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Rede von Außenminister Sigmar Gabriel beim Internationalen Symposium zu Ehren von Hans-Dietrich Genscher

28.03.2017 - Rede

Liebe Barbara Genscher,
sehr geehrter Maxim Kantor,
lieber Klaus Kinkel,
Exzellenzen,
meine Damen und Herren,

ich freue mich sehr, Sie hier im Auswärtigen Amt zu begrüßen.

Gerade eben haben wir das Europafoyer hinter diesem Saal im Gedenken an Hans-Dietrich Genscher feierlich umgewidmet.

Im Auswärtigen Amt ist es ja Tradition, Räume nach großen Persönlichkeiten zu benennen. Was man dabei zu diesem Haus wissen sollte: Es war auch einmal das ZK der SED. Und der Saal, in dem das Poiltbüro damals tagte, steht - wie das in Deutschland so ist – unter Denkmalschutz. Aber die ultimative Rache der bürgerlichen Gesellschaft an der SED ist folgende: In diesem Raum, in dem die Tapete natürlich auch unter Denkmalschutz steht, sieht man die Spuren der Bilder, die dort früher einmal hingen. Darüber hat man aber nun ein großes Bild von Bismarck gehängt und den Raum Bismarck-Saal genannt! Das ist die ultimative Rache der bürgerlichen Gesellschaft an der SED!

Ich gebe zu, als Sozialdemokrat gefällt mir die Umwidmung eines Raumes in Hans-Dietrich Genscher Forum deutlich besser.

Ich freue mich wirklich, dass wir dies im Auswärtigen Amt hinbekommen haben – auf Initiative von Frank-Walter Steinmeier und zusammen mit der Friedrich-Naumann-Stiftung.

Wenige Menschen haben die Bundesrepublik so nachhaltig geprägt wie Hans-Dietrich Genscher. Ich bin jetzt 57 Jahre alt. Mit 15 oder 16 Jahren habe ich angefangen, mich für Politik zu interessieren. Und Genscher hat, obwohl er einer anderen politischen Partei angehörte, mich mein ganzes politisches Leben begleitet.

Genscher stand für mich immer für einen Begriff von Liberalität, den wir uns in Deutschland nur wünschen können. Der mehr beschreibt als die Zugehörigkeit seiner Partei, der die Verfassung unseres Landes, das Zusammenleben in unserem Land geprägt hat, abseits der politischen Unterschiede. Er ist eine der herausragenden liberalen Gestalten unseres Landes, die das Land in ihrer Liberalität entwickelt haben. Meiner Generation hat das gut getan. Und ich glaube, in Zeiten, in denen wir manchmal nicht so richtig wissen, wie wir uns weiter entwickeln sollen, ist diese Erinnerung an Liberalität im besten Sinne des Wortes eine der großen Traditionen, die dieses Lande bewahren sollte. Und zwar abseits der Parteizugehörigkeit. Dass Genscher dieses liberale Europa geprägt hat, ist Grund, zurückzudenken an seine Zeit. Aber auch Grund, etwas mitzunehmen, in das, was vor uns steht. Die Idee eines toleranten, eines liberalen, eines freiheitlichen und sicher auch sozialen Europas. Das ist etwas, was wir von Genscher mit in die Zukunft nehmen können.

Meine Damen und Herren,

eigentlich aber hat Hans-Dietrich Genscher das Auswärtige Amt nie wirklich verlassen. Trotz Umzug. Das wird einem ganz besonders deutlich, wenn man sich aufmacht und hinabsteigt in die Keller dieses Hauses. Hier unter uns, zu Ihren Füßen, hinter dicken Tresortüren horteten einst die Nazis ihr Gold. Heute ist dort das Politische Archiv dieses Hauses untergebracht.

Frank-Walter Steinmeier hat mir einen sehr guten Tipp gegeben, wie man sich dort unten zu Recht findet. Eigentlich ganz einfach: Es gibt nämlich als Ordnungssystem nur zwei Kategorien: Da sind die Aktenvorgänge MIT Hans-Dietrich Genscher – meterlange, mannshohe Regalreihen. Und dann gibt es da noch eine kleine Schachtel - für die Vorgänge OHNE Hans-Dietrich Genscher!

Vor 43 Jahren, im Jahr 1974, hat Genscher sein Amt übernommen. Und das war damals eine durchaus interessante Konstellation.

Genscher wurde Außenminister und sein Vorgänger, ein guter Parteifreund, wurde Bundespräsident… Ich kann mir ganz gut vorstellen, wie sich das angefühlt haben mag!

Vom ersten Tag an ließ Genscher keinen Zweifel aufkommen, mit wie viel Elan er als neuer Außenminister für seine Visionen streiten würde. Im Archiv habe ich eine Aktennotiz gefunden, die dies hervorragend deutlich macht. Dort liest man, dass es nur wenige Tage nach der Amtsübergabe eine Besprechung gab. Geleitet von Genschers Bürochef - einem gewissen Ministerialdirigent Kinkel. Die engsten Mitarbeiter kamen und lauschten Herrn Kinkel, wie sich der neue Chef Genscher die Zusammenarbeit mit dem Hause vorstellte.

In Zukunft – so Kinkel - sollten alle wichtigen Themen für den Minister nicht nur knapp und präzise vorbereitet werden. Sondern „gestochen“! So steht es dort.

Der Minister neige zudem dazu, ad hoc Besprechungen einzuberufen. Und mit Blick auf die anstehende „Sommerpause“ warnte Kinkel die Kollegen, dass Genscher sich SEHR LANGE im Büro aufhalten werde. Bis 22 Uhr – präzisierte er! Von seinen engen Mitarbeitern und seinen Staatssekretären erwarte er das gleiche!

Nun, lieber Klaus Kinkel, ich muss sagen, das war eine klare Ansage!

Und vielleicht zeigte sich schon damals, in diesen ersten Tagen seiner Amtszeit, wie Genscher sein Amt führen würde: pragmatisch, mit klarem Blick auf das Ergebnis. Prinzipienfest. Und: mit seinem ja schon legendären, selbstironischen Humor.

„Man sagt, der liebe Gott könne nicht überall sein. Aber von einem Außenminister wird das selbstverständlich erwartet“, so hat Genscher es etwa einmal ausgedrückt. Und wahrscheinlich war er dabei schon wieder auf dem Weg zum Flughafen…

***

Genscher hat unser Land geprägt, wie wenig andere. Dass unser Land, dass Deutschland heute eingebunden in ein freiheitliches und friedliches Europa, das haben wir mutigen Menschen wie Hans-Dietrich Genscher zu verdanken. Genscher erkannte schon früh, dass ein Interessensausgleich notwendig ist, zwischen Ost und West. Leidenschaftlich setze er sich ein für die Deutschland- und Ostpolitik, die Willy Brandt begonnen und Helmut Schmidt fortgesetzt hatte.

Was Genscher in dieser Arbeit auszeichnete und ihm so viel Respekt verschaffte – in Deutschland und im Ausland - das waren aus meiner Sicht vielleicht vor allem zwei Eigenschaften.

Erstens, sein großartiges Kommunikationsgeschick. Genscher verstand es, auch unter den schwierigsten Verhandlungspartnern Vertrauen aufzubauen. Er konnte sich hineindenken in sein Gegenüber. Er gab nicht auf, wenn die Gespräche wieder und wieder stockten. Er beharrte darauf, dass es weitergehen musste. Geduldig aber mit Nachdruck!

Mit dieser großartigen Gabe hat Genscher die Politik unseres Landes geprägt, aber vor allem auch das Gesicht, die Zugewandtheit unseres Landes. Wenn man etwas von ihm mitnehmen kann, dann glaube ich, ist das diese Zugewandtheit zu den Ländern, mit denen wir Deutsche im Kontakt sind. Es gibt ja sehr unterschiedliche Arten die man aufrufen kann. Mit der gewachsenen Stärke unseres Landes finden wir auch überall in der Welt eine besondere Aufmerksamkeit. Aber ich glaube, gerade bei einem besonders starken Land wie Deutschland ist es wichtig, dem anderen eine zugewandte Seite zu zeigen. Nicht die Stärke in den Mittelpunkt zu stellen, nicht Gefolgschaft zu fordern. Wir wissen, dass Europa aus vielen kleinen Ländern und nur wenigen großen und mittleren Ländern besteht. So dass wir Deutschen uns nicht in die Falle locken lassen dürfen, dass man immer nur mit uns in Europa redet. Das haben die Chinesen, die Russen und die Amerikaner derzeit leider gemeinsam.

Dass wir auch Ländern, die schwächer sind und deren Regierungsführung wir kritisieren, deren Finanzen in Schwierigkeiten sind, helfen, und ihnen mit einer respektvollen Zugewandtheit begegnen - das kann man von Hans-Dietrich Genscher lernen. Dieses zugewandte Gesicht - das ist etwas, was wir zu Recht als Vorbild nehmen können, für das Auftreten dieses Landes auch in der heutigen Zeit.

Mit dieser großartigen Gabe hat Genscher die Politik unseres Landes geprägt und die entscheidenden Etappen gestaltet – von der KSZE, zum 2plus 4-Vertrag, zur Architektur der Deutschen Einheit.

Ungarns Außenminister Gyula Horn, der 1989 als erster den Eisernen Vorhang zerschnitt, nannte seinen Kollegen Genscher den „Diplomatenpolitiker Nummer Eins unserer Zeit“. Der ehemalige amerikanische Außenminister James Baker sah ihn als „Titanen unter den Diplomaten“ der so zäh sein konnte „wie das Leder eines texanischen Cowboystiefels“.

Ich bin überzeugt, Genschers Bereitschaft auch mit den schwierigsten Partnern nach pragmatischen Lösungen zu suchen- das kann und muss uns auch heute Maßstab sein.

Lieber Klaus Kinkel, ich fand Ihre Hinweise eben gerade richtig, zu der Frage, wie Hans-Dietrich Genscher wohl heute agieren würde, mit Blick etwa auf die Vereinten Staaten. Die USA sind und bleiben ein Land, dem wir verbunden sind. Es ist Partnerschaft mit ausgestreckter Hand. Aber auch selbstbewusst.

Mit Blick auf Russland ist klar, dass wir die Politik Russlands auch immer wieder kritisieren und auch kritisieren müssen, aber dass wir uns zugleich bewusst sein müssen, dass wir ohne dieses Land viele Probleme in der Welt eher verschlimmern als dass wir sie lösen werden. Wir können uns nun mal unsere Nachbarn nicht aussuchen.

Wir müssen trotz der scheinbar täglichen anwachsenden Konflikte, neuer Kriege, neuem Wettrüsten, trotz aller Rückschläge weiter an politischen Lösungen arbeiten. Das ist keine einfache Aufgabe. Aber das darf uns kein Grund sein, aufzugeben! Auch Beharrlichkeit und Geduld lehrt uns das Vermächtnis von Hans-Dietrich Genscher. Übrigens immer gepaart mit der Klarheit darüber, wo er steht. Nie anbiedernd. Pragmatismus ist ja etwas anderes, als seine eigenen Werte aufzugeben, sondern der Versuch, sich die Interessen des anderen vor Augen zu führen, ohne ihm zu folgen. Um dann einen Interessensausgleich zu suchen.

Er selbst hat es einmal so ausgedrückt: „Den guten Lotsen erkennt man an der ruhigen Hand und nicht an der lautesten Stimme.“

***

Hans-Dietrich Genscher verstand es auf brillante Weise – und dies ist mein zweiter Punkt - die richtigen Schlüsse aus einer sich wandelnden Lage zu ziehen. Er vermochte es, Veränderungen nicht nur zu erkennen, die „Zeichen der Zeit“ nicht nur zu sehen, sondern sie auch zu nutzen! Und den Wandel aktiv mitzugestalten. Dafür war er bereit, mutige neue Schritte zu gehen – und nicht selten gegen Widerstand in den eigenen Reihen!

In seiner berühmten Davoser Rede im Februar 1987 forderte Genscher den Westen auf, die Reformbemühungen Gorbatschows „ernst zu nehmen“. Und sie als Chance zu nutzen.

„Europa ist unser Schicksal. Das gilt für uns noch mehr, als für alle anderen Völker. Die Menschheit steht vor der Entscheidung, in der Konfrontation unterzugehen oder gemeinsam zu überleben!“

Seine Leidenschaft für ein Europa in Frieden und Freiheit hat ihn Zeit seines Lebens geprägt – ihn, der den Krieg selbst miterlebt hatte, ihn, der aus der DDR geflohen war.

Bis zu seinem Tod hat Genscher uns gemahnt, für dieses Europa zu kämpfen.

Und Recht hatte er! Gerade heute brauchen wir ein starkes Europa! Und gerade heute müssen wir Europäer die „Zeichen der Zeit“ erkennen und die Veränderungen um uns herum nicht nur wahrnehmen, sondern sie auch mitgestalten!

Zu einer klaren, schonungslosen Analyse gehört auch die Einsicht, dass wir als Europäer den Wechsel von der alten zu der neuen, sich stets verändernden Weltordnung noch nicht geschafft haben. Und das ist nicht als Anklage gemeint. Denn es stimmt ja: Die Europäische Union ist nicht als ein weltpolitischer Akteur konzipiert worden. Sie sollte Frieden und Wohlstand für ihre Mitglieder schaffen. Was wir aber nicht geschafft haben, ist zu lernen, wie wir mit der Realität der Krisen und Kriege in unserer Nachbarschaft außerhalb der EU erfolgreich umgehen.

Gleichzeitig müssen wir auf einen weiteren Punkt achten: er betrifft eine Entwicklung im Innern Europas. Wir erleben, was man ohne Übertreibung als Vertrauenskrise beschreiben kann. Statt einer Annäherung in Europa, sehen wir jeden Tag neue Entwicklungen des Auseinanderdriftens.

Wenn wir als Europäer in einer sich verändernde Welt aber weiterhin eine prägende Rolle spielen wollen, dann müssen wir uns selbst verändern. Dann müssen wir ein starkes und verantwortungsbereites Europa entwickeln. Und natürlich dafür sorgen, dass unsere Kinder in der Welt von morgen gehört werden. Das werden sie nicht, wenn es nur eine nationale Stimme ist. Wir werden nur dann Gehör finden in der Welt von morgen, wenn es eine gemeinsame europäische Stimme ist.

Vielleicht ist das zugewandte Gesicht Genschers – das zugewandte Gesicht Deutschlands zu unseren Nachbarstaaten, mit das wichtigste was wir zu bieten haben, um die Skeptiker und Kritiker, die Ängstlichen davon zu überzeugen, dass sie in Deutschland einen starken, aber vor allem einen verlässlichen und einen ihnen und der europäischen Einheit zugewandten Partner finden. Ich glaube, damit würden wir Hans-Dietrich-Genscher nicht nur beim Wort nehmen, sondern in seinem Geist das Europa von morgen auch neu entdecken. Vielen Dank.

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