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Rede von Europa-Staatsminister Michael Roth anlässlich der Vorstellung des Bandes 14 des Buchprojektes: „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das Nationalsozialistische Deutschland 1933 - 1945 – Besetztes Südosteuropa und Italien“
-- es gilt das gesprochene Wort--
Sehr geehrter Herr Prof. Dr. h. c. Wolfgang Schieder,
sehr geehrte Frau Dr. Susanne Heim,
liebe Gäste,
„Wer erdichten will, erdichte ganz. Wer Geschichte schreiben will, habe das Herz, die Wahrheit nackt zu zeigen.“ Diese Worte von Johann Gottfried von Herder könnten als Leitbild für das Buch stehen, das wir Ihnen heute hier im Auswärtigen Amt vorstellen.
Denn auch der vierzehnte Band des Buchprojekts „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933 bis 1945“ über das besetzte Südosteuropa und Italien kommt auf den ersten Blick ganz sachlich und nüchtern daher: 812 Seiten Text in einem mintgrünen Umschlag.
Dabei handelt es sich bei dem Projekt, das 2003 begann und seitdem Band für Band ergänzt wird, um nichts weniger als um ein geschriebenes Denkmal für die ermordeten europäischen Juden. Ziel des Projekts ist die umfassende wissenschaftliche Veröffentlichung zentraler Quellen und Dokumente zur Geschichte der Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung auf Basis der weltweiten Archivbestände.
Der vorliegende Band 14 enthält 312 Quellen und Dokumente über die Verfolgung und Ermordung der Juden in Italien, dem ehemaligen Jugoslawien, Griechenland und Albanien. Dass die Vorstellung dieses Bandes über das besetzte Südosteuropa und Italien hier im Auswärtigen Amt stattfindet, zeigt: Wir scheuen auch in diesem Haus die (selbst)kritische Auseinandersetzung mit der dunkelsten Stunde der deutschen Geschichte nicht.
Schließlich ist das Auswärtige Amt in der Zeit des Nationalsozialismus mitverantwortlich für Vertreibung, Unterdrückung und Ermordung von Jüdinnen und Juden. Auch das zeigen Dokumente in diesem Band auf.
Erlauben Sie mir, ein Beispiel aus der Region näher zu betrachten, das mir auch persönlich ganz besonders am Herzen liegt: die Situation der jüdischen Gemeinde in Thessaloniki, die ich in den vergangenen Jahren mehrfach besucht habe. Diese einstmals so große und stolze jüdische Gemeinde hat auf besonders tragische Weise unter der Besatzung durch das nationalsozialistische Deutschland gelitten.
Thessaloniki war über Jahrhunderte hinweg eine Stadt mit einer unverkennbar jüdischen Prägung. Der Holocaust hat diese stolze Tradition fast komplett zerstört und tiefe Wunden und Narben in der Metropole hinterlassen. Die Stadt verlor 1943 nicht nur fast 50.000 Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens.
Auch ihr einzigartiges jüdisches Leben – sei es in der Kultur, Wissenschaft oder Wirtschaft – wurde nahezu vollständig ausgelöscht. Dieser Verlust schmerzt uns alle – ob Juden oder Nichtjuden.
Auf 150 Seiten und anhand von über hundert Dokumenten zeichnet der Band das Schicksal der Juden in Griechenland nach. Erlasse, Behördenschreiben, private Briefe und Tagebuchaufzeichnungen, Zeitungsartikel und Berichte ausländischer Beobachter kommen dabei zu Wort und vermitteln einen ungefilterten Eindruck.
So kann kann man in Dokument 235 den langen Brief von Nehama Kazes aus Thessaloniki an ihre Söhne in Athen lesen, in dem sie mit eindringlichen Worten den Ausnahmezustand in Thessaloniki schildert:
„Alle verkaufen ihre Sachen auf der Straße, um etwas zu essen zu haben. Man verschwendet Geld wie Wasser, man wirft das Geld zum Fenster raus, überlässt allen Besitz denen, die ihn haben wollen. […] Wir befinden uns Tag und Nacht wie in einem schlechten Traum und leben in unbeschreiblicher Angst. Alle haben den Handkarren gepackt vor der Tür stehen“, so der Brief von Nehama Kazes.
Und auch der geheime Bericht des Deutschen Generalkonsulats vom 15. März 1943 findet sich in dem Band. In diesem Schriftstück berichtet der damalige Generalkonsul Dr. Fritz Schönberg in verstörenden bürokratischen Worten über den Beginn der Deportationen nach Berlin:
„Die Aussiedlung der hiesigen 56.000 Personen zählenden Juden griechischer Staatsangehörigkeit hat heute mit dem Abtransport von 2.600 Personen von Saloniki nach dem Generalgouvernement begonnen. Es ist in Aussicht genommen, wöchentlich vier Transporte durchzuführen, so dass die ganze Aktion in etwa sechs Wochen beendet sein wird.“
Seit nunmehr fast vier Jahren bin ich im engen Austausch mit der jüdischen Gemeinde in Thessaloniki. Im Januar 2014 wurde ich eingeladen, als Mitglied der Bundesregierung zum Holocaustgedenktag zu sprechen – an dem Ort, von dem aus 1943 die Juden von Thessaloniki deportiert wurden. Diese starke Geste der Versöhnung, die zur Freundschaft ausgestreckte Hand, hat mich sehr berührt.
