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Rede von Staatsministerin Michelle Müntefering bei der virtuellen Konferenz „Colonialism as Shared History: Past, Present and Future

07.10.2020 - Rede

Die Aufgabe von Tonstudios ist es, Schall zu absorbieren. Sie sind hermetisch abgeriegelt, lassen keinen ungewünschten Ton nach drinnen oder draußen. Keine Nebengeräusche. Keine Ablenkung. Dafür auch keine Misstöne.

Manchmal erinnert mich die Art, wie wir in Deutschland noch immer über den Kolonialismus sprechen, an ein solches Tonstudio.

Das Lied, das wir in Deutschland lange angestimmt haben, trug den Titel: „Innocent“.

Ja, die übrigen europäischen Kolonialmächte hätten sich natürlich einiges zuschulden kommen lassen. Die deutsche Kolonialzeit sei dagegen zum Glück zu kurz gewesen, um wirklich großes Unheil anzurichten. Indes: Die Platte hat einen Sprung.

Es ist nicht so, dass es nicht schon früh Warner und Mahner gab.

August Bebel hielt 1884 eine Rede vor dem deutschen Parlament, in dem er die Verbrechen des Kolonialismus klar benannte:

„Im Grund genommen ist das Wesen aller Kolonialpolitik die Ausbeutung einer fremden Bevölkerung in der höchsten Potenz. […] Und das treibende Motiv ist immer: Gold, Gold und wieder nur Gold zu erwerben“.

Da fragt man sich schon: Wie konnte es sein, dass in der öffentlichen Wahrnehmung die deutsche Kolonialzeit so lange mit Exotik und Abenteuer assoziiert wurde, und nicht mit Ermordung und Ausbeutung?

Seit einigen Jahren hat sich der Ton geändert. Auch dank der Arbeit der Vielen in Wissenschaft und Zivilgesellschaft, die nicht nachgelassen haben, diese Melodie zu hinterfragen.

Die Verbrechen, die Deutsche in Namibia begangen haben, würde man nach heute geltender Rechtslage als Völkermord bezeichnen. Das habe ich 2018 auch bei meiner Reise nach Namibia gesagt. Ich bin dankbar, dass die Verhandlungen mit Namibia in den letzten Jahren von beiden Seiten in einem konstruktiven Geist geführt - und hoffentlich bald auch zu einem guten Ende geführt werden können.

Wir haben begonnen, uns der eigenen historischen Verantwortung zu stellen. Der Koalitionsvertrag benennt dies deutlich - zum ersten Mal. Wir haben damit begonnen, die Konsequenzen unserer Verantwortung zu ziehen.

Im vergangenen Jahr haben wir Eckpunkte zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten verabschiedet. Diesen August hat die zentrale Anlaufstelle von Bund und Ländern ihre Arbeit aufgenommen.

Das sind wichtige Schritte. Aber wir dürfen es nicht dabei belassen.

Machen wir die Türen unseres globalen Tonstudios auf und laden dazu ein, gemeinsam einen neuen Akkord anzuschlagen.

Eine gemeinsame Geschichte zu haben, bedeutet keine Relativierung historischer Verantwortung.

Die koloniale Herrschaft hat in vielen Ländern, gerade in Afrika, tiefe Wunden hinterlassen. Diese gilt es anzuerkennen, nachzuempfinden, zu verstehen.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geben sich schon seit längerem nicht mehr mit alten Antworten zufrieden. Bei aller Vielfalt in der Debatte, ist das einende Plädoyer: Raus aus den alten Denkmustern. Ich finde, Sie haben Recht.

Denn wir stehen als globale Gemeinschaft vor enormen Herausforderungen. Corona ist nur eine davon.

Es bleibt dabei: Wir haben nur einen Planeten, auf dem wir leben können. Und das geht eben viel besser miteinander statt gegeneinander.

Wir brauchen einen globalen Austausch an Ideen - und sollten dabei viel offener werden auch für Lösungsansätze aus nicht-westlichen Gesellschaften für eine nachhaltige, gerechte Welt.

Mein Eindruck ist, dass diese Konzepte in Europa und den USA noch viel zu wenig aufgegriffen werden. Angesichts einer global vernetzten Welt, können wir es uns jedoch gar nicht mehr erlauben, einander nicht zuzuhören.

