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Europa braucht mehr als Lippenbekenntnisse.

15.12.2017 - Namensbeitrag

Laudatio von Außenminister Sigmar Gabriel anlässlich der Kür des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zum Menschen des Jahres durch das Handelsblatt.

Emmanuel Macron als Präsidenten der Französischen Republik zu kennen, ist eine große Ehre. Ihm aber menschlich näher gekommen zu sein, ist ein großer persönlicher Gewinn. . Zur Geburt meiner jüngsten Tochter hat er mir, als er mich im Auswärtigen Amt besuchte, einen rosa Plüschhasen mitgebracht – unordentlich verpackt in knittrigem Geschenkpapier. Und es war gerade diese kleine Geste, die sein Wesen ausmacht, denn das Geschenk hatte er – trotz seines dichten Kalenders, er war damals mitten im Rennen um das Präsidialamt – selbst noch am Flughafen gekauft und eingepackt.

Aber auch jenseits des Anekdotischen: Ich kenne ihn auch lange genug, um zu wissen, dass er sich für das, was ihm wichtig ist bis zum letzten einsetzt. Europa ist dieses Thema. Und Europa braucht ihn.

Europa hat viele Bastler und Tüftler, die sich in den operativen Fragen hervorragend auskennen und deshalb die Europäische Union an vielen Stellen zugleich besser machen und voranbringen. Was aber in den letzten Jahren, vielleicht sogar Jahrzehnten fehlte, ist ein Visionär für Europa, der nicht nur im stillen Kämmerlein für Europa forscht und schreibt, sondern der - an entscheidender Schaltstelle und mit entsprechender Entscheidungskraft ausgestattet – ein Herz hat, das für Europa schlägt, den Willen besitzt, wirkliche Reformen zu wagen und den Blick und langen Atem hat, die dafür notwendigen operativen Schritte zu tun.

Emmanuel Macron besitzt all dies. In einer Zeit, in der an der Europäischen Integration gezweifelt, an ihren Grundprinzipien und Fundamenten gerüttelt wird, in der Populisten mit anti-europäischen Parolen Stimmen sammeln, brauchen wir jemanden wie Macron, der sich nicht scheut, für Europa einzutreten und klar auszusprechen: Ohne Europa ist alles nichts.

Auf seine Initiative hin haben wir entscheidende Fortschritte bei einer wirklich europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik gemacht. Eine Entwicklung, von der Experten noch vor ein paar Jahren nicht einmal zu träumen wagten. Natürlich ist dies auch den politischen Begleitumständen – etwa der Notwendigkeit strategischer, sicherheits- und verteidigungspolitischer Eigenständigkeit Europas – geschuldet. Es braucht aber Menschen, die diese Gelegenheit am Schopf packen und in die Umsetzung gehen. Emmanuel Macron ist ebendas und noch mehr: Öffentlich sagt er, dass er sich vorstellen kann, auf einen französischen Kommissar zu verzichten. Er kann sich eine radikale neue EU-Agrarpolitik vorstellen. Ein französischer Präsident also, der die nationalen Interessen für ein europäisches Ganzes zurückstellt!

Aber ebenso klar ist, dass Macron auf die Deutschen bauen können muss, um wirklich etwas zu bewegen. Als wir gemeinsam im März an einer Diskussion mit Jürgen Habermas in Berlin teilnahmen, sprach Emmanuel Macron das aus, was für ihn und auch für mich selbstverständlich ist: ein europäisches Momentum und einen Fortschritt für Europa schaffen wir nur, wenn Deutschland und Frankreich gemeinsam vorangehen.

Deshalb hat Frankreich und hat Emmanuel Macron eine Antwort verdient, die über das müde Lächeln hinausgeht, das seinen Vorschlägen zurzeit in Berlin entgegengebracht wird. Denn: Das Erfolgsmodell der Europäischen Einigung ist noch längst nicht gesichert.

Vier Beispiele dafür.

Erstens: Wirtschaftliche und soziale Ungleichgewichte stellen den Zusammenhalt und die Solidarität innerhalb der EU vor eine Zerreißprobe. Die Arbeitslosenquote im Euroraum mag im Juni 2017 bei 8,9%, also der niedrigsten Quote seit Februar 2009, gelegen haben. Der Unterschied aber zwischen der Arbeitslosenquote in Ländern wie Tschechien und Deutschland und etwa Griechenland und Spanien ist markant – und das fällt gerade bei der Jugendarbeitslosigkeit ins Gewicht. Deshalb können wir uns nicht darauf ausruhen, dass es uns in Deutschland gerade gut geht. Denn damit es langfristig so bleibt, müssen wir nicht nur bei uns zuhause investieren – sondern in Europa!

