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Rede von Außenminister Gabriel vor dem Deutschen Bundestag zum britischen Antrag zum EU-Austritt
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gestern hat die britische Premierministerin nun formell mitgeteilt, dass das Vereinigte Königreich aus der Europäischen Union austreten möchte. Ich denke, alle hier im Parlament hätten sich kurz nach dem 60. Jubiläum der Europäischen Union am letzten Wochenende ein anderes Geburtstagsgeschenk gewünscht. Aber Lamentieren hilft nichts. Wir respektieren die britische Entscheidung.
Doch machen wir uns nichts vor: Der Brexit zwingt auch die verbleibenden Mitgliedstaaten der Europäischen Union dazu, ihren weiteren Weg neu zu vermessen. Wenn die zweitgrößte Volkswirtschaft der Europäischen Union sich dazu entschließt, die Union zu verlassen, dann kann der Rest nicht „business as usual“ machen und so tun, als sei nichts geschehen.
Für uns ist nach wie vor klar: Die Europäische Union ist und bleibt das größte Zivilisationsprojekt des 20. Jahrhunderts, und auch im 21. Jahrhundert gibt es - bis heute - keine Region in der Welt, in der man so frei, so sicher und auch so demokratisch leben kann wie bei uns in der Europäischen Union.
Frieden und Wohlstand für alle sind die Versprechen der Europäischen Union, und wir sehen gerade, wie brüchig der Frieden dort ist, wo die friedenstiftende Hand der Europäischen Union nicht wirksam ist auf unserem Kontinent. Natürlich ist es eine der wichtigsten Aufgaben der Europäischen Union, auch das Wohlfahrtsversprechen endlich wieder einzulösen. Nichts untergräbt die Legitimität der europäischen Einigung so sehr wie mehr als 40 Prozent Jugendarbeitslosigkeit in vielen Ländern der Europäischen Union im Süden.
Europa wird nur gelingen, wenn es auch für die nächste Generation in Europa ein Projekt der Hoffnung ist, und nicht ein Projekt der Hoffnungslosigkeit. Deshalb ist der Kampf um mehr Wachstum, mehr Arbeitsplätze, bessere Bezahlung und mehr soziale Sicherheit so ungeheuer wichtig.
Denn wie zuvor in Irland, in Frankreich und in den Niederlanden haben auch gerade die Arbeiterbezirke des Vereinigten Königreiches gegen Europa gestimmt. Auch in Großbritannien sind es, wie gesagt, Mittelschichten, Menschen mit nicht so hohen Einkommen, die jedenfalls in der Europäischen Union keine Hilfe für ihre Zukunft mehr gesehen haben. Sie haben gegen die Mitgliedschaft in der Europäischen Union gestimmt, nicht nur, weil sie der dummen Propaganda von UKIP und anderen aufgesessen sind, sondern, weil sie die Hoffnung verloren hatten, dass sich ihre Lebenssituation durch Europa verbessert.
Dem Vereinigten Königreich attestiert die Bank of England für die vergangenen zehn Jahre die schwächste Reallohnentwicklung seit Mitte des 19. Jahrhunderts, seit Mitte des 19. Jahrhunderts! Diese eher schwache Entwicklung der Löhne geht zudem einher mit einer unterschiedlichen, vielfach außerordentlich ungerechten Verteilung der Reallohnentwicklung innerhalb des Landes. Konkret: In einer Zeit, in der der Reichtum zum Beispiel am Finanzplatz London bereits obszöne Größenordnungen erreicht hatte, wurden große Teile der britischen Gesellschaft vom Wohlfahrtsversprechen ausgeschlossen.
Wer verhindern will, dass es in den Bevölkerungen der Mitgliedstaaten Europas weiter mehr Frustration als Hoffnung über ihre eigene Zukunft gibt, der muss vor allem dafür sorgen, dass das Leben, das Einkommen und die sozialen Bedingungen in Europa wieder für alle besser werden.
Für mich ist das deshalb wichtig, weil uns heute in Europa nicht nur unser zukünftiges Verhältnis zu Großbritannien beschäftigen muss. Nicht nur der Brexit, auch die zahlreichen anderen Krisen der jüngeren Vergangenheit haben das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Europäische Union beschädigt. Das wirtschaftliche Abrutschen der Länder am Mittelmeer, der Umgang mit Flüchtlingen, Unsicherheit und Pessimismus: Die Staatengemeinschaft wirkt so zerbrechlich wie nie zuvor.
