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Rede von Außenminister Sigmar Gabriel „Gerechtigkeit weltweit – welchen Beitrag kann deutsche Außenpolitik leisten?“
Liebe Frau Dr. Füllkrug-Weitzel,
lieber Dr. Martin Junge,
lieber Prof. Arun Appadurai,
lieber Herr Christof Vetter,
meine Damen und Herren,
Ich bin sehr dankbar für diese Einladung nach Wittenberg. Denn sie gibt mir Gelegenheit, zu einem Thema zu sprechen, von dem ich glaube, dass es nicht nur in besonderer Verbindung zur Zeit Martin Luthers steht, sondern es ist meine persönliche Überzeugung, dass wir über das große Thema des 21. Jahrhunderts reden, über globale Gerechtigkeit. Viele der Themen, mit denen wir täglich konfrontiert sind, ob als Kirchen, NGOs, als Bürger oder als Politiker, haben eine unmittelbare Verbindung zu der Frage, wie gerecht oder ungerecht die Welt ist. Es gibt eine amerikanische Besonderheit, die besagt, wir wissen, wie es aussieht auf der Welt und wir zeigen das allen anderen und es gibt auch eine europäische, die besagt, wir wissen, wie es geht in der Welt, aber wir wollen uns nicht richtig einmischen und sind höchstens ein bisschen karitativ unterwegs. Ich glaube, das wird sich deutlich verändern müssen. Die Herausforderungen sind riesig und fast alle haben mit dem heutigen Thema zu tun.
Das Thema steht aber auch in Verbindung zu Luther. Denn zu seiner Zeit schärfte die Ausweglosigkeit einer verarmten Landbevölkerung das kapitalistische Diktat der schnell wachsenden Handelshäuser und eine durch und durch materialistische Kirche Martin Luthers Sinn für den Mangel an Gerechtigkeit. Es war hier, im Turm des Klosters von Wittenberg, wo Martin Luther sich seine Gedanken zu Gerechtigkeit machte.
Heute wissen wir, mit welcher Kraft die Reformation und Luthers Ideen bald Kirche, Gesellschaften und Staaten bis weit über Deutschlands Grenzen hinaus verändern sollten. Denn zu Beginn des 16. Jahrhunderts, als der Buchdruck entstand und damit die erste Form der Massenkommunikation, zahlreiche Kriege und Aufstände die Zeit beherrschten, die Renaissancekultur mit der Abwendung vom rein Religiösen sich Bahn brach und diese Entwicklungen zugleich mit einer Verarmung der Landbevölkerung einher gingen, da vollzog sich eine Phase tiefgreifender Veränderung.
Auch wir erleben heute heftige und tiefgreifende Veränderungen. Den Bogen zur Jetztzeit zu schlagen, ist daher nicht trivial, weil immerhin ein halbes Jahrtausend unsere Zeit heute von der Reformationszeit trennt. Aber vergleichbar mit ihrer Wucht und ihren Wirkungen sind die Umwälzungen ohne Zweifel. Globalisierung, Digitalisierung, Technologie und ein endloser Strom aus Informationen machen die Welt zu einem Brummkreisel, der sich scheinbar immer schneller dreht.
Dazu kommen die vielen Krisen, die wir in den letzten Jahren kennengelernt haben, ob es die Krise mit oder nach dem arabischen Frühling war, ob es das Anwachsen des politischen Islam war, oder Krieg und Bürgerkrieg in vielen Ländern, letztlich ging es immer auch um Gerechtigkeitsfragen. Übrigens auch beim Thema Klimawandel geht es natürlich im Kern um Gerechtigkeit zwischen den Ländern, die meistens arm, aber besonders betroffen sind von den Folgen des Klimawandels und denen, die reich und sich halbwegs anpassen können an die Veränderungen des Klimawandels. Und es geht um Gerechtigkeit zwischen den Generationen.
Das Engagement für mehr globale Gerechtigkeit ist deshalb der entscheidende Schlüssel für ein friedliches Zusammenleben im 21. Jahrhundert zwischen den Völkern und den Kontinenten. Deshalb gibt es auch eine besondere Aufgabe Deutschlands und Europas daran mitzuwirken.