Macron hat deshalb Recht, wenn er fordert, dass wir gemeinsam die Europäische Union in die Lage versetzen müssen, in ihre Bürger, in Wirtschaftswachstum und in Bildung zu investieren. Für Macron ist Europa eben mehr als ein kalter Binnenmarkt. Er will ein Europa das schützt, dass nicht abstrakte Interessen von Märkten und den Wettbewerb jeder gegen jeden vertritt, sondern die Interessen seiner Bürgerinnen und Bürger nach innen und nach außen vertritt. Ein soziales und ein marktwirtschaftliches Europa. Macron ist damit, wenn man so will, die europäische Kombination aus Ludwig Ehrhardt und Karl Schiller.

Nur mit dieser modernen Idee einer europäischen sozialen Marktwirtschaft halten wir Europa zusammen. Nur so kann die Europäische Union zu einer wirklichen Gemeinschaft zusammenwachsen – und nur so können wir Europa für die Jungen zur Lösung machen, statt zum Problem. Was mich dabei beeindruckt: Macron ist ehrlich. Er sagt den Franzosen, dass sie zuerst Reformen in Frankreich angehen müssen, um dann gestärkt Reformen in Europa anstoßen zu können. Er will die EU nicht melken, sondern er will sie stärken.

Zweitens: Die Flüchtlingskrise hat einen weiteren tiefen Riss gezogen, gerade zwischen Deutschland und anderen Mitgliedstaaten, die bei uns die Verantwortung für die Migrationsflüsse nach Europa sehen und dabei die Augen davor verschließen, dass nicht Deutschland, sondern die blutigen Krisen im Ausland die Menschen auf den Weg getrieben haben. Diese Risse schließen sich nicht von selbst. Es bedarf gemeinsamer Brücken und auch Geduld und Verständnis für die gegenseitigen Positionen. Für alle muss aber ganz klar sein: Bei aller Diskussion dürfen Europäisches Recht und europäische Rechtsprechung nicht angezweifelt werden. Deutschland kann diese Überzeugungsarbeit nicht allein leisten.

Dies bringt mich zu einer dritten Herausforderung: Die Europäische Union fußt auf einem starken Fundament von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Dieses Fundament müssen wir auch im Inneren verteidigen. Nach innen hin wegschauen und nach außen predigen: Das würde der EU nicht nur ihre Glaubwürdigkeit rauben, es würde auch die europäischen Bürger im Stich lassen, die auf diese Prinzipien bauen. Auch hier brauchen wir deshalb eine große Mehrheit von überzeugten Mitgliedstaaten, die eine klare Linie fahren.

Viertens brauchen wir eine wirkliche europäische Außenpolitik, die Hand in Hand mit den EU-Interessen geht und die mehr ist, als ein gemeinsamer, kleinster Nenner. Denn die Risse im Innern der EU bieten Angriffsfläche für Spaltpilze von außen. Dabei müssen wir uns nicht lange umschauen: Das Vorgehen Chinas als wirtschaftliche Macht, die durch kluge Investitionspolitik versucht, mit den 16 + 1- Gesprächen einen Keil in die Europäische Union zu treiben zeigt doch, wie bitter notwendig es ist, die Europäische Union fester in ihren Prinzipien und wehrhafter in ihrer Einheit zu machen. Wer kann sich einem Handelsgiganten wie China, der harte eigene Interessen kompromisslos vertritt entgegenstellen – wenn nicht eine Europäische Union, die unsere Standards und unsere Weltoffenheit zugleich schützt und stützt.

In dieser Situation ist ein französischer Präsident Emmanuel Macron ein Glücksfall für die Deutschen. Haben wir das noch nicht erkannt?

Gerade jetzt darf es nicht sein, dass eine deutsche Bundesregierung ihre Europapolitik nur nach dem Taschenrechner ausrichtet. Nach dem Motto: Ideen erst mal auf die Kosten durchprüfen. Für die nächste Bundesregierung muss die Zusammenarbeit mit Frankreich an einer gemeinsamen europäischen Reformagenda im Fokus stehen. Der Blick darf nicht nach unten auf die Geldbörse, sondern muss nach Vorn gehen.

Wie können wir gemeinsam mit Emmanuel Macron in Europa die Weichen stellen, die es braucht, um die EU für die nächsten Jahrzehnte zu stärken. Wir könnten uns keinen besseren Partner dabei wünschen, als ihn, den für Europa brennenden französischen Präsidenten, der den europäischen Traum in Realität umsetzt - mit Mut für das Notwendige und einem klaren Blick für das Machbare.

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