Und ich finde wir müssen uns auch eingestehen: Die Ungleichheit ist nach wie vor immens. Auch wenn wir uns in den letzten Jahren bemüht haben - erfolgreich waren wir nicht immer überall.

Angesichts des Klimawandels, der demografischen Entwicklung, dem technischen Fortschritt drohen weitere Verwerfungen, denen wir nur durch Kooperation erfolgreich begegnen können.

Auch den Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlage werden wir nur gemeinsam meistern. Das alles hat miteinander zu tun. Deswegen ist es richtig und wichtig, jetzt auch Verantwortung als wirtschaftsstarkes Land zu übernehmen und hoffentlich bald ein Lieferkettengesetz zu verabschieden.

Wir dürfen auch nicht vergessen: Zur Gestaltung partnerschaftlicher Beziehungen gehört auch der Blick der Welt auf uns. Sind wir überhaupt ein attraktiver Partner oder gibt es inzwischen andere, die mehr zu bieten haben?

Sehr geehrte Damen und Herren,

die UN Charta verbrieft die Gleichwertigkeit der Menschen. Kulturpolitik kann sicher nur einen kleinen Beitrag leisten, um sie zu verwirklichen - aber vielleicht auch einen ganz entscheidenden. Das gilt im Umgang mit den afrikanischen Ländern, aber ebenso für andere Teile der Welt, etwa Lateinamerika. Was tun wir, um die Rechte der indigenen Bevölkerungen zu schützen? Was verändern die Anklagen der Black Lives Matter Bewegung?

Das WIE wir miteinander umgehen, wie wir uns begegnen und wie wir ein Verständnis füreinander schaffen - das ist auch eine kulturelle Frage.

Wir müssen ein gemeinsames Verständnis füreinander entwickeln; ein Verständnis, das sich nicht nur aus dem Hier und Jetzt speist, sondern auch aus der Vergangenheit, aus gemeinsamen Erfahrungen und Erlebnissen. Aus einem tieferen Verständnis und einer neuer Verbundenheit kann eine Stärke erwachsen, um diese Welt miteinander zu gestalten.

Uns hier im Kreis eint die gemeinsame Überzeugung: „Us Together“ statt „Me First“. Doch damit sollte man nicht meinen, sei bereits Einigkeit hergestellt und alles gesagt.

Zu besprechen gibt es genug: zum Beispiel über Schulbildung, über die universitären Curricula, die Namen von Straßen und Plätzen in unseren Städten oder die Arbeit in Museen beim Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten.

Was dabei aber wichtig ist: Dieser Dialog muss in der Breite der Gesellschaft geführt werden. Das ist wichtig, denn das alte Lied des Kolonialismus hallt noch immer nach: Ein Ohrwurm, den man nur schwer aus den Köpfen bekommt.

Immer wieder ist zum Beispiel pauschal von Afrika die Rede. Meist als Kontinent der Krisen und Katastrophen. Dass auf dem afrikanischen Kontinent mehr als eine Milliarde Menschen in 54 Staaten leben, dass zwischen Kairo und Kapstadt tausende von Kilometern liegen, und dass auf dem afrikanischen Kontinent über 2000 Sprachen gesprochen werden, das wissen die wenigsten.

Diesem Unwissen müssen wir begegnen, denn es ist der Nährboden für Vorurteile und für Rassismus.

Auch daher gilt es, blinde Flecken in unserer Kolonialgeschichte aufzuarbeiten. Als Auswärtiges Amt wollen wir hier vorangehen. Wir feiern dieses Jahr unser 150-jähriges Bestehen. Dieses Jubiläum muss ein Anlass auch für eine selbstkritische Betrachtung sein. Zu oft in unserer Geschichte war die deutsche Diplomatie ohne moralischen Kompass unterwegs. Hierzu zählt auch die Zeit des Kolonialismus.

Ich fände es daher gut, wenn wir die Rolle der verschiedenen Behörden und Stellen der Reichsregierung in der Kolonialzeit gezielter aufarbeiten. Warum hierzu nicht beispielsweise Stipendien vergeben? Und zwar nicht nur an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Deutschland, sondern auch aus den ehemaligen Kolonien.

