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Rede von Außenminister Wadephul bei der estnischen Botschafterkonferenz in Tallinn

28.08.2025 - Rede

Übersetzung aus dem Englischen

Als du, lieber Margus, nach Amtsantritt der neuen Bundesregierung vor etwa vier Monaten als estnischer Außenminister eine Erklärung veröffentlicht hast, war das ein riesiges Kompliment.

Du sagtest, ich zitiere:

„In Zeiten geopolitischer Ungewissheit ist die Einheit der europäischen Verbündeten wichtiger als je zuvor. Deutschland ist der Eckpfeiler der Einheit der europäischen Union, der demokratischen Werte und der internationalen regelbasierten Ordnung.“

Sie müssen wissen: Ich komme aus dem nördlichsten Teil Deutschlands, auch ich lebe an der Ostseeküste. Die Menschen in meinem Land sagen, dass die Norddeutschen nicht zu Gefühlsausbrüchen neigen.

Daher ist meine Antwort darauf natürlich auch nur:

Jo, danke.

Aber Spaß beiseite: Obwohl wir Norddeutsche nicht wissen, wie wir mit einem Kompliment umgehen sollen, möchte ich diese Gelegenheit heute nutzen, um ein bisschen gegen dieses Klischee zu gehen.

Nicht, um über deutsche Errungenschaften sprechen.

Sondern auch, um über meine zutiefst empfundene Wertschätzung für Estland zu sprechen.

Bevor ich Außenminister wurde, insbesondere als Leiter der deutschen Delegation bei der Parlamentarischen Versammlung der NATO, habe ich mir oft den Rat und die Expertise unserer baltischen Freunde eingeholt.

Weil ich denke, dass wir in Deutschland eine Menge von Ihnen lernen können. Vor allem dies:

die baltische Immunität gegenüber Illusionen.

Lange Zeit war eine der Illusionen, der sich mein Land viel zu stark hingegeben hat, die, dass Geopolitik ein lästiges Ding der Vergangenheit sei.

Dass Wirtschaftsbeziehungen und Pipelines über grundlegende Differenzen mit denjenigen, die unsere fundamentalsten Werte ablehnen, hinwegtäuschen können.

Mit denjenigen, die sich dem Völkerrecht sowie der Souveränität und territorialen Unversehrtheit entgegenstellen.

Ich spreche natürlich über Russland. Ich spreche über die Weckrufe, die wir nicht gehört haben.

Und über den einen, den mein Land dann 2022 gehört hat.

Wenn ein estnischer Außenminister heute entspannt sagen kann, dass Deutschland ein Eckpfeiler der europäischen Einheit, der demokratischen Werte und der internationalen regelbasierten Ordnung ist, fühle ich mich unheimlich stolz.

Denn es spricht nicht nur für die Breite und Tiefe unserer bilateralen Beziehungen und unserer Freundschaft als Partner und Verbündete in der Europäischen Union und in der NATO.

Sondern es ist auch ein Beweis dafür, welche Entwicklung mein Land seit 2022 durchlaufen hat. Dabei, die Illusionen loszuwerden, denen es sich wahrscheinlich zu lange hingegeben hat.

Wir sind – zumindest in absoluten Zahlen – der größte Unterstützer der Ukraine in Europa geworden, mit einer militärischen Unterstützung in Höhe von insgesamt 40 Milliarden Euro seit 2022.

Wir haben gerade bis zu 500 Millionen US-Dollar zusätzlich bereitgestellt, um über die NATO amerikanische Waffen für die Ukraine zu erwerben.

Im Lauf des nächsten Jahrzehnts wird mein Land die größte Investition in unsere Streitkräfte seit der Wiedervereinigung vornehmen.

Und erst gestern hat unser Kabinett eine Gesetzesvorlage über die Wiedereinführung des freiwilligen Wehrdiensts bis Ende des Jahres beschlossen.

Es ist uns gelungen, europäische Verbündete für die European Sky Shield Initiative (ESSI) zu gewinnen.

Und wir haben natürlich immer mehr Verantwortung für die Sicherheit unserer baltischen Verbündeten übernommen. Mit unseren Beiträgen zur Luftraumüberwachung der baltischen Staaten im Rahmen der NATO sowie der dauerhaft stationierten Brigade der Bundeswehr in Litauen.