Das europäische Einigungsprojekt wird wie selten zuvor von Populisten angefeindet, die einfache Lösungen vorgaukeln, die Europa zurückbauen oder sogar zerstören wollen. Deswegen war das Signal von Rom am Wochenende mehr als nur eine gute Nachricht. Denn darin ist endlich ein Bekenntnis zu einem stärkeren sozialen Europa enthalten.
Damit ich nicht missverstanden werde: Ich bin nicht naiv. Ich glaube auch nicht, dass der Text allein sofort alles ändert. Aber es ist ein erstes Zeichen dafür, dass sich die anderen 27 Mitgliedstaaten auf einen Paradigmenwechsel einlassen und sich auf dem Binnenmarkt von einem reinen Wettbewerbseuropa hin zu einer sozialen Marktwirtschaft entwickeln wollen. Dafür ist noch viel zu tun. Aber der Wechsel in diese Richtung ist endlich eingeleitet.
Es gibt aber auch wirklich tolle Nachrichten aus Europa. Es ist erstaunlich: In fast jedem Land Europas - so zeigen es Umfragen - sind es derzeit eher die Älteren, die die EU schlecht finden. Das war bei der Gründung der Europäischen Union anders. Da waren es die Alten, die ihre Söhne und Töchter im Krieg verloren hatten, deren Kinder gestorben, ermordet oder verwundet waren, also die Elterngeneration, die nach dem Krieg wusste: Das wollen wir nicht noch einmal erleben. Wir wollen nicht, dass wieder Eltern heranwachsen, die ihre Kinder im Krieg verlieren. - Heute verteidigen die Jungen Europa. Sie treten immer entschiedener für einen europäischen Zusammenhalt ein. Sie wollen ein starkes Europa; denn sie wissen, dass sie selber und ihre eigenen Kinder in einer sich total verändernden Welt, in der Asien, Lateinamerika und Afrika größer werden, während wir schrumpfen, nur dann eine Stimme haben werden, wenn es eine gemeinsame europäische Stimme ist. Selbst das starke Deutschland wird in dieser Welt von morgen kein Gehör finden, es sei denn, unsere Stimme ist eine europäische Stimme.
Diejenigen, die jetzt jeden Sonntag auf unseren Plätzen den kräftigen „Pulse of Europe“ zeigen, sind stärker als all die plumpen Antieuropäer von links und rechts außen. Die Demonstranten, die den Puls Europas zeigen, sind übrigens unsere stärksten Verbündeten.
Großbritannien war jahrzehntelang Teil und wichtiger Akteur dieser großen Gemeinschaft. Die gemeinsame Geschichte mit uns Deutschen - keine einfache, oft eine schmerzvolle - verbindet. Heute sind wir Partner in einem friedlichen Europa mit gemeinsamen Interessen und Werten. Unzählige Deutsche studieren und arbeiten in Großbritannien. Junge Briten leben bei uns, beleben die Kulturszene, führen Unternehmen und gründen Start-ups. Ich glaube, dass wir trotz aller Auseinandersetzungen rund um den Brexit sicherstellen müssen, dass diese gewachsene Freundschaft zwischen den Menschen unserer Länder durch die jetzt anstehenden Verhandlungen nicht gefährdet wird. Wir müssen Freunde bleiben. Auch wenn sich dieser Spruch bei privaten Trennungsgeschichten, die es ja manchmal gibt, nicht immer realisieren lässt: Ich glaube, dass das eine gute Überschrift für das ist, was wir anstreben sollten: Wir sollten Freunde bleiben, vielleicht mit Ausnahme des Fußballplatzes.
Die Brexit-Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich, die die Europäische Union für uns führen wird, werden nicht einfach. Sicherlich kennt der eine oder andere den Spruch, dass es zuerst schwer werden wird, bevor es wieder leichter wird. Das trifft auch auf diese Verhandlungen zu. Sie werden zuerst schwer werden, bevor sie wieder leichter werden. Sosehr der Austritt Großbritanniens aus der EU auch falsch ist, sosehr er dem Vereinigten Königreich, wie ich glaube, am Ende mehr schaden wird als uns - man darf keine Zweifel daran haben, dass er auch uns schadet -, so wenig Interesse haben wir aber, die Verhandlungen so zu führen, dass am Ende ein völlig zerrüttetes oder verfeindetes Verhältnis zwischen uns entsteht.
Für die Bundesregierung ist allerdings klar: Die wichtigste Bedingung bei den Verhandlungen über den Austritt des Vereinigten Königreichs ist die Wahrung der Interessen der Bürgerinnen und Bürger der verbleibenden 27 Mitgliedstaaten, des Zusammenhalts sowie der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Interessen der Mitgliedstaaten und übrigens auch der Interessen der Institutionen der Europäischen Union. Bei all dem gibt es keinen Britenrabatt.
Viel Detailarbeit wird nötig sein. Wir sollten den Austrittsprozess aber selbstbewusst und ohne Schaden für die 27 verbleibenden Mitgliedstaaten betreiben.
Man braucht klare Leitlinien dafür. Für mich gibt es vier Aspekte, die wir berücksichtigen müssen.
Erstens werden wir immer besondere Beziehungen zum Vereinigten Königreich haben, schon wegen der Bedeutung unserer Zusammenarbeit in der Außenpolitik, bei der Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus, bei Forschung und Entwicklung sowie insbesondere bei unseren sicherheitspolitischen Aufgaben.
Zweitens hat der Brexit ein großes Gefühl der Unsicherheit für unsere Wirtschaft, vor allen Dingen aber auch für mehr als 3 Millionen EU-Bürger geschaffen, die im Vereinigten Königreich leben, davon 300 000 Deutsche. Wir werden deshalb vor allen Dingen am Anfang dafür sorgen müssen, dass sie durch den Brexit möglichst keine Nachteile erleiden. Das Motto von EU-Chefverhandler Michel Barnier lautet deshalb zu Recht: Citizens first, Bürgerinnen und Bürger zuerst! So wichtig die wirtschaftlichen Beziehungen sind: Zuallererst müssen der Rechtsstatus und die Interessen der Bürgerinnen und Bürger Europas in Großbritannien gesichert werden.
Ebenso müssen wir die Finanzierung von EU-Programmen sicherstellen, wie zum Beispiel des Europäischen Sozialfonds oder des Investitionsplans von Kommissionspräsident Juncker. Dafür erwarten wir, dass das Vereinigte Königreich seine eingegangenen Verpflichtungen einhält.
Drittens ist klar, dass eine Partnerschaft außerhalb der Europäischen Union, wie sie das Vereinigte Königreich anstrebt, zwingend weniger als eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union sein muss.
Ein Freihandelsabkommen - und sei es noch so weitgehend und innovativ - ist zwangsläufig weniger handelsfreundlich als der barrierefreie Binnenmarkt. Wir haben es immer wieder zu Recht betont: Der Binnenmarkt ist kein À-la-carte-Menü, seine vier Freiheiten sind unteilbar, und hierzu gehört die Personenfreizügigkeit, die Europa ausmacht. Das hat auch London verstanden.
Viertens muss unseren britischen Partnern klar sein: Je enger unsere Partnerschaft sein soll, desto mehr gemeinsame Spielregeln brauchen wir. Das gilt nicht nur für gleiche Standards bei Wettbewerb, Beihilfe und Arbeitnehmerschutzregeln, sondern auch für andere Bereiche wie beispielsweise Umwelt und Datenschutz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie geht es jetzt weiter? Wir müssen zunächst den Rahmen für die Verhandlungen abstecken. Das werden wir durch die Leitlinie des Europäischen Rates tun. Übrigens: Der Austrittsprozess ist eine „EU only“-Angelegenheit. Der sich anschließende Verhandlungsprozess über die Frage des zukünftigen Verhältnisses betrifft dann ein gemischtes Abkommen, das der Deutsche Bundestag und der Bundesrat ratifizieren müssen.
Trotzdem bin ich der Meinung, dass wir jedenfalls, auch wenn wir bei den Austrittsverhandlungen nicht unmittelbar eine Rolle spielen - das habe ich gestern auch im Ausschuss gesagt -, ein Interesse daran haben, eng miteinander zusammenzuarbeiten, Sie immer zu informieren und, wann immer Sie es für nötig halten, auch zu Ihnen zu kommen. Auch wenn es dabei, wie gesagt, nicht um das gemischte Abkommen geht, ist es, finde ich, angemessen, den Deutschen Bundestag so eng wie möglich in diese Verhandlungen einzubeziehen.
Wir werden unter den 27 Staaten ein Verhandlungsmandat beschließen und vermutlich ab Ende Mai die eigentlichen Verhandlungen beginnen, zunächst zu den zentralen Fragen des Austritts und dann, auf der Basis dessen, was den Austritt ausmachen soll, auch über ein zukünftiges Abkommen mit Großbritannien.
Wir müssen die Impulse, die wir in Rom besprochen haben, aufnehmen, weiterdenken und umsetzen. Wir brauchen nicht in allen Bereichen mehr Europa, aber in vielen Bereichen ein besseres und auch ein sozialeres Europa, das sein Wohlfahrtsversprechen ebenso einlöst wie das Versprechen auf Frieden, Sicherheit der Grenzen und Schutz seiner Bevölkerung, ein Europa, in dem alle nach ihren Kräften mitmachen können, ein Europa der Solidarität und des Miteinanders und ein Europa, in dem nicht einige große Länder für alle anderen reden, sondern in dem wir alle gleich viel wert sind und uns auf Augenhöhe begegnen, das aber auch gemeinsam handelt und sich nicht durch andere spalten lässt.
Um es offen zu sagen: Meine größte Sorge ist, dass dieses Auseinanderdividieren Europas bereits angefangen hat. Ich finde es schmeichelhaft, wenn China, die USA und Russland immer mit Deutschland verhandeln wollen. Aber darin liegt auch eine Gefahr. Es ist eine Falle, in die wir nicht gehen dürfen. Wir müssen immer klar machen: Ja, wir reden gerne, und wir haben auch einen Stabilitätsauftrag und Verantwortung für Europa. Aber am Ende reicht es nicht, mit Deutschland zu reden, sondern alle sind hier gleich viel wert. Europa besteht aus viel mehr kleinen als großen Staaten.
Deswegen wollen wir bei niemandem den Eindruck erwecken, er werde ausgegrenzt. So wichtig selbst das deutsch-französische Tandem ist - am Ende ist es nicht genug. Gerade die kleineren Mitgliedstaaten müssen wissen, dass wir sie als gleichberechtigte Partner auf Augenhöhe sehen und dass wir dafür sorgen wollen, dass alle anderen aus anderen Teilen der Welt am Ende mit Europa verhandeln und nicht nur mit Teilen von Europa. Ich glaube, dass das von großer Bedeutung ist.
Meine letzte Bemerkung. Für dieses Europa braucht man vielleicht ein bisschen Mut; keine Frage. Ich habe vor ein paar Wochen im Uhrensaal im französischen Außenministerium gestanden, in dem Robert Schuman seine berühmte Rede gehalten hat. Ich habe gedacht: Mein Gott, was müssen das für mutige Frauen und Männer gewesen sein! So kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges - er war ja noch nicht lange vorbei - laden sie Deutschland ein, an den Tisch der zivilisierten Völker Europas zu kommen, das Land, das vorher brandschatzend und mordend durch Europa gezogen ist. Ich glaube nicht, dass die Bürgerinnen und Bürger in Luxemburg, in Frankreich, in den Niederlanden, in Belgien, in Italien oder anderswo damals nur Beifall dafür geklatscht haben, dass ihre politischen Führerinnen und Führer gesagt haben: Komm, wir laden die Deutschen ein. - Ich glaube, es hat viel Kritik gegeben. Trotzdem hatten sie den Mut, das durchzuhalten.
Ich glaube, dass wir auch heute Mut brauchen, aber ich vermute, nicht so viel Mut, wie sie damals gebraucht haben. Wenn man sieht, was geht, wenn man weiß, wo man hinwill, dann, finde ich, kann man diesen Mut aufbringen, und dann muss uns um Europa nicht bange sein.
Vielen Dank.