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In Demut für Frieden und Europa
Beitrag von Außenminister Heiko Maas für die Medien der Herholz-Gruppe anlässlich des 50. Jahrestages des Kniefalls von Bundeskanzler Willy Brandt im ehemaligen Warschauer Ghetto
Ein Griff zur Schleife des Trauerkranzes. Zwei, drei Schritte zurück, innehalten. Dann plötzlich sinkt der Kanzler auf die Knie, für endlose Sekunden, den Blick gesenkt. Und ringsherum staunendes Schweigen. Kein Protokoll hatte das so geplant. Der kniende Willy Brandt am Denkmal der Opfer des Warschauer Ghettos – sein Bild berührt heute wie vor fünfzig Jahren. „Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt,“ schrieb Brandt später.
Brandts Kniefall war Eingeständnis deutscher Schuld – für die Menschheitsverbrechen des Holocausts und des Vernichtungskriegs gegen Polen. Der Kanzler verbeugte sich vor polnischem Leid und dem Mut der Jüdinnen und Juden, die 1943 den Ghetto-Aufstand gegen deutsche Besatzer wagten. Dafür warfen ihm zu Hause viele Übertreibung oder gar Landesverrat vor. Persönlich trug der Exilant keine Schuld. Der Kanzler kniete, obwohl er es nicht nötig hatte. Er kniete für die, die es nötig hatten – aber nicht knien wollten.
In Warschau unterzeichnete Brandt 1970 den Warschauer Vertrag – mit der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze ein Wendepunkt der deutsch-polnischen Beziehungen. Gegen Polen hatten die Nazis 1939 ihren rassenideologischen Vernichtungskrieg entfesselt. Brandts Kniefall am Denkmal des Warschauer Ghettos war deshalb eine Verneigung vor allen polnischen Opfern des Krieges – und auch des Warschauer Aufstands 1944. Daher ist es so wichtig, dass der Bundestag zuletzt entschieden hat, den polnischen und allen anderen osteuropäischen Opfern des Vernichtungskrieges zukünftig in Deutschland mit würdigen Erinnerungsorten zu gedenken.
Schließlich steht Brandts Kniefall für seine neue Ostpolitik. Für den Blick in die Zukunft, der ihm 1971 den Friedensnobelpreis einbrachte. In der außenpolitischen Revolution der Ostverträge erkannte die Bundesrepublik die DDR und den territorialen status quo in Europa an. Damit präsentierte Brandt Osteuropa und der Welt ein neues, friedliches Deutschland. Und erwarb so der Bundesrepublik das wertvollste Gut der Diplomatie – Vertrauen. Dieses Vertrauen hat – gemeinsam mit dem unerschütterlichen Mut vieler Menschen auf den Straßen – 1990 die Wiedervereinigung möglich gemacht.
Wir leben heute in einem Europa, für das Willy Brandt die Fundamente legte. Mit der Europäischen Union, Demokratie, Wohlstand, Frieden. Auf sein Werk bauen wir mit einer neuen europäischen Ostpolitik auf. Anders als Brandt müssen wir heute nicht mehr den Umweg über Moskau gehen, um mit unseren östlichen Nachbarn zu sprechen. Viele Partner in Ost- und Mitteleuropa sehen Russland heute sehr kritisch – und deutsche Außenpolitik muss die Ängste unserer Nachbarn ernst nehmen. Neben Angebotes des Dialogs sind daher klare deutsche Positionen gegenüber Moskau wichtig, um Vertrauen in Osteuropa zu erhalten. Die weitere Aussöhnung mit unseren östlichen Nachbarn – besonders Polen – bleibt unsere große Aufgabe. Dazu verpflichtet uns das Erbe Willy Brandts. Und dabei sollten wir uns von Mut und Demut leiten lassen – so wie Brandt vor fünfzig Jahren am Denkmal des Warschauer Ghettos.