Wir Deutsche haben uns von vielen Illusionen verabschiedet.

Aber die Esten hatten nie Zeit für Illusionen.

Nicht nur, weil russischer Imperialismus, sowjetische Besatzung und in vielen Fällen Deportation Teil der Geschichte vieler Familien sind, die dieses Land als ihre Heimat bezeichnen.

Nicht nur, weil Sie ein bewegendes Denkmal in Ihrer Hauptstadt haben, in das die Namen von Zehntausenden eingraviert sind, die in der Zeit der kommunistischen Besatzung ums Leben kamen.

Sondern auch, weil Sie sich seit 35 Jahren, seit Sie Ihre Freiheit wiedererrungen haben, russischen Destabilisierungsversuchen entgegenstellen.

Cyberangriffen.

Bösartiger Desinformation.

Imperialistischen Narrativen.

Es ist schwer, sich von Illusionen zu verabschieden. Und für viele von uns in Europa ist das ein Prozess, der noch nicht abgeschlossen ist.

Wir haben uns mittlerweile mit der Tatsache abgefunden, dass die globale Nachkriegsordnung dabei ist zu zerfallen und dass ein Angriffskrieg auf dem europäischen Kontinent geführt wird.

Du, Margus, hast uns gemeinsam mit unseren Kolleginnen und Kollegen aus Litauen und Lettland in einem Artikel in der Financial Times kurz vor dem Gipfel zwischen Präsident Trump und dem russischen Präsidenten in Alaska an eine einfache Tatsache erinnert:

Dass für die Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer, die in der Nähe der Frontlinien leben, die Kontrolle über Hoheitsgebiete keine theoretische Frage ist.

Sondern die Frage, ob sie Tag für Tag dem Terror der Folter, Inhaftierung oder Massenüberwachung ausgesetzt sind oder nicht.

Dass es für Tausende ukrainische Kinder, die aus ihrer Heimat nach Russland entführt wurden, darum geht, ob es einen Weg zurück nachhause, zu ihren Familien, geben wird oder nicht.

Und dass, wie Sie aus Ihrer historischen Erfahrung wissen, – und ich zitiere – „sich, wenn Russland erst einmal die Kontrolle erlangt hat, der Preis der Umkehr in Jahrzehnten menschlichen Leids bemessen lässt.“

Ich bin überzeugt, dass wir in diesen historischen Wochen für die europäische Sicherheit künftig diese Klarheit benötigen.

Diese baltische Immunität gegen Illusionen.

Wir begrüßen die Bemühungen von Präsident Trump um ein Ende des Blutvergießens – und bestehen gleichermaßen auf unserem gemeinsamen Ziel eines gerechten und dauerhaften Friedens.

Eine Verhandlungslösung darf nicht den Aggressor belohnen.

Und ich sage das nicht nur aus moralischer Überzeugung. Sondern weil es hier auch um unsere ureigene Sicherheit geht.

Denn es wäre eine Illusion zu glauben, dass die Sicherheit auf unserem Kontinent wiederhergestellt wäre, wenn Putin aus seiner Sicht seinen Willen bekommt.

Deshalb haben wir, die europäischen Verbündeten unter Führung von Bundeskanzler Merz, sehr deutlich gesagt, dass keine Entscheidungen über die Ukraine ohne die Ukraine getroffen werden dürfen.

Dass die Ukraine auch robuste Sicherheitsgarantien braucht.

Und während Gespräche mit den USA über deren Beitrag zu solchen Sicherheitsgarantien noch laufen, ist da noch eine weitere Illusion, der wir uns nicht hingeben sollten:

Die Illusion nämlich, dass andere die Hauptverantwortung für unsere europäische Sicherheit übernehmen werden.

Wir, Europa, werden diese Last zum größten Teil schultern müssen.

Und Estland geht hier voran.

Mit kampfbereiten estnischen Truppen, die demnächst auf einer Basis in Narwa stationiert werden, um russischen Provokationen entgegenzutreten.

Aber auch mit Blick auf Militärausgaben.

Als die NATO-Bündnispartner bei unserem Gipfeltreffen in Den Haag im Sommer eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf fünf Prozent beschlossen, galt es, dieses Ziel bis 2035 zu erreichen.

Estland wird es aber schon Ende dieses Jahres erreichen.

Und Estland gehört relativ gesehen natürlich zu den stärksten Unterstützern der Ukraine.

Aber, und das ist mein zweiter Punkt, wir dürfen uns auch nicht der Illusion hingeben, dass unsere Europäische Union so bleiben kann, wie sie ist, dass wir uns unter diesen geopolitischen Umständen einfach „durchwursteln“ können.

Wir wissen sehr wohl, dass Russland sich in allen Gebieten, die es als „Grauzone“ betrachtet, eingeladen fühlt, Unruhe zu stiften und zu destabilisieren.

Wir wissen, dass die Erweiterung der Europäischen Union dadurch zur geopolitischen Notwendigkeit – und zu unserem gemeinsamen Interesse – wird.

Dass die Ukraine, Moldau und die westlichen Balkanstaaten, sowie die Kriterien erfüllt sind, fest in der europäischen Familie verankert werden müssen – denn dort gehören sie hin.

Aber wir müssen auch ehrlich sein: Bei einer Erweiterung können wir nicht einfach frühere Erweiterungsrunden als Blaupause nehmen.

Mit 18 aufeinanderfolgenden Sanktionspaketen gegen Russland haben wir gezeigt, dass die EU mit einer Stimme sprechen kann, wenn es darauf ankommt.

Aber Sie und ich wissen: Es war oft ein langer und steiniger Weg.

Und deshalb muss eine Erweiterung mit Reformen einhergehen – sowohl innerhalb der Länder im Beitrittsprozess als auch innerhalb der EU selbst.

Denn unsere Einheit ist keine Selbstverständlichkeit. Sie muss geschützt werden. Und sie muss gestärkt werden.

Die EU muss in der Lage sein und bleiben, rasch und entschieden zu handeln. In der Lage, sich weiterzuentwickeln.

In der Lage, unsere Werte und Interessen zu verteidigen.

Und deshalb setzt Deutschland sich für eine EU-Erweiterung ein, die mit einem Reformprozess einhergeht.

Hierzu sollte unserer Ansicht nach in manchen Politikfeldern die umsichtige Einführung der Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit gehören.

Und lassen Sie mich das ganz klar sagen: Natürlich brauchen wir dabei einen Sicherungsmechanismus.

Deutschland arbeitet im Rahmen einer breit aufgestellten Freundesgruppe gemeinsam mit anderen an möglichen Lösungen.

Denn wir brauchen eine Reform, die unsere Union stärkt und nicht spaltet. Aber es kann – ich denke, da sind wir uns einig – nicht sein, dass in Sicherheitsfragen 26 Mitgliedstaaten dauerhaft von einem Mitgliedstaat ausgebremst werden können.

Und lassen Sie mich klar sagen, bei einer solchen Reform geht es nicht nur um eine Änderung der Wahlverfahren.

Die in den europäischen Verträgen verankerten Werte untermauern die Identität der EU.

Und die Rechtsstaatlichkeit ist unser europäisches Rückgrat.

Aber Artikel 7, unser Instrument für die Sicherung der Rechtsstaatlichkeit in jedem Mitgliedstaat, ist im Moment quasi ein zahnloser Tiger.

Und deshalb bin ich überzeugt, dass wir den an die Rechtsstaatlichkeit geknüpften Konditionalitätsmechanismus weiterentwickeln müssen.

Er muss zum Werkzeug für eine wirksame Sanktionierung von Verstößen gegen die Grundwerte der EU werden.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

es gibt noch ein Klischee über die Norddeutschen,

nämlich, dass wir nicht gerne stundenlang reden.

Und diesem einen Klischee möchte ich heute doch ganz gerne entsprechen.

Denn ich freue mich auf unsere Gespräche und auf den Austausch mit dem estnischen diplomatischen Korps.

Aber lassen Sie mich zum Abschluss noch sagen:

Wir leben in herausfordernden und zutiefst unsicheren Zeiten. Aber was mir Zuversicht gibt, ist:

Keiner von uns muss sich ihnen alleine stellen.

Denn wir sind EU-Partner, NATO-Bündnispartner – und wir sind Freunde.

Was uns verbindet, geht tief. Was uns eint, ist ein dauerhaftes Bekenntnis zur Freiheit und Sicherheit unserer Menschen.

Und das ist sogar für einen Norddeutschen wie mich Grund genug, ein kleines bisschen emotional zu werden.

Vielen Dank.

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