Ich will drei kurze Beispiele nennen, warum ich glaube, dass das Thema Gerechtigkeit das Kernthema unseres Jahrhunderts sein wird:
Für mein erstes Beispiel reicht ein Blick in unsere westlichen Gesellschaften in Deutschland, Europa oder den USA. Bei der Suche nach Identität und der Sicherheit vor einer schnellen und globalisierten Welt verkaufen Populisten in den klassischen Ländern der westlichen Demokratien ihre falschen Lösungen als einfache Antworten. Dabei sind diese Populisten vor allem ein Symptom für unser Problem, in unseren Gesellschaften nicht ausreichend für Gerechtigkeit und Teilhabe an Wohlstand und Sicherheit zu sorgen. Und dabei als Folge das Vertrauen eines Teils unserer Bürger in unsere demokratischen Systeme zu verlieren. Ich habe mir von den Amerikanern erklären lassen, was sie glauben, was der Grund für die Wahl von Donald Trump gewesen ist. Der Satz, der mir am meisten in Erinnerung geblieben ist, war der Satz: Es sei eine „Can you hear me now“ Wahl gewesen. Weil es einen Teil der amerikanischen Bevölkerung, oft verglichen mit dem Rust Belt, dem alten Industriegürtel, gegeben hat, der sich nicht mehr beheimatet gefühlt hat im abgehobenen Kampf der liberalen Demokratie, die ihre materiellen Wünsche nach Sicherheit und nach Fairness und gerechter Teilhabe nicht mehr repräsentiert gesehen haben. Ich glaube es stimmt: Wer auf Dauer den Rust Belt vernachlässigt und die Menschen, die da leben, dem werden die Hipster in Kalifornien auch nicht helfen. Deswegen glaube ich, dass das Gefühl, nicht mehr teilnehmen zu können in unseren Gesellschaften; letztlich das Gefühl, dass das Wohlstandsversprechen unserer Demokratien nicht eingehalten wird, die Entstehung solcher Bewegungen fördert – nicht als einziger, aber als wichtiger Grund.
Beispiel Afrika: Als ich vor zwei Wochen in Libyen war, habe ich die schlimmen Bedingungen gesehen, unter denen Menschen, vor allem junge Menschen, versuchen, ihr Ziel eines sicheren Lebens gegen die Chancenlosigkeit in ihrer Heimat einzutauschen. Die ausweglose Lage bereitet auch den Boden für Instabilität, Unsicherheit und Gewalt.
Schauen wir nach Osten: Wir vergessen häufig, dass aufstrebende Mächte wie Indien oder China auch und zwar mit gutem Grund eine größere Teilhabe an den Institutionen, an den Schalthebeln der internationalen Ordnung beanspruchen, die nämlich in Wahrheit noch die Nachkriegsordnung des Zweiten Weltkrieges ist. Die das letzte Jahrhundert abbilden, aber nicht das 21. Jahrhundert. Und natürlich geht es auch dabei um faire und gerechte Teilhabe. Übrigens nicht nur am Wohlstand, sondern auch an der Verantwortung für die Bekämpfung der globalen Probleme. Schaffen wir keine gerechten und fairen Formen der Kooperation, keine inklusiven Regeln und Institutionen, dann werden wir das mit verschärften Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen Teilen dieser Welt beantwortet wissen.
Natürlich ist der Einsatz für mehr globale Gerechtigkeit eine moralische Verantwortung, zumal, wenn wir unsere Werte ernst nehmen.
Aber er ist übrigens auch in unserem ganz, man kann fast sagen, egoistischen, materiellen Interesse. Ich will dazu ein Beispiel benennen, das mir sehr in Erinnerung geblieben ist. Nach den verheerenden Anschlägen des 11. September habe ich an einem ökumenischen Gottesdienst teilgenommen. Dort sagte der katholische Bischof von Hildesheim, Josef Homeyer, als Antwort auf die Attentate: Wenn wir das wieder eindämmen wollen, dann müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass das Ziel der Globalisierung Gerechtigkeit für alle und nicht nur Reichtum für wenige sein darf. Dieses kluge Wort von Bischof Homeyer ist allerdings noch immer ein unerfülltes Desiderat.
Fest steht: Globale Gerechtigkeit und Internationale Sicherheit sind untrennbar miteinander verbunden.
Meine Damen und Herren,
schon 1977 wusste die von Willy Brandt angeführte „Nord-Süd Kommission“: „Die Globalisierung von Gefahren und Herausforderungen – Krieg, Chaos, Selbstzerstörung – erfordert eine Art Weltinnenpolitik“. Ich erinnere mich an einen Satz einer indischen Ernährungsministerin, der mir beim Thema Migration in diesem Jahr immer wieder eingefallen ist. Sie sagte, wenn ihr uns nicht fair teilhaben lasst, dann schicken wir euch eines Tages unsere Kinder. Nun macht das nicht Indien, aber Afrika. Und was bleibt den Menschen auch anderes übrig. So groß die Probleme mit Migration für uns auch sein mögen: Wären wir in der gleichen Lage, würden wir auch versuchen nach dem Motto der Bremer Stadtmusikanten handeln: Etwas Besseres als den Tod finden wir überall.