Der Kolonialismus war keine Fußnote der Geschichte. Er prägt noch heute das Leben von Milliarden Menschen. Ich meine, auch im Geschichtsunterricht sollte die Beschäftigung mit der Kolonialzeit viel stärker als bisher verankert werden und in Zukunft einen angemessenen Raum in Schulbüchern erhalten.

Die Digitalisierung bietet im Übrigen auch über Schulbücher hinaus die Chance für neue Zugänge zum Thema. Warum nicht zum Beispiel über das Internet gemeinsame Gespräche von Schulklassen aus Europa und Afrika organisieren? Dann könnten sich die Schülerinnen und Schüler direkt mit ihren Altersgenossen im anderen Land austauschen und ganz nebenbei auch noch ihre Englisch- oder Französischkenntnisse verbessern. Das wäre ein fächerübergreifender Unterricht im besten Sinne.

Ich würde mich freuen, wenn Sie solche Gedanken auch in ihrem Kreise aufnehmen und im Rahmen der Konferenz mit diskutieren könnten. Ich weiß, es sind Themen, die auch bereits einige von Ihnen seit längerem beschäftigen.

Schließlich brauchen wir auch einen neuen Ansatz bei der Darstellung der Kolonialzeit in den Museen. Es ist gut, Ausstellungen inzwischen einen viel stärkeren Fokus auch auf gemeinsames Kuratieren und auf den Austausch setzen, ob in Bremen, Hamburg oder Stuttgart.

Auch das Humboldt-Forum steht vor der Aufgabe, nicht einfach Objekte aus fernen Ländern wie in einem Schaufenster ausstellen, sondern ein echter Ort der Begegnung zu werden.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Mich freut es sehr, dass wir heute viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der ganzen Welt begrüßen dürfen, die neben ihrer wissenschaftlichen Expertise die Perspektive aus ihren Gesellschaften mitbringen.

Das ist eine unabdingbare Voraussetzung dafür, dass diese Konferenz uns einen Schritt weiterbringen kann in der großen Aufgabe der Aufarbeitung. Und damit auch dem Ziel, die koloniale Vergangenheit als einer „shared history“ zu begreifen.

Wie können wir eine gemeinsame Perspektive auf die Geschichte entwickeln?

Welche Vorbilder für eine gemeinsame Zukunft gibt es?

Welche Ideen helfen uns dabei, nachhaltige Projekte, Institutionen und Orte der Reflexion zu schaffen?

Darum geht es heute. Ich jedenfalls bin sehr gespannt auf die Gespräche der kommenden Tage. Für uns als Auswärtiges Amt ist schon jetzt klar, dass wir den Dialog und die Bemühungen fortsetzen wollen.

Einen besonderen Dank möchte ich an Dr. Bettina Brockmeyer, Prof. Rebekka Habermas und Prof. Ulrike Lindner richten. Sie haben das Konzept dieser Veranstaltung ausgearbeitet und die Konferenz mit viel Herzblut ins Leben gerufen und dabei wahrlich einen langen Atem bewiesen, um gemeinsam mit uns diesen wissenschaftlichen Austausch zu ermöglichen.

Eigentlich hätten wir uns bereits im Mai hier in Berlin treffen wollen. Corona hat uns dabei einen Strich durch die Rechnung gemacht. Umso mehr freut es mich, dass wir die Konferenz heute im virtuellen Format gemeinsam eröffnen können.

Last, but not least: ein großer Dank an die Gerda Henkel Stiftung, die ein wichtiger und verlässlicher Partner bei der Organisation dieser Konferenz war und die Vorbereitungen immer wieder mit wichtigen Impulsen vorangetrieben hat.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Wir brauchen heute mehr denn je einen breiten gesellschaftlichen Austausch. Kein hermetisches Tonstudio, sondern den Chor der vielen: der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Künstlerinnen und Künstler, aber auch der breiten Zivilgesellschaft in Europa und in den Staaten mit Kolonialgeschichte. Das Lied, das dabei herauskommen wird, wird vielgestaltig sein. Es wird Nebengeräusche haben und vielleicht auch einige Misstöne. Aber ich kann Ihnen sagen: Eine shared melody, eine shared history - das wird gut werden.

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