch der NATO-Russland-Rat. Dass er gerade gestern nach längerer Pause wieder getagt hat, dafür haben wir uns stark gemacht und das begrüße ich ausdrücklich. Das Tagen des Rates ist ein sichtbares Zeichen nach außen. Innerhalb der NATO aber habe ich schon länger für ein Mindestmaß an Vertrauensbildung auch auf militär-technischer Ebene gestritten, um Gefahren und Vorfällen vorzubeugen. Und im Rahmen unseres OSZE-Vorsitzes schlagen wir die Einführung eines gemeinsamen Krisenreaktions- und Mediationsmechanismus vor.

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Zum Konzept des „Doppelten Dialoges“ gehört aber, dass wir -neben Feldern der Kooperation- genauso ernsthaft und ehrlich mit Russland über unsere Unterschiede sprechen sollten.

Mit Blick auf den NATO-Russland-Rat schrieb die Süddeutsche Zeitung gestern in leicht geringschätzigem Ton: „Der Bruch [zwischen dem Westen und Russland] ist Realität und wird auch durch ein gutes Gespräch nicht verschwinden.“

Das stimmt natürlich – ist aber im Grunde trivial. Ein Gespräch hat selten die Welt verändert. Aber uns im Dialog über die Bruchlinien klarer zu werden, mag dabei helfen, sie langfristig zu überwinden! Ein gemeinsames Verständnis über die Natur und das Ausmaß unserer Differenzen, über die verschiedenen Vorstellungen von einer gemeinsamen internationalen Ordnung, beseitigt diese Differenzen nicht. Aber sie werden potenziell weniger gefährlich und weniger anfällig für Fehlinterpretationen und Fehlentscheidungen, die zu unbeabsichtigten Folgewirkungen führen könnten - auf militärischer, diplomatischer und politischer Ebene.

Oft ist das Problem: Wir „lesen“ uns gegenseitig schlecht. Entweder lesen wir uns gar nicht – sondern tauschen lediglich Stereotype aus. Oder wir sind immer wieder voneinander überrascht – und setzen gleichwohl darauf, dass unsere bewusst gesetzten Signale auf der anderen Seite richtig verstanden werden. Meistens in der Außenpolitik gibt es nicht nur ein Signal. Deshalb ist es oft nicht einfach, aus einer Vielzahl von gleichzeitigen Signalen die jeweils ‚richtigen‘ herauszufiltern.

Und so ein „Dialog über Trennendes“ erreicht übrigens noch etwas: Er macht der russischen Seite deutlich, dass unsere Bereitschaft zur Zusammenarbeit in einigen Bereichen nicht eine stillschweigende Hinnahme von anderen Dingen bedeutet, die wir nicht akzeptieren können – wie die schon erwähnte Einflussnahme auf russische Minderheiten oder die Finanzierung nationalistischer Parteien im Ausland. Sondern über diese „anderen Dinge“, über das Trennende, müssen wir sprechen!

Dieser „Doppelte Dialog“ muss auf mehreren Ebenen geführt werden, von Experten bis zu Politikern. Er muss langfristig sein, um nachhaltige Wirkung zu entfalten. Denn Verständigung über Gemeinsamkeiten ist ja schon kompliziert genug – Verständigung über Unterschiede braucht noch viel mehr Zeit! Gerade für die Zivilgesellschaft, gerade für die vielen im deutsch-russischen und europäisch-russischen Verhältnis engagierten Stiftungen und Vereine sehe ich hier eine zentrale Rolle – auch für diesen Willy-Brandt-Kreis, für die Friedrich-Ebert-Stiftung, das Deutsch-Russische Forum und andere. Wer, wie so viele von Euch, gute Gesprächsdrähte hat, sollte sie jetzt nutzen, um über Gemeinsames ebenso wie Trennendes zu sprechen!

In Zeiten, in denen die Risse auf politischer Ebene zunehmen, kommt es umso sehr auf den Draht zwischen den Menschen an. Wir müssen der drohenden Entfremdung unserer Gesellschaften entgegenwirken. Zu diesem Zweck habe ich mit meinem russischen Amtskollegen beschlossen, in diesem Sommer ein deutsch-russisches Jahr des Jugendaustauschs einzuläuten. Wir wollen die Hochschulkooperation zwischen Deutschland und Russland ausweiten. Und, um Russland besser zu verstehen, das Gemeinsame und das Trennende, -sozusagen um das gegenseitige „Lesevermögen“ zu erhöhen–, werden wir dieses Jahr in Berlin ein neues Forschungsinstitut für Osteuropa und Russland aus der Taufe heben.

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Was bedeutet der „Doppelte Dialog“ unterm Strich für unsere politische Zusammenarbeit mit Russland? Ich würde sagen: Kooperation, wo möglich – Dialog und Bewusstsein über Unterschiede, wo nötig!

Oder kurz gesagt: Es gibt kein schwarz-weißes Verhältnis zu Russland!

Ich erinnere mich an ein NATO-Außenministertreffen, noch recht am Anfang der Ukraine-Krise. Da sagte der kanadische Außenminister: ‚ Wir müssen uns jetzt entscheiden, ob Russland Freund oder Feind, Partner oder Gegner ist.‘ Ich sagte ihm: 'In Kanada kann man diese Frage vielleicht so stellen. In Europa wird Russland immer eines bleiben: ein großer Nachbar!’

„Kooperation, wo möglich – Bewusstsein über Unterschiede, wo nötig“ – in der Sprache der Thinktanks würde man sagen: „compartmentalized cooperation“. Das ist ein schwieriger Balanceakt, umso mehr angesichts der engen Verwobenheit von Außen- und Innenpolitik und einer Medienlandschaft, die jede Regung der Politik sofort zur Kenntnis nimmt, umgehend abbildet und dadurch verstärkt. Aber auch hier sollten wir uns am Namensgeber dieses Symposiums orientieren, der ja früher selbst Journalist war: Egon war nicht nur ein gewiefter Verhandler, sondern auch ein brillanter Kommunikator! Als er Ende 1972 den Grundlagenvertrag ausverhandelt hatte und die Journalisten dachten, nun würde sich die Brandt-Regierung gehörig selbst abfeiern, sagte Egon nur: „Früher hatten wir gar keine Beziehungen mit der DDR. Jetzt haben wir wenigstens schlechte.“

Natürlich ist „Compartmentalized Cooperation“ kein Idealzustand für den Zustand unserer Beziehungen mit Russland. Es ist eine Notwendigkeit in einer Zeit, die turbulent ist und in der wir eben nicht – wie manche es tun unter Rückgriff auf Jahreszahlen wie z.B. 1946 mit George Kennans Langem Telegramm – eine neue internationale Ordnung festschreiben können. Unser langfristiges Ziel bleibt, Russland zur Rückkehr zur regelbasierten internationalen Ordnung auf Basis der KSZE-Schlussakte und der Charta von Paris zu bewegen und wieder zu einer umfassenderen Kooperation zu gelangen.

Solange dies aber nicht möglich ist, sind wir bereit, zumindest in den Bereichen zusammenzuarbeiten, in denen es sinnvoll und machbar ist. Auch in dieser Herangehensweise stehen wir, so glaube ich, in Egons Tradition: Realitäten anerkennen, heißt nicht, sie zu akzeptieren. Oder in seinen eigenen Worten: Du musst den Status Quo kennen, damit Du ihn überwinden kannst! Ich freue mich auf die Diskussion. Vielen Dank.

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