Ich finde daher, dass wir nicht auf ein neues, lutherisches kollektives Turmerlebnis warten dürfen, sondern natürlich diese Debatte über globale Gerechtigkeit und unsere Rolle darin jetzt führen müssen.
Wie gesagt: Ich glaube, das ist die zentrale Debatte des 21. Jahrhunderts. Mir wäre es lieber, wir würden statt zu einem Weltwirtschaftsgipfel in Davos in Zukunft zu einem Weltgerechtigkeitsgipfel einladen. Leider ist der Weltsozialgipfel etwas ins Schlingern geraten. Ich habe mich immer gefragt, warum wir in einer Zeit, in der es um ganz andere Fragen geht, vor der Tagesschau immer die Börsenkurse zeigen. Vielleicht könnten wir da besser zeigen, wie die Entwicklung der internationalen Armut ist, wie ist die Kurve der Bekämpfung von Hunger und Not, wie ist die Bekämpfung des Analphabetismus, wie ist die Kurve in der Bildungsbeteiligung. Stattdessen zeigen wir die Kurve dessen, was uns mal fast weltweit in die Katastrophe geführt hat, nämlich die Frage, wie wird an Börsen spekuliert. Wir sind scheinbar noch nicht so weit, dass wir außerhalb kirchlicher Räume in der harten Welt der Ökonomie und der Politik wissen, wo eigentlich die Prioritäten sind.
Wenn andere ihren Blick nach innen kehren, sollte uns das noch mehr Ansporn sein, diese Debatte auch nach außen zu bringen.
Lassen Sie mich daher kurz berichten, was wir außenpolitisch tun bei dieser Frage unseres Einsatzes für mehr globale Gerechtigkeit:
Der erste Punkt ist ein stärkeres Europa. In einer Welt, die in verschiedene Pole zerfällt und in der immer mehr das Recht des Stärkeren in den Mittelpunkt rückt, statt der Stärke des Rechts, gibt es einen Kontinent, von dem ich mich manchmal frage, ob wir eigentlich noch wissen, welchen Schatz wir da in Händen halten. Ich bin weit davon entfernt, alles gut zu finden, was in Europa passiert, aber es ist der friedlichste, der demokratischste und der sicherste Teil der Welt, den man finden kann. Was tun wir dafür, dass in einer Welt, die sich dramatisch verändert, bei der wir in Europa weniger werden, andere aber mehr werden, wir eine Stimme haben und unser Angebot mitteilen. Unser besonderes Angebot, die Kopplung von Freiheit und Verantwortung. Die Vorstellung individueller Freiheit finden Sie auch in vielen anderen Teilen dieser Welt, zum Beispiel in Nordamerika, die Forderung nach Kollektivismus in wieder anderen Teilen. Aber das Koppeln von Freiheit und Verantwortung, Freiheit und Solidarität, das ist das besondere europäische Angebot. Was tun wir dafür, dass dieses besondere Modell, das Frieden, Demokratie und Sicherheit produziert hat, sich weiterentwickelt und gehört wird? Das wird nur gehen, wenn wir in Europa mit einer Stimme sprechen – vielleicht dann, wenn unsere Kinder so alt sind wie wir heute.
Selbst das starke Deutschland wird keine Stimme haben, denn wenn wir es mit 27 oder 28 Stimmen versuchen, werden wir nicht gehört. Die Stärkung Europas betrifft die Institutionen, einen gemeinsamen Wirtschaftsraum, aber auch die Akzeptanz Europas als Friedensprojekt, als Wohlstandsgarant und als Überlebensversicherung im 21. Jahrhundert.
Genauso wichtig: Ein gerechteres, ein sozialeres Europa. Warum ist es eigentlich so schwer durchzusetzen, dass in Europa für die gleiche Arbeit am gleichen Ort der gleiche Lohn bezahlt wird? Stattdessen schicken wir die Leute in einen nicht gewinnbaren Wettbewerb, wo in Hamburg Hafenarbeiter kämpfen gegen Angebote zu Löhnen von Rumänien oder Portugal, mit denen man in Hamburg aber keine Wohnung bezahlen kann. Warum sind wir nicht in der Lage zu sagen, wir wollen mehr Wettbewerb um Qualität und Leistung und nicht darum, wer die schlechtesten Löhne und die miesesten Sozialabgaben in Europa zahlt. Warum zahlt jeder Bäckermeister Wittenbergs höhere Steuersätze als große Konzerne in Europa? Uns gehen jedes Jahr 1,5 Billionen Euro verloren durch eine legale Form von Steuervermeidung. Geld, das wir zur Entwicklung Europas und im Kampf gegen Hunger und Armut in Afrika gut gebrauchen könnten. Europa ist also die erste große Baustelle.
Die zweite Baustelle sind gerechter Handel und ein besseres Regelwerk für die Globalisierung. Ich erinnere mich noch an meinem Auftritt beim vorigen Kirchentag als Wirtschaftsminister. Damals gab es heftige Debatten um die Frage, ob wir Freihandelsabkommen brauchen. Ich habe immer gesagt: Na klar brauchen wir die, denn das heißt ja nicht, dass sie unfair sein müssen. Heute würden wir uns freuen, wenn wir Abkommen wie das mit Kanada mit anderen Staaten hätten, denn das hat einen Standard gesetzt, der unvergleichlich ist und der für viele andere Fälle fast unerreichbar scheint. Nachdem die Vereinigten Staaten von Amerika den Raum von internationalen Abkommen verlassen wollen, merken wir vielleicht, von welch großer Bedeutung solche Abkommen sind. Nicht jedes Abkommen ist natürlich gut, aber wir sollten für faire Abkommen kämpfen, die die „Schattenseiten der Globalisierung“ bekämpfen, vor denen uns der amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz schon vor 15 Jahren warnte.
Das reichste Prozent der Weltbevölkerung besitzt fast 50 Prozent des weltweiten Vermögens.
Noch immer leben 1,2 Milliarden Menschen, eine unvorstellbare Zahl, leben in extremer Armut – nicht in Armut, in extremer Armut. Kriege, Staatszerfall, Terrorismus, und auch unmittelbare lebensbedrohliche Situationen durch Klimaveränderungen sind in Regionen mit niedrigem Bruttoinlandsprodukt am meisten verbreitet. Armut und Krieg gehen Hand in Hand.
Europa ist eine handelspolitische Großmacht. Mit fairen Handelsabkommen, die Sozial- und Umweltstandards betonen und selbst Standards setzen, statt sich chinesischen oder amerikanischen Standards anzupassen, und die flexibel auf unsere Handelspartner zugeschnitten sind, können wir viel bewegen.
Übrigens, wenn alle immer ausrechnen, wie viel wirtschaftlichen Fortschritt man durch Freihandel bekommt, warum fällt es uns so schwer, ein Instrument zu entwickeln, bei dem wir einen Teil dieses wirtschaftlichen Erfolges zwischen den Handelsnationen abschöpfen und nutzen und zum Beispiel uns verpflichten, das die Handelspartner das jeweils ansteigend über die Jahre an das World Food Programme der Vereinten Nationen zu geben? Oder an andere Programme der UN, damit wir einen Teil der Gewinne der Globalisierung und der handelspolitischen Vernetzung auch an die weitergeben, die erstmal auf die Ebene kommen müssen, an solch einem Handel teilnehmen zu können.
Wir brauchen globale Standards und Regeln. Damit meine ich verlässliche internationale Regeln und keine bilateralen Deals, wie das die Amerikaner immer vorschlagen. Ein Deal ist etwas anderes, als ein für alle verbindliches internationales Regelwerk, bei dem es am Ende nicht darauf ankommt, dass man mit dem Regelwerk seine Interessen durchsetzt, sondern sich dann durch Anwendung des Regelwerks so gut wie möglich im internationalen Wettbewerb behauptet. Das Modell, das die Amerikaner vorschlagen, ist ein ganz anderes: Bilaterale Deals, bei dem sie versuchen bereits in dem Vertrag ihre Vorteile festzuschreiben und nicht auf der Basis internationalen Rechts zu zeigen, ob man gut ist oder nicht.
Sehr geehrte Damen und Herren,
globale Herausforderungen erfordern immer mehr globale Antworten. Klimawandel, Terrorismus, Überwindung der Armut sind in letzter Konsequenz alles Themen, die mit globaler Ungerechtigkeit zusammenhängen. Eine große Chance bietet die Zusammenarbeit mit neuen Partnern, das gilt zum Beispiel für Indien oder für China, also zum Beispiel für die, die dem internationalen Klimaabkommen von Paris beigetreten sind und auch dabei bleiben.
Für mich steht diese Zusammenarbeit stellvertretend für die Absicht, die Welt zusammen mit aufstrebenden Staaten in Asien, Lateinamerika oder Afrika, aber auch mit anderen, nicht-staatlichen Akteuren wie Städten und Gemeinden oder der Zivilgesellschaft zu gestalten und nicht nur darauf zu vertrauen, dass alles durch staatliche Verträge geregelt wird.