Seitdem bin ich immer wieder in Thessaloniki gewesen. Besonders freue ich mich, dass die jüdische Gemeinde Thessaloniki seither bereit ist, mit Unterstützung der Bundesregierung Projekte durchzuführen, um das jüdische Leben in Thessaloniki weiter zu stärken.
So konnten wir zur Renovierung der Monasteriotes Synagoge beitragen. Ebenso fördern wir ein Jüdisches Bildungszentrum und Sommertreffen von Jugendlichen aus Griechenland, Israel, Deutschland und weiteren Ländern. Und nun entsteht in Thessaloniki ein Holocaust-Museum Griechenlands, das die Bundesregierung tatkräftig unterstützt. Denn es ist mehr als ein Museum, es kann der Stadt wieder ein Stück jüdische Identität zurückgeben und ein Ort der Begegnung für künftige Generationen werden. Zukunft braucht eben immer auch Erinnerung!
In Thessaloniki treffe ich auch immer wieder mit Heinz Kunio zusammen, der in dieser Woche seinen 90. Geburtstag feiert. Er und seine engste Familie haben den Holocaust überlebt. Die Umstände sind furchtbar: Heinz Kunio musste, da er Deutsch sprach, an der Rampe von Auschwitz die Befehle der SS vom Deutschen ins Griechische übersetzen – und sah so unzählige Mitglieder seiner Gemeinde an sich vorbeiziehen, in den grausamen Tod in den Gaskammern der Vernichtungslager.
1945 ist er als einer der wenigen Überlebenden nach Thessaloniki zurückgekehrt, zurück in eine Stadt, die ihrer jüdischen Identität durch die Nazis fast vollständig beraubt wurde. Und er hat dort vor Ort die Geschichte aufgearbeitet, hat den Opfern ihre Namen zurückgegeben. Er hat ein beeindruckendes Buch über seine Zeit in Auschwitz geschrieben, es trägt den Titel „Ein Liter Suppe und 60 Gramm Brot – Tagebuch des Gefangenen Nr. 109565“.
Und vor allem hat Heinz Kunio zahllosen Schulklassen über seine Erlebnisse berichtet und trifft noch heute mit jungen Menschen zusammen. Herrn Kunio ist es wichtig, diese Erfahrungen an die junge Generation weiterzugeben – trotz der Schmerzen, diese Erinnerung immer wieder wachzurufen. Dieses Gespräch mit Zeitzeugen, ihre persönlichen Erinnerungen, ist nicht zu ersetzen. Und doch gibt es heute leider immer weniger dieser Zeitzeugen unter uns.
Deshalb ist auch dieses Editionsprojekt so wichtig, das viele Originaldokumente ans Licht bringt, die zum weit überwiegenden Teil zum ersten Mal publiziert werden. In diesem Band steckt sehr viel Arbeit – Quellenrecherche, Auswahl und Aufbereitung. Die Autoren lassen durch die Originaldokumente Zeitzeugen – Opfer genauso wie Täter – zu Wort kommen. Der Leser kann sich selbst ein Urteil bilden. Gerade in Zeiten zunehmender Radikalisierung und der schnellen Verbreitung von sogenannten „Fake News“ und „alternativen Fakten“ ist der wissenschaftlich kommentierte Zugang zu Originaldokumenten so wichtig.
Die wissenschaftliche Aufbereitung des Holocaust ist für uns auch aus außen- und europapolitischer Sicht bedeutsam. Denn es geht ja nicht nur um die wechselvolle deutsche Geschichte, sondern vor allem auch um Erinnerungen an die tragische Geschichte Griechenlands, Italiens, Albaniens und der Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens. Ohne das Bewusstsein um diese Vergangenheit können wir Deutsche – bei allem ehrlichen Bemühen um Verständigung und Versöhnung – diesen Ländern und der Rolle, die wir heute dort spielen, niemals gerecht werden. Das merke ich bei allen Reisen, die ich in diese Region unternehme.
Wir können nichts ungeschehen machen. Aber wir können dabei mithelfen, dass sich das begangene Unrecht niemals wiederholt. Dieses dunkelste Kapitel in der Geschichte der Menschheit darf niemals in Vergessenheit geraten. Dieses Ziel ist das Buchprojekt verpflichtet. Mein Dank gilt allen, die zur Verwirklichung tatkräftig beigetragen haben.