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„May hat kein Mandat mehr für einen harten Brexit“

19.06.2017 - Interview

Am heutigen Montag (19.06.) beginnen in Brüssel die Brexit-Verhandlungen. Außenminister Sigmar Gabriel spricht im Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland über die Briten, ihren Ausstieg aus der EU – und seine allererste Auslandsreise. Erschienen in der Märkischen Allgemeinen (19.06.2017).

Am heutigen Montag (19.06.) beginnen in Brüssel die Brexit-Verhandlungen. Außenminister Sigmar Gabriel spricht im Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland über die Briten, ihren Ausstieg aus der EU – und seine allererste Auslandsreise. Erschienen in der Märkischen Allgemeinen (19.06.2017).

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Herr Gabriel, mögen Sie eigentlich die Briten?

Aber ja, das ist sogar eine ganz alte Zuneigung zu diesem besonderen Land und seinen Menschen. 1974 war ich im Schüleraustausch in England, in Rotherham, bei der Familie der Austauschschülerin Jane Isabel Handley. Wir haben uns dieses Jahr zum ersten Mal nach über 40 Jahren wieder getroffen, während ich als Außenminister in London war. Für mich war das damals ein Riesenerlebnis: die erste Reise ins Ausland überhaupt. Wir lebten in Goslar in bescheidenen Verhältnissen, meine Mutter arbeitete als Krankenschwester. Großbritannien war für mich die Tür zur Welt. Ob es um Musik ging, um Kultur: Alles Coole kam aus London.

Jetzt kommt aus London etwas ganz anderes, der Wunsch nach Distanz zum Rest Europas. Wer hat Schuld an dieser neuen Spaltung?

Die britischen Konservativen haben gezockt und immer wieder mit den Gefühlen ihrer Bürgerinnen und Bürger gespielt. Da waren Leute unterwegs, die sich ausgerechnet haben, dass es für sie kurzfristige machtpolitische Vorteile bringt, die EU zum Sündenbock für Probleme in ihrem Land zu machen. Da wurde etwas durchgezogen, wozu sich in Deutschland weder meine Partei, die SPD, noch die Union, die FDP oder die Grünen hinreißen lassen würden: Europa wurde zur kleinen Münze im innenpolitischen Spiel. Ich habe noch nie eine so verantwortungslose Politik in einer erwachsenen Demokratie erlebt.

Aber hat nicht die Labour Party, die Schwesterpartei Ihrer SPD, dieses Spiel mitgemacht? Oft haben doch Labour-Leute genickt oder sind stumm in Deckung gegangen, wenn auf die EU eingedroschen wurde.

Das ist leider wahr. Ein klares Bekenntnis der Labour Party zur EU hat gefehlt, dazu hatte, vielleicht auch wegen des Gegenwindes der nationalistischen britischen Presse, niemand den Mut – anders übrigens als Emmanuel Macron, der in Frankreich inmitten einer europäischen Stimmungskrise mit einer verblüffend eindeutigen Pro-EU-Linie die Wahlen gewonnen hat.

Könnte es sein, dass die Briten ihren Kurs eines Tages korrigieren?

Wir leben in Zeiten von gelegentlich stark beschleunigten Meinungsveränderungen. Wer sagt uns, was in zwei Jahren ist? Die Briten erleben ja jetzt, dass die falschen Versprechungen der Brexit-Bewegung wie Blasen platzen. So wurde vor dem Referendum vom Juni 2016 den Leuten erzählt, man werde künftig Gelder, die man derzeit leider nach Brüssel überweise, ins britische Gesundheitswesen umlenken. Dieses Versprechen wurde inzwischen offiziell kassiert, es war nur eine Luftnummer zum Zweck der Massenmanipulation. In Wahrheit planen die Konservativen jetzt eine Art Demenzsteuer, um ältere Leute stärker an den Pflegekosten zu beteiligen – parallel zum Brexit, wohlgemerkt. Der Brexit macht nichts besser, er schafft nur neue Schwierigkeiten für die Briten.

Die Briten trösten sich mit ihrer „special relationship“, der engen Beziehung zu den USA auf der Basis der gemeinsamen Geschichte.

Dieses Fundament erodiert aber wie noch nie. Sehen Sie sich die Bevölkerungsentwicklung in den USA an. Heute haben noch rund 60 Prozent der US-Bürger europäische Vorfahren. In 30 Jahren werden sie in der Minderheit sein gegenüber Amerikanern mit afrikanischen, asiatischen oder lateinamerikanischen Wurzeln. Das verändert auch die politische Orientierung. Bereits Barack Obama hat Amerika in einer wichtigen Rede als „pazifische Nation“ bezeichnet. Die Briten werden lernen müssen, dass es immer weniger „spezielle“ Bindungen zu den USA gibt – und dass die Briten Europa am Ende mehr brauchen als umgekehrt.

Wie stehen die Chancen auf eine solche Neubesinnung?

Nach und nach spricht sich ja jetzt herum, dass die Briten einen hohen Preis bezahlen für den Austritt. Es gibt Anzeichen für eine leise Wiederkehr der Vernunft, sogar bei den britischen Konservativen. Ich habe trotz aller aufgeregten Debatten der letzten Zeit generell den Eindruck: Die Zeit arbeitet wieder für Europa. Das kann man an den Wahlen in Frankreich ablesen. Bemerkenswert ist aber auch, dass in Großbritannien die breite Mehrheit der jungen Leute proeuropäisch ist und keinen Brexit will. Dieser Faktor ist bereits bei der jüngsten Unterhauswahl wirksam geworden, und aus dieser Bewegung könnte irgendwann auch eine neue Mehrheit bei Wahlen und Abstimmungen werden.

Und dann nehmen wir die Briten höflich wieder auf?

Natürlich. Die Türen müssen nach meiner festen Überzeugung dauerhaft geöffnet bleiben. Großbritannien ist und bleibt ein europäisches Land.

Bei den jetzt anstehenden Brüsseler Verhandlungen droht ein sehr hartes Kräftemessen. Wenn es richtig hässlich wird, heißt die Endstation: harter Brexit, chaotischer Ausstieg ohne Neuregelung der Verhältnisse.

Daran kann niemand ein Interesse haben. Ich glaube, Premierministerin May hat nach dem Verlust ihrer absoluten Mehrheit kein Mandat mehr für einen harten Brexit. Allerdings muss man leider mit jedem noch so unvernünftigen Ausgang rechnen. Ich finde, auch von der EU-Seite her sollten wir diese Verhandlungen so führen, dass wir uns nicht heillos verkanten. Großbritannien bleibt ja zum Beispiel auf dem militärischen Feld ein sehr wichtiger europäischer Partner. Wenn unsere heute geborenen Kinder 30 Jahre alt sind, wird der Anteil Europas an der Weltbevölkerung nur noch 5 Prozent betragen. Angesichts dieser realen globalen Tendenzen die Europäische Union auch noch aufspalten zu wollen ist völlig widersinnig. Wir müssen, so gut es geht, zusammenbleiben, eher noch enger als bisher. Und wir alle sollten generell mehr an die Zukunft denken, an kommende Jahrzehnte, und weniger an irgendeinen innenpolitischen Geländegewinn in der nächsten Woche.

Interview: Redaktionsnetzwerk Deutschland

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