Nur wenn wir die Welt gerechter gestalten, und zwar auf allen Ebenen, nur dann machen wir sie auch sicherer. Gerade in Afrika sehen wir, wie eng Gerechtigkeit, Entwicklung und Sicherheit miteinander verbunden sind. Mangelnde wirtschaftliche Perspektiven treiben viele junge Menschen in die Arme von Extremisten und Bürgerkriegsparteien. Erlauben Sie mir eine Bemerkung zum Thema Sicherheit und Verteidigungsausgaben. Ich weiß, dass Friedenspolitik manchmal auch den Einsatz militärischer Mittel erfordert. Sicherlich haben wir auch Nachholbedarf darin, besser für unsere eigene Sicherheit zu sorgen und sie nicht den Amerikanern zu überlassen.
Dennoch glaube ich, dass diese Debatte zurzeit in eine völlig falsche Richtung geht. Bevor wir mehr Geld ausgeben für Rüstung, müssen wir anfangen, unsere gemeinsamen Sicherheitsstrukturen effizienter zu machen. Dabei müssen wir bedenken, was Ihnen jeder Militär sagt: Kein Konflikt der Erde kann am Ende mit Militär gelöst werden. Es gibt zwar Konflikte, bei denen ich auch nicht zuschauen will, wie Leute, die im Besitz von Waffen sind, andere umbringen oder brutal vergewaltigen. Es muss UN-Einsätze geben, die unter bestimmten Bedingungen verhindern, dass Völkermord stattfindet. Aber grundsätzlich bin ich der Meinung, dass allein mit Militäreinsätzen gar nichts bewirkt wird. Wenn wir jetzt über die europäische Verteidigungsfähigkeit reden, bin ich dafür, dass wir für jeden Euro, den da rein stecken, 1,5 Euro mindestens mehr für Krisenprävention, Kampf gegen Hunger und Elend, Stabilisierung und Entwicklungshilfe ausgeben. Es gab jetzt Leute, die forderten, das Zwei-Prozent-Ziel der Nato solle doch ein Drei-Prozent-Ziel werden, nämlich zwei Prozent Verteidigung, ein Prozent Entwicklungshilfe. Das ist eine völlig falsche Debatte. Umgekehrt könnte ich es mir vorstellen: Zwei Prozent für nachhaltige Entwicklung und ein Prozent für Rüstung – aber nicht zur Legitimierung der Rüstungsausgaben ein bisschen mehr Geld für Entwicklungshilfe. Das kann nicht das Ziel der öffentlichen Debatte sein.
Meine Damen und Herren,
ich glaube, dass wir in einer Zeit leben, in der Weichen gestellt werden für viele Jahrzehnte in diesem Jahrhundert. Lassen Sie uns kurz zurückkehren in die Zeit Martin Luthers. Obwohl die Reformation später erhebliche politische Folgen haben sollte, hatte Luther zunächst Veränderungen der kirchlichen Strukturen im Blick. An eine politische Veränderung dachte er nicht. Im Gegenteil, da war er eher reaktionär.
Glücklicherweise sind wir dem Zeitalter der Fürsten entkommen und können politische Veränderungen anstreben. Das gilt in einer globalisierten Welt zuallererst für die Außenpolitik.
Im Deutschlandtrend von Anfang Juni meinen 62 Prozent der Deutschen, dass Deutschland international künftig stärker in Erscheinung treten sollte. 80 Prozent finden, dass die Europäische Union eine größere Verantwortung in der Welt übernehmen sollte.
Diese Bereitschaft der Deutschen kann einem Mut machen. Und sie meinen übrigens damit nicht, mehr Militär in die Welt zu schicken, sondern sie meinen damit zu helfen, dass die Welt gerechter wird. Das ist für mich eine Bestärkung, dass wir große Chancen haben, dass Deutschland und Europa bei diesem Einsatz im 21. Jahrhundert für eine gerechte und von Teilhabe bestimmte Welt einen wichtigen Beitrag leisten können.
Morgen wird jemand, den die Älteren unter uns noch kennen, 75 Jahre alt. Daher dachte ich, eine Liedzeile von Hannes Wader ist ganz passend zum Abschluss – sie zugegebenermaßen etwas pathetisch, aber dennoch ist es eine Zeile, die man sich merken kann:
„Ich wünsche mir
Ein empfindlicheres offeneres Ohr
Das ich nicht abgestumpft, taub und gleichgültig werde
Gegen die Schreie der Verdammten dieser Erde.“
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.