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Rede von Außenminister Sigmar Gabriel zu Egon Bahrs „Tutzinger Rede“
Lieber Herr Schmitz-Schwarzkopf,
Liebe Adelheid,
Exzellenzen,
sehr verehrte Damen und Herren,
vielen Dank für die Einladung! Es ist für mich eine große Ehre, denn mich verbinden mit Egon Bahr nicht nur historische Bezüge, sondern wir haben uns als Freunde betrachtet.
An die Tutzinger Rede zu erinnern ist in diesen Wochen und Monaten ja etwas ganz Besonderes. Diese eindrucksvolle Rede haben wir ja gerade gehört. Deshalb will ich es so halten, wie es Egon Bahr selbst in Tutzing angekündigt hat: „Ich werde kein Koreferat halten“!
Er bezog sich natürlich auf Willy Brandt, damals Hausherr in einem anderen Berliner Rathaus etwas weiter im Westen, der vor ihm in Tutzing gesprochen hatte. Ein Koreferat hat Egon Bahr dann wahrlich nicht gehalten. Das war natürlich weit mehr! Oder wie er selbst in einer unnachahmlich pointierten Art in einer Notiz an Willy Brandt formulierte: Er könne, schrieb Bahr an Brandt vor dem Auftritt in Tutzing, die Rede Brandts ergänzen und „brisante Dinge“ sagen, „wenn sie von Ihnen nicht gesagt werden können“.
Das ist ihm auf jeden Fall gelungen! Er hat einen kühnen, einen radikalen Neuanfang skizziert. Die konzeptionelle Grundlage der späteren „neuen Ostpolitik“ der SPD-Bundesregierung von Willy Brandt aufgefächert. Das ist Egon Bahr in der Rolle des Baumeisters und des Architekten gleichermaßen. Diese neue Politik warf den ideologischen Ballast der Nachkriegszeit ab. Und ersetzte ihn mit einer Politik, die auf der Erkenntnis beruhte: Entspannung in den innerdeutschen Beziehungen und darüber hinaus in den Ost-West-Beziehungen würde eben nicht durch eine Politik der Stärke zu erreichen sein. Sondern durch pragmatische Annäherung. Ohne dabei das langfristige Ziel, die Wiedervereinigung Deutschlands und die Überwindung der Teilung Europas aufzugeben. Das war 1963, im letzten Regierungsjahr von Konrad Adenauer, geradezu eine Revolution im Denken.
Auch wenn ihm das im Moment der Rede vielleicht gar nicht so klar war. Denn Egon Bahr hat beschrieben, dass der eigentliche Tabubruch schon weit vor der Tutzinger Rede passierte. Nämlich in den Köpfen von Willy Brandt, von Egon Bahr, die über Monate an diesen Ideen gefeilt hatten. Das Revolutionäre war zur Selbstverständlichkeit geworden. „Als ich 'Wandel durch Annäherung' herunterdiktierte“, sagte Egon Bahr „hatte ich nicht das Gefühl mutig zu sein.“
Übrigens: „Wandel durch Annäherung“. Nicht umgekehrt: „Annäherung durch Wandel“. Also nicht die Aufforderung: „Ändere Dich, dann können wir uns annähern“. Sondern die Gewissheit: Wenn wir uns annähern, wird sich vieles wandeln. Das ist vielleicht die wichtigste Lehre in einer Zeit, in der wir ja gerade lernen, dass der die meisten Schlagzeilen und den meisten Beifall bekommt, der den Wandel des anderen am lautesten einfordert. Doch ohne bereit zu sein, sich auf den anderen einzulassen.
Einmal öffentlich, wurde der Tabubruch heftig kommentiert. „Aggression in Filzpantoffeln“ hieß es in Ost-Berlin. Und die CDU sah schon einen „Wandel durch Anbiederung“. Und auch Herbert Wehner schimpfte, die Vorschläge seien „ba(h)rer Unsinn“, mit „h“, eine Narretei!
Von all dem hat Egon Bahr zunächst vermutlich sehr wenig mitbekommen. Denn er ist direkt nach der Rede in den Urlaub gefahren! Dort erreichte ihn dann eine Nachricht von Willy Brandt: „Du Schlawiner, lässt überhaupt nichts von Dir hören. Über die Tutzing-Polemik müssen wir noch reden. Ich wusste nicht, dass Du Deine Rede über den Pressedienst verbreiten lassen würdest…“.
Das kann man sich heute überhaupt nicht mehr vorstellen. Erstens wird Willy Brandt ihn gut genug gekannt haben. Und zweitens wird Egon Bahr natürlich gewollt haben, dass seine Rede bekannt wird.
Meine Damen und Herren,
es war jedenfalls ein ungeheuer breites Echo, das es damals gab. Ich selbst habe die Rede damals nicht mitbekommen – ich war nämlich erst 4 Jahre alt. Aber ich war später Profiteur. Denn ich bin aufgewachsen direkt an der innerdeutschen Grenze, der Zonengrenze. Wir hatten uns mit der deutschen Teilung eigentlich schon abgefunden. Wir haben den kleinen Grenzverkehr genutzt, aber so richtig haben wir nicht geglaubt, dass diese Grenze einmal verschwindet. Bahr und Brandt sind hingegen diejenigen gewesen, die in der Sozialdemokratie mehr als alle anderen die Idee eines wiedervereinigten Deutschlands immer fest im Auge behalten haben. Das ist bei Vielen meiner Generation dann schon anders gewesen.
Aber die Tiefenwirkung, die seine in Tutzing formulierten Gedanken entfaltet haben, hat uns alle natürlich erheblich geprägt. Und auch mit seinem Politikverständnis hat er die nachfolgenden Generationen von Politikerinnen und Politiker geprägt. Denn Egon Bahr verbindet ja nicht nur in seiner Tutzinger Rede, sondern in seinem ganzen langen politischen Wirken, einen sehr pragmatischen Politikansatz mit einer klaren Vision dafür, was wir für unser Land langfristig erreichen wollen. In langen Linien zu denken und gleichzeitig konkrete Schritte im Jetzt sich vorzunehmen, das ist das Besondere. Das ist eine Kombination, die auch heute noch gefragt ist, gerade in einer so unübersichtlichen Weltlage.
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Meine Damen und Herren,
deshalb will ich zumindest den Versuch wagen, mit den Augen Egon Bahrs auf die heutige Welt zu blicken.
Einfache historische Analogschlüsse verbieten sich dabei natürlich. Die komplexen Fragen eines geteilten Deutschlands, denen sich Brandt und Bahr gegenüber sahen, sind ja auch heute glücklicherweise beantwortet – eben auch ganz maßgeblich wegen der Politik des Wandels, der durch Annäherung und eben nicht durch Konfrontation gefördert wurde.
An ihre Stelle sind heute naturgemäß neue, andere Herausforderungen getreten. Um zu verstehen, was gerade in unserer unübersichtlichen Welt passiert, hilft uns der durchdringende Blick Egon Bahrs ungemein. Denn erstens hat Egon Bahr den Realitäten unerschrocken ins Auge geblickt. Er hat eben nicht den Wunsch, sondern die Wirklichkeit zur Grundlage seiner Politik gemacht. Und zweitens hat er daraus unbeirrt die politischen Konsequenzen gezogen.
Wenn wir die Veränderungen in der Welt wirklich verstehen wollen, müssen wir zunächst unsere eigenen Messinstrumente justieren. Denn diese sind teilweise, so scheint mir, noch mehr auf das Wunschdenken geeicht, denn auf die Abbildung der Wirklichkeit.
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Meine Damen und Herren,
wir als Deutsche, wir als Europäer müssen erkennen, dass sich tektonische Verschiebungen anbahnen. Dass eine Neuvermessung der Welt im Gange ist. Und dass diese Verschiebungen nicht automatisch zur Folge haben werden, dass Europa als der Gewinner aus diesen globalen Entwicklungen hervorgeht. Das jedenfalls meine ich mit Wunschvorstellungen, die wir ablegen müssen.
Was meine ich konkret, wenn ich von einer Neuvermessung der Welt spreche?
Die Verschiebungen sind ja überall sichtbar. Asien, Lateinamerika, Afrika wächst, Europa hingegen schrumpft. Über Jahrzehnte hinweg haben wir Asien, allen voran China, als Absatzmarkt für unsere Waren verstanden, als preiswerte Produktionsstätten. China ist längst auf dem Weg zum Technologieexporteur. Heute müssen wir erkennen: asiatische Staaten sind nicht nur Handelspartner, sie sind längst zu Mitbewerbern geworden. Wirtschaftlich ohnehin, und auch mit dem, für mich völlig nachvollziehbaren Wunsch, unsere globalisierte Welt auch politisch mitgestalten zu wollen.
Ein weiteres Feld ist die Rolle Russlands. Der Blick auf Moskau von Egon Bahr war immer besonders scharf – er hat die Interessenslage der damaligen Sowjetunion genauestens vermessen. Da müssen wir heute erkennen, dass Russland sich ein „post-westliches“ Zeitalter herbeisehnt, nach Außen zunehmend auch aggressiv seine Interesse verfolgt und nach Innen die Freiheit Andersdenkender einschränkt. Das dürfen wir nicht unter den Teppich kehren. Im Gegenteil, wir müssen dies offen thematisieren. Und gleichzeitig müssen wir – im Bahr'schen Sinne illusionsfrei – nach Kooperationsmöglichkeiten suchen. Das war ja das Besondere von Bahr und Brandt. Es war völlig klar, wie ihre eigene politische Position war. Es war völlig unbestritten, dass sie dem westlichen Bündnis angehörten. Dass sie Freiheit und Demokratie und Menschenrechte als universelle Werte erachteten. Und dass denen, mit denen sie verhandelten, völlig andere Vorstellungen für das Zusammenleben der Menschen gegeben waren. Und trotzdem, aus einem festen Standpunkt heraus haben sie Kooperationsmöglichkeiten dort ausgelotet, wo stabile Lösungen nur mit Moskau und nicht gegen Moskau möglich waren. Das ist heute nicht anders. Das betrifft natürlich den Konflikt in der Ukraine, aber auch die Konflikte in Syrien, in Libyen und in anderen Teilen der Welt. Denn auch hier zitierte ich Egon Bahr: „Russland ist unverrückbar“. Übrigens gilt das für alle Nachbarn, die man hat. Und wir Europäer haben in der Regel nur einen wirklich unproblematischen Nachbarn. In der Arktis, am Nordpol, die Eisbären. Russland, Türkei, Nordafrika sind alles unsere Nachbarn. Und auch dabei gilt, dass wir aufpassen müssen, dass man nicht Wunschdenken als Primat der Politik voraussetzt. Und man sich darüber im Klaren ist, dass hier nur Wandel durch Annäherung möglich ist, und nicht Annäherung durch Wandel eine erfolgsversprechende Formel ist. Und ich sehe keinen anderen Weg, als zu versuchen, mit diesen Nachbarn nach Feldern der Zusammenarbeit zu suchen.
Egon Bahr hilft uns auch das einzuordnen, was wir in den Vereinigten Staaten an Verschiebungen beobachten. „Die Rücksichten“, schreibt Egon Bahr über die USA, „sind zeitlich taktisch begrenzt. Die Rücksichten gegenüber der NATO sind praktisch eingeschränkt. Die Rücksichten gegenüber der UN sind darauf reduziert, ob diese Organisation zum Instrument amerikanischer Ziele gemacht werden kann. Die Rücksicht auf Europa scheint nun wirklich das Geringste, um das Washington sind Sorgen muss.“
Das klingt nach einer brandaktuellen Einschätzung. Egon Bahr hat diese Analyse jedoch schon vor mehr als zwanzig Jahren verfasst, als Donald Trump noch primär den Zuschauern von „The Apprentice“ bekannt war…
Angesichts dieser amerikanischen Haltung, die nicht neu ist, aber die jetzt deutlicher zu Tage tritt, reicht die Beschwörung der Vergangenheit, die Beteuerung unserer gemeinsamen Werte nicht aus. Sie ist wichtig – aber wir brauchen eine neue europäische Haltung, die uns den Weg in die Zukunft der transatlantischen Beziehungen weisen kann.
Zu einer klaren, schonungslosen Analyse gehört auch die Einsicht, dass wir als Europäer den Wechsel von der alten zu der neuen, sich stets verändernden Weltordnung noch nicht geschafft haben. Und das ist nicht als Anklage gemeint. Denn es stimmt ja: Die Europäische Union ist nicht als ein weltpolitischer Akteur konzipiert worden. Sie sollte Frieden und Wohlstand für ihre Mitglieder schaffen.
Was wir aber nicht geschafft haben, ist zu lernen, wie wir mit der Realität der Krisen und Kriege in unserer Nachbarschaft außerhalb der EU erfolgreich umgehen.
Gleichzeitig müssen wir auf einen weiteren Punkt achten: er betrifft eine Entwicklung im Innern Europas. Wir erleben, was man ohne Übertreibung als Vertrauenskrise beschreiben kann. Statt einer Annäherung in Europa, sehen wir jeden Tag neue Entwicklungen des Auseinanderdriftens.
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All dies, meine Damen und Herren, sind „Neuvermessungen“, denen wir Europäer uns stellen müssen. Und auch dabei hilft uns Egon Bahr. Denn Egon Bahr war nicht nur ein brillanter Analytiker der internationalen Politik. Er hat sich, und das beeindruckt mich immer wieder, von den „Realitäten nicht lähmen lassen“. Er hat das Machbare ausgelotet. Hat die politischen Folgerungen konsequent gezogen, auch wenn sie „rasend unbequem“ waren, wie er es in Tutzing gesagt hat.
Ich glaube, meine Damen und Herren, dass wir heute in Europa genau diese Mentalität brauchen. Furchtlos auf die Entwicklungen der Welt zu schauen. Und mögliche Verbesserungen auszuloten.
Denn wenn wir als Europäer in einer sich wandelnden Welt weiterhin eine prägende Rolle spielen wollen, dann müssen wir uns selbst wandeln, ein starkes und verantwortungsbereites Europa entwickeln. Und vor allem die Erzählungen über Europa ändern, gerade auch in unserem Land.
Seit Jahrzehnten ist die herrschende Interpretation Europas, besonders wenn man kurz vor Wahlkämpfen steht, auch in diesem Land, dass Deutschland der Lastesel der Europäischen Union sei, dass wir die Nettozahler seien. Es ist schlicht und ergreifend das Gegenteil von dem, was Realität ist. Das ist eine falsche Erzählung über die Rolle Deutschlands in Europa. Und so hat fast jeder Mitgliedstaat in Europa eigene Narrative entwickelt, die im Kern immer nationale Erzählungen geblieben sind. Und ich glaube, dass wir gerade bei uns anfangen müssen bevor wir über Instrumente reden, diese Erzählungen zu verändern. Schlicht und ergreifend die Wahrheit zu sagen. Nämlich, dass wir die großen Gewinner der europäischen Einheit sind. Nicht nur politisch, durch die Wiedervereinigung. Sondern ganz hart im Alltag, ökonomisch. Man wird nicht Europameister oder Weltmeister im Export, ohne dass es mehr Güter gibt, die dieses Land verkauft, als umgekehrt. Und übrigens nur dann, wenn die anderen so wohlhabend sind, dass sie sich unsere Güter leisten können, nur dann gibt es Arbeitsplätze in diesem Land. Autos, Maschinenbau, Stahl, Elektrotechnik wird bei uns nicht im Billiglohnsektor hergestellt, sondern Gott sei Dank relativ teuer. Ich gebe zu, auch ziemlich gut. Also in allen Beziehungen, politisch, wirtschaftlich kulturell, was den Frieden, was den Wohlstand angeht, hängen wir von der Weiterentwicklung Europas ab.
Und die zweite Geschichte, die wir erzählen müssen, ist, und hier sitzen ja sehr viele junge Leute im Publikum, eigentlich geht es ja um sie, dreht sich um die nächsten Generationen. Wenn sie in unserem Alter sind, dann werden sie in dieser Welt nur dann eine Stimme haben, wenn es eine gemeinsame europäische Stimme ist. Denn selbst das starke Deutschland würde in dieser Welt kein Gehör finden. Nur dann, wenn es eine europäische Stimme bleibt, haben wir Teil an den Entscheidungen, nur dann sind wir Teil der internationalen Staatengemeinschaft
Das Europa, über das wir jetzt reden, ist das Europa unser Kinder und Enkelkinder. Die werden uns verfluchen, wenn das, was unter viel schwierigeren Bedingungen nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut worden ist, nicht weiter entwickeln. Und es muss verdammt schwierig gewesen sein, nach dem Zweiten Weltkrieg.
Wenn ich von den vielen Problemen höre, wenn es darum geht Europa zu erklären und umzusetzen, dann frage ich mich manchmal, wie schwer muss es gewesen sein, für Franzosen, für Dänen, für Belgier, für Luxemburger, für Niederländer, für Italiener, relativ kurz nach dem Zweiten Weltkrieg ausgerechnet uns Deutsche an den Tisch einzuladen und ein gemeinsames Europa aufzubauen? In diesen Ländern muss es nicht nur großes Verständnis gegeben haben, denn die Deutschen waren noch kurz zuvor brandschatzend und mordend durch ihre Länder gezogen. Und ausgerechnet diese Länder laden uns ein, zurückzukehren an den Tisch zivilisierter Völker. Das muss ungeheuer schwer gewesen sein. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass die Bevölkerungen dieser Länder ihren Politikern besonderen Beifall dafür gezollt haben.
Die Schwierigkeiten damals waren also weit größer als heute. Deswegen glaube ich, dass wir als Deutsche eine besondere Verantwortung tragen, weil wir wissen, dass dieses Projekt gerade für unsere Kinder und Enkelkinder von großer Bedeutung sein wird. Weil wir wissen, dass es das größte Zivilisationsprojekt des 20. Jahrhunderts ist und es auch im 21. Jahrhundert immer noch ist. Es gibt keine Region in der Welt, in der man so frei, so demokratisch, und so sicher leben kann, wie in Europa. Das glaube ich, ist die geänderte Erzählung, die wir auch gerade in unserem Land erzählen müssen.
Und ich finde übrigens auch, dass wir den Verlockungen, die mal aus Washington, mal aus Moskau, mal aus Peking auf uns zukommen, nicht zu oft erliegen sollten. Die immer uns ansprechen, wenn es um Europa geht, dass wir die Führung übernehmen sollten. Europa besteht nicht aus einem Land, und die anderen kommen hinterher. Sondern Europa besteht aus vielen kleinen Ländern, die gleichberechtigt sind, aus vielen mittleren, und zugegebenermaßen auch aus dem relativ großen Deutschland. Ja, Deutschland hat Verantwortung, ist Stabilitätsanker für viele andere auch. Und die wollen wir auch wahrnehmen. Am Ende des Tages reicht es aber nicht mit Deutschland auszukommen. Denn Europa besteht aus allen, die dabei sind. Wenn es nach mir ginge, 28 Staaten, jetzt werden es einmal 27 sein.
Und in Europa diskutieren wir Fragen, bei denen Egon Bahr sicherlich aufgeschrien hätte. Nämlich dann, wenn wir nicht mehr über Abrüstung reden, sondern über eine Aufrüstungsspirale. Nicht nur bei uns, sondern natürlich auch in Russland. Was sich dort rund um die baltischen Staaten abspielt, ist durch nichts zu rechtfertigen. Aber eben dagegen aufzustehen, und es nicht hinzunehmen, das ist das, was Egon Bahr von uns fordern würde. Und übrigens ich bin mir auch nicht so sicher das die, die jetzt von Deutschland erwarten, dass wir unsere Militärausgaben verdoppeln in acht Jahren, dass die sich in ein paar Jahren noch darüber freuen würden. Eine militärische Macht in der Mitte Europas aufzubauen - so hab ich das Vermächtnis Bahrs jedenfalls nicht verstanden. Eher das Gegenteil.
Die Tutzinger Rede, und auch viele andere Reden von Egon Bahr, geben uns in ganz unterschiedlichen Formen Wegweisungen. Erstens, immer wieder Wandel durch Annäherung. Auf den anderen zuzugehen und nicht darauf zu warten, dass sich der andere ändert. Zweitens die Gewissheit zu haben, dass dieses Aufeinanderzugehen Erfolge haben wird. Nicht zu wissen wann, aber die Gewissheit zu haben, dass es kommen wird. Und drittens immer wieder den Mut zu haben, Visionen über das friedliche Zusammenleben unserer Völker hier auf unserem Kontinent zu entwickeln. Und denen zu folgen.
Egon Bahr zeigt uns viele Wege mit den heutigen Herausforderungen umzugehