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Rede von Europa-Staatsminister Roth zur Eröffnung der Konferenz „Reformation in der heutigen Welt – 500 Jahre Reformation“

17.03.2017 - Rede

--- es gilt das gesprochene Wort ---

Stellen Sie sich vor, Sie besuchen Familienangehörige, die mehrere tausend Kilometer entfernt wohnen. Sie erzählen den Verwandten von den bahnbrechenden Entwicklungen, die sich in der Heimat ereignet haben. Von kraftvollen Ideen, die so vieles, was unverändert schien, dann doch verändert haben. Die Verwandten hören sich das an und sind hin und weg: Endlich tut sich etwas, endlich brechen alte Strukturen auf, entsteht etwas Neues.

So oder so ähnlich muss es wohl gewesen sein, als die Reformation vor 500 Jahren nach Riga kam. Damals im Jahr 1517 war es Andreas Knöpken, der zu seinem Bruder Jakob nach Riga reiste. In Treptow in Pommern war Andreas Knöpken zuvor Johannes Bugenhagen begegnet, einem engen Weggefährten Martin Luthers. Schon damals wird Knöpken etwas vom Geist der Reformation gespürt haben – und er hat ihn mitgebracht nach Riga.

Andreas Knöpken blieb in Riga und wurde Kaplan an der St. Petri Kirche. 1519 reiste er erneut nach Pommern, setzte seine Studien fort und unterrichte an einer Schule. Nach dem dortigen Bildersturm kam er schon bald wieder nach Riga und begann hier die Lehre der Reformation zu predigen. Die 95 Thesen Martin Luthers kamen somit schon sehr früh nach Riga. Auch einen direkten Briefwechsel mit Martin Luther gab es in dieser Zeit.

Am 23. Oktober 1522 wurde Andreas Knöpken zum Archidiakon der St. Petri-Kirche ernannt. Dies war ein Novum, da bis dahin allein das Domkapitel über das Recht verfügte, Pfarrer und Diakone zu ernennen. Knöpken dagegen kam mit Unterstützung des Rates der Stadt und der Gilden ins Amt. Politiker entschieden also maßgeblich über ein Kirchenamt.

Die St. Petri-Kirche wurde ab 1522 zur Wiege der Reformation in Riga, zwischenzeitlich zählt sie zum Weltkulturerbe. Noch heute spiegelt die beeindruckende Architektur der Stadt Riga das reiche Erbe der Reformation wider. Mit ihrer Altstadt und den wundervollen Kirchen und Gassen, dem weltberühmten Jugendstilviertel und faszinierender moderner Architektur ist Riga eine weltoffene, europäische Stadt. Mit ihren Plätzen lädt sie immer wieder zu Begegnungen und Austausch ein. Anscheinend mühelos bewahrt Riga Altes, nimmt Neues auf und versöhnt beides miteinander.

Und nicht nur die beiden Reformationsstädte Wittenberg und Riga sind miteinander verbunden. Enge Bande bestehen auch zwischen den Partnerstädten Bremen und Riga. Denn Riga wurde im Jahr 1201 von Bischof Albert von Buxhoeveden aus Bremen gegründet. Wie schön, dass heute mit Renke Brahms auch ein Vertreter der EKD aus Bremen anwesend ist! Ebenso freue mich, dass das Auswärtige Amt anlässlich des Reformationsjubiläums eine Chor-Reise von Bremen nach Riga ermöglichen konnte.

Daran erkennen Sie schon: Der Kontakt zu Riga, zu Lettland, ja zur gesamten Ostseeregion liegt uns in Deutschland ganz besonders am Herzen! Europa ist in den vergangenen Jahrzehnten immer enger zusammengewachsen. Was für ein Segen! Und diesen europäischen Zusammenhalt wollen wir fördern und stärken – auch und ganz besonders in diesen stürmischen Zeiten.

Und das gilt mitnichten nur für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, sondern auch für unser Gedenken an die Reformation vor 500 Jahren. Denn das Reformationsjubiläum feiern wir in diesem Jahr in ganz Europa – von Turku im Norden bis Rom im Süden, von Dublin im Westen bis Riga im Osten. Und deshalb ist es auch kein Zufall, dass die Konferenz „Die Bedeutung der Reformation in der heutigen Welt“ ausgerechnet hier in Riga stattfindet. Der Universität Lettlands und der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche in Lettland danke ich für die Organisation.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Vor 500 Jahren, am 31. Oktober 1517, schlug Martin Luther der Überlieferung nach seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg. Der „Thesenanschlag“ von Wittenberg markierte den Beginn der Reformation. Mit seiner Kritik an der römisch-katholischen Kirche, am Ablasshandel und an der päpstlichen Prachtentfaltung setzte Martin Luther nicht nur der geistlichen, sondern auch der weltlichen Macht Grenzen. Die Reformation befreite die Kirche von sich selbst. Sie befreite den Glauben aus religiöser Erstarrung und institutioneller Vereinnahmung.

Heute, 500 Jahre später, blicken wir zurück auf einen mutigen Mann an der Schwelle zur Neuzeit, der so viel beigetragen hat zur Entwicklung unserer heutigen Gesellschaft. Wir verdanken der Reformation entscheidende Impulse für unser heutiges Verständnis von Freiheit, Bildung und gesellschaftlichem Zusammenleben.

Dies schließt das Recht auf Irrtum ein. Martin Luther war eben auch ein Kind seiner Zeit, mit eklatanten Schwächen und - aus heutiger Sicht - inakzeptablen Positionen. Insbesondere von Luthers judenfeindlichen Äußerungen distanzieren wir uns ganz entschieden.

Und überhaupt: Die Reformation war ja nicht bloß das Werk eines Mannes, sondern vielmehr das Werk ganz vieler Männer, und ja, auch Frauen. Man denke nur an Huldrych Zwingli und Johannes Calvin in der Schweiz, an Mikael Agricola in Finnland oder an Jan Hus in Tschechien. Und vergessen wir auch nicht Frauen wie Elisabeth von Rochlitz, Magdalena von Staupitz oder Elisabeth von Brandenburg, die den Gedanken der Reformation verbreitet haben.

Die Reformation war eben nicht nur deutsch und männlich. Sie war eine überzeugte Europäerin, ja sogar eine Weltbürgerin. Martin Luther brachte vom beschaulichen Wittenberg aus einen Stein ins Rollen, der erst Deutschland, dann Europa und schließlich die ganze Welt dramatisch verändern sollte – politisch, gesellschaftlich, kulturell und spirituell.

Martin Luther verstand sich nicht nur als Mann des Glaubens, sondern auch als „politischer Mensch“. Er bezog Position und vertrat diese vor den damaligen Autoritäten. Und er hatte eine klare Botschaft an uns alle: Mischt Euch ein! Schaut nicht weg! Nehmt Eure Verantwortung vor Gott und der Welt ernst! Veränderung zum Guten und Fortschritt sind möglich. Auch und ganz besonders in schwierigen Zeiten.

Und das gilt heute noch: Die Reformation ist mitnichten ein abgeschlossenes Kapitel in den Geschichtsbüchern. Sie stellt uns vor eine bleibende Aufgabe, auch im Hier und Jetzt. Sie erinnert uns daran, unser eigenes Handeln immer wieder kritisch zu prüfen. Sie ermutigt uns dazu, unserem Gewissen zu folgen und Verantwortung für unser Handeln zu übernehmen.

Luthers „Hier stehe ich“ ist ein Auftrag, sich auf sein eigenes Gewissen zu berufen. Das ist für jemanden, der sich politisch engagiert, nicht immer leicht. Was trägt mich? Worauf werde ich am Ende auch in meinen politischen Entscheidungen zurückgeworfen? Ist es eine Partei? Eine abstrakte Idee? Oder ist es dann nicht doch das Gewissen?

Ich selbst bin gläubiger Christ und seit vielen Jahren Mitglied der Landessynode der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, also dem Kirchenparlament meiner Landeskirche. Nicht erst seit meiner Ernennung zum Europa-Staatsminister, sondern seit über 18 Jahren als Parlamentarier, begleitet mich eine Frage: Christsein und politisches Handeln – wie lassen sich diese beiden Welten miteinander in Einklang bringen?

Nun ist es ja nicht so, dass man seinen Glauben einfach so wie einen Mantel an der Garderobe abgibt, wenn man Parlamentarier wird oder ein Büro im Auswärtigen Amt bezieht. Für mich als Christ ist mein Glaube auch im politischen Leben ein Begleiter und ein Ratgeber. Das heißt nun nicht, dass ich Politik mache mit der Bibel in der Hand. Aber um in dieser immer unübersichtlicheren Welt Orientierung zu finden, kann der Glaube durchaus als innerer Kompass dienen, der uns dabei hilft, den richtigen Weg zu finden. Und die Gewissheit tut gut, dass man am Ende nicht tiefer fallen kann als in Gottes Hand.

Meine tägliche Arbeit im Auswärtigen Amt ist oft ein zähes Aushandeln von Kompromissen. Man braucht einen langen Atem. Und Geduld. Gerade in Zeiten von Rückschlägen trägt mich mein Glaube. Was uns Christen stark macht und Freiheit verleiht, ist dass wir um unsere eigene Begrenztheit wissen und dennoch entschlossen sind, die Welt ein Stückchen besser zu machen.

Oder wie es ein bekanntes Lutherzitat ausdrückt: „Wir sind's noch nicht, wir werden's aber. Es ist noch nicht getan, es ist aber im Gang und im Schwang. Es ist nicht das Ende, aber der Weg.“

Manch einer wird sich fragen: Warum widmen sich auch Staat und Politik dem Gedenken an Leben und Wirken eines Kirchenmannes? Die Antwort liegt auf der Hand: Die Reformation hat eben nicht nur die Kirche grundlegend erneuert. Sie hat auch bahnbrechende politische, gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen mit sich gebracht, die bis heute spürbar sind – nicht nur für Christen, sondern auch für Anders- und Nichtgläubige. Die Reformation geht daher jeden von uns an.

Ich finde, das religiöse Bekenntnis des Individuums, gleich welcher Glaubensrichtung, sollte in unserer aufgeklärten Gesellschaft keinen Anstoß erregen. Der Glaube ist eben nicht nur Privatsache. Unsere europäischen Gesellschaften sind definitiv nicht homogen, sie werden von verschiedenen Kulturen, Ethnien und Religionen inspiriert.

Europa muss sich daher selbstkritischen Fragen stellen: Was eint uns? Was macht unser gemeinsames Werteverständnis aus? In welchen Fragen sind wir dezidiert unterschiedlicher Auffassung? Wie viel Gemeinsamkeit ist nötig und wie viel Vielfalt möglich? Auf diese Fragen gibt es keine einfachen Antworten, wir müssen sie gemeinsam finden – auf der Grundlage von Dialog, Toleranz und Respekt.

Und dabei kommt insbesondere den Kirchen eine ganz entscheidende Rolle zu. Ihre Rolle, ja ihr Auftrag ist es nicht nur, Gott zu loben, sondern den Zusammenhalt in der Gesellschaft zu stärken und unsere gemeinsamen Werte zu verteidigen. Sei es in unserer Verantwortung für Geflüchtete und politisch Verfolgte, sei es in unserer Verantwortung für Frieden und Gerechtigkeit in der Welt. Ich sehe einen Primat der Politik gegenüber der Religion, aber es gibt auch ein fruchtbares Spannungsverhältnis zwischen Politik und Kirche.

In diesen Zeiten werden unsere Werte oft in Frage gestellt. Dabei ist es Aufgabe der Kirche, mit gutem Beispiel voranzugehen und unsere Werte zu bewahren. Die Kirche kann sich auch selbst kritisch befragen, so wie es Luther getan hat. Die Kirche selber ist ja „semper reformanda“, also immer im Wandel.

Dazu zählt auch, dass die Kirchen selbst gesellschaftliche Vielfalt, Gleichberechtigung und Toleranz entschieden vorleben. Es ist doch eine große Bereicherung, dass wir zunehmend Frauen in Führungspositionen in der Wirtschaft und Gesellschaft haben. Warum sollte die Kirche da zurückstehen?

Dass auch Frauen zu Pfarrerinnen ordiniert werden und im Gottesdienst predigen, ist Ausdruck dessen, dass Mann und Frau gleich geschaffen sind und mit der Taufe eins sind in Christus. Das ist nicht dem modernen Zeitgeist geschuldet, sondern klares Zeugnis der Ebenbildlichkeit des Menschen.

Und das hat uns die Reformation vor 500 Jahren ja auch vorgemacht, denn auch sie war ja schließlich das Werk von Männern und Frauen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Die Reformation hat nicht nur den Glauben reformiert. Sie war auch eine Medienrevolution und Bildungsoffensive, die Martin Luther und seine Mitstreiter vorangetrieben haben, etwa durch Volksschulen für Jungen und Mädchen.

Auch heute ist die Bildung unserer Jugend ein hohes Gut. Wir müssen junge Menschen ermächtigen, an sich selbst zu glauben, auf ihr Gewissen zu hören. Wir müssen sie in die Lage versetzen, den Dingen auf den Grund zu gehen und unbequeme Fragen zu stellen. Wir müssen junge Menschen ermutigen, keine Scheu zu haben, einfache Antworten zu hinterfragen und vermeintlich absoluten Wahrheiten zu misstrauen.

Wir müssen ihnen ein stabiles Wertefundament mitgeben, damit sie wachsam sind gegenüber denjenigen, die Hass und Zwietracht in unserer Gesellschaft säen wollen. Damit junge Leute selbstbewusst sagen können: „Hier stehe ich und kann nicht anders“.

500 Jahre Reformation sind ein Anlass zum Feiern, aber auch ein Anlass, um aus unserer wechselhaften Geschichte mit all ihren Höhen und Tiefen die richtigen Lehren für die Zukunft zu ziehen. Deutschland und Lettland, ja ganz Europa, sind geeint durch das gemeinsame Erbe der Reformation. Dieses Vermächtnis ist mir Verpflichtung, das Projekt Europa, dieses Projekt des Friedens und der Kooperation, mit Ihnen gemeinsam nach Kräften weiterzuführen und weiterzuentwickeln. Dafür braucht es jede und jeden von Ihnen, mit all ihren Talenten, ihren Ideen und einer Portion „lutherischen“ Mut.

Ich wünsche Ihnen viel Freude und Inspiration bei dieser so wichtigen Konferenz!

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