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Die EU-Erweiterung: ein gemeinsames strategisches Interesse
Gemeinsamer Namensartikel von Außenminister Maas mit seinen Amtskollegen aus Portugal, Augusto Santos Silva, und Slowenien, Anže Logar, im Rahmen der EU-Trio-Präsidentschaft.
Nach wie vor ist die EU die beste Garantie für Frieden, Demokratie und Wohlstand auf unserem Kontinent. Seit nunmehr fast 70 Jahren hat sie uns geholfen, unsere Differenzen zu überwinden und die Einheit unseres Kontinents zu stärken. Wir sollten diesen Erfolg jedoch nicht als Selbstverständlichkeit betrachten. Auf dem Weg in eine bessere Zukunft muss die EU fortwährend auf die Herausforderungen unserer Zeit reagieren.
Die EU-Erweiterung ist eines der Elemente, die zum Aufbau dieser Zukunft beitragen werden - auf der Grundlage einer festen Zusage und einer gemeinsamen Vision. Die Erweiterung hat sich als eines der erfolgreichsten Instrumente für die Förderung von Frieden und Stabilität sowie von politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Reformen erwiesen, geleitet von den Werten der Union und unter klar festgelegten Bedingungen. Die Erweiterungspolitik war auch für eine stärkere EU-Präsenz auf der Weltbühne von ausschlaggebender Bedeutung, durch sie wird unsere kollektive Sicherheit gewährleistet. Daher müssen wir weiter auf diesem Weg voranschreiten.
Nach der erfolgreichen Süd- und Osterweiterung befindet sich die EU nunmehr im Prozess der Integration des Westbalkans, der mitten im Herzen unseres Kontinents liegt. Dieser Region wurde die EU-Mitgliedschaft auf dem Europäischen Rat in Feira im Juni 2000 unter der portugiesischen EU-Ratspräsidentschaft erstmals in Aussicht gestellt. Die Staats- und Regierungschefs erkannten dabei an, dass die am Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess beteiligten Westbalkanstaaten potentielle Kandidaten für eine EU-Mitgliedschaft sind. Seitdem wurde dieses Prinzip in der Agenda von Thessaloniki für die Balkanstaaten verankert und wurde 2018 in Sofia und 2020 in Zagreb erneut bestätigt und blieb danach das Kernstück der EU-Politik in Bezug auf Ihre Region.
Derzeit finden Beitrittsgespräche mit Montenegro und Serbien statt. Im März 2020 stimmte der Rat zu, Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien zu beginnen. Der Rat hat außerdem eine neue Erweiterungsmethode befürwortet, die den Beitrittsprozess erneuern, ihn vorhersagbarer machen und ihn einer strengeren politischen Steuerung unterwerfen wird.
Im Rahmen dieser verbesserten Methode haben wir während der portugiesischen Ratspräsidentschaft die ersten politischen Regierungskonferenzen mit Montenegro und Serbien abgehalten. Unser Ziel ist es, die Anstrengungen der beiden Länder während des gesamten Beitrittsprozesses schwerpunktmäßig auf Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte, das Funktionieren demokratischer Institutionen, eine Reform der öffentlichen Verwaltung sowie auf Wirtschaftskriterien zu lenken. Kurz gesagt: auf bessere Lebensbedingungen für die Bevölkerung und stärkere Selbstbehauptung gegenüber den Einfluss von Drittstaaten.
Wir sind sehr besorgt darüber, dass es uns noch immer nicht gelungen ist, Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien einzuleiten, obwohl der Rat der EU schon im März 2020 beschlossen hatte, dies zu tun. Beide Länder haben bereits bei einer Reihe von Reformen ihre Vorgaben erfüllt. Nordmazedonien hat viel politisches Kapital in die Erweiterung gesteckt - bis hin zur Änderung des eigenen Staatsnamens. Nun ist es höchste Zeit, dass die EU ihrerseits ihre Versprechen erfüllt. Die deutsche und die portugiesische Präsidentschaft haben intensiv daran gearbeitet, einen Kompromiss herbeizuführen, der es uns ermöglichen würde, voranzukommen. Die slowenische Präsidentschaft wird diese Bemühungen fortsetzen und auf dem bisher Erreichten aufbauen. Wir vertreten die Auffassung, dass bilaterale Fragen dem Fortschritt in einem für die EU und den Westbalkan so wichtigen Punkt nicht im Wege stehen sollten.
Gerade der Erweiterungsprozess und die Aussicht auf die EU-Mitgliedschaft bieten die besten Voraussetzungen, um unterschiedliche Ansichten zwischen den Partnern des Westbalkans zu überwinden. Wir werden uns daher auch weiterhin nach Kräften engagieren und dazu aufrufen, die derzeitige Blockade rasch zu überwinden, die die Glaubwürdigkeit der EU untergräbt und unserem strategischen Interesse an Stabilität im Westbalkan zuwiderläuft. Damit wollen wir einen weiteren wichtigen Meilenstein auf dem Weg zu dauerhafter Stabilität und Entwicklung auf dem Westbalkan so schnell wie möglich erreichen.
Gleichzeitig müssen auch die Behörden und alle politischen Parteien in Nordmazedonien und Albanien ihre Reformen fortsetzen und weiterhin Anstrengungen unternehmen, um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu stärken, um die Korruption zu bekämpfen und um gutnachbarschaftliche Beziehungen und regionaler Zusammenarbeit zu stärken und dabei auch die Bedingungen für die Freiheit der Medien und die Zivilgesellschaft zu verbessern.
Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass der Erweiterungsprozess besonders anspruchsvoll und anstrengend ist. Portugals und Sloweniens eigene Wege in die EU verdeutlichen das. Aber die Schritte, die verlangt werden, damit die Kriterien für eine EU-Mitgliedschaft erfüllt sind, sollen die Leistungsfähigkeit der Verwaltung und die sozialen Bedingungen verbessern. Sie zielen vor allem darauf ab, den Bürgern des jeweiligen Landes selbst zu nutzen. In anderen Worten: Die Erweiterung soll nicht nur die Union stärken, sondern zu demokratischeren, gerechteren und transparenteren Institutionen führen, die den Bürgern mehr Chancen und bessere Lebensbedingungen ermöglichen.
Die EU ist der wichtigste Handelspartner des Westbalkans. Unternehmen aus der EU sind mit Abstand die führenden Investoren in der Region. Aber die Beziehungen der EU zum Westbalkan reichen weit über Handelsbeziehungen hinaus. Die EU hat finanzielle und technische Unterstützung geleistet, um funktionierende demokratische Institutionen und die Konnektivität in der Region zu stärken, und sie wird dies auch künftig im Rahmen des Heranführungsinstruments tun. Die Einreise in die EU ist auch für die meisten Staatsangehörigen der Westbalkanstaaten leichter geworden. Kosovo bleibt das einzige Land der Region ohne Visaerleichterung und wir engagieren uns dafür, diesen Prozess voranzubringen. Des Weiteren nehmen bereits Bürger und Unternehmen aus der Region an EU-Programmen teil, wie Erasmus+, das den Austausch von Studierenden fördert, oder am europäischen Programm zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit kleiner und mittlerer Unternehmen (COSME), um nur zwei zu nennen.
Und schließlich ist die EU auch ein Raum der Solidarität. Seit Beginn der COVID-19-Pandemie folgt die EU dem Aufruf der Weltgesundheitsorganisation und hat geholfen, 16 Milliarden Euro aufzubringen. Jeder dritte Euro oder Dollar, der der globalen Impfplattform COVAX zur Verfügung gestellt wird, stammt aus der EU und ihren Mitgliedstaaten. Durch die Plattform wird der Zugang von Ländern mit kleinem oder mittlerem Einkommen zu Impfstoffen ermöglicht. Die EU hat fast 3 Milliarden Euro bereitgestellt, um die Herstellung von Impfstoffen durch ihre Vorabkaufverträge mit den pharmazeutischen Unternehmen vorzufinanzieren. Das wird Menschen auf der ganzen Welt zugutekommen, auch den Menschen im Westbalkan. Erste Impfdosen wurden schon bereitgestellt, weitere werden folgen. Ferner hat die EU die Region seit Ausbruch der Krise unterstützt und ein substanzielles Paket von 3,3 Milliarden Euro mobilisiert, um der Gesundheitskrise an sich zu begegnen und die sozioökonomischen Auswirkungen zu lindern. Zudem wurde ein Investitionspaket in Höhe von ca. 9 Milliarden Euro für die mittelfristige Erholung und Entwicklung der Region geschnürt.
Die Westbalkanstaaten haben auch untereinander eine große Solidarität bei der Bekämpfung der Pandemie an den Tag gelegt. Eine verbesserte regionale Zusammenarbeit bleibt der Schlüssel, wenn es darum geht, das volle wirtschaftliche Potenzial der Region zu nutzen und gutnachbarschaftliche Beziehungen sowie Aussöhnung zu fördern. Wir hoffen, dass die Westbalkanstaaten auf dem Gipfeltreffen des Berliner Prozesses am 5. Juli ehrgeizige nächste Schritte unternehmen werden, um das historische Projekt eines gemeinsamen regionalen Marktes, der der Region zu den Vier Freiheiten verhelfen wird, Wirklichkeit werden zu lassen.
Die EU als Union vielfältiger Mitgliedstaaten, jeder mit seinen eigenen Traditionen und seiner eigenen Geschichte, wird nur erfolgreich sein, wenn sie ihre gemeinsamen Werte aufrechterhält. Nehmen Sie beispielsweise unsere drei Länder – Deutschland, Portugal und Slowenien, die derzeitige Trio-Präsidentschaft der EU: Wir haben unterschiedliche Erfahrungen und eine unterschiedliche Geschichte. Aber wir glauben an das, was Jean Monnet, einer der Gründerväter der EU, einst sagte: „Lasst die Menschen zusammenarbeiten, zeigt ihnen, dass hinter ihren Differenzen und geografischen Grenzen ein gemeinsames Interesse liegt.“ Dieses gemeinsame Interesse besteht in einem friedlichen, starken und prosperierenden Europa, das in der Lage ist , in einer immer stärker von Wettbewerb geprägten Welt erfolgreich für seine Interessen und Werte einzutreten. Um dies zu erreichen, müssen die Westbalkanstaaten Teil der Europäischen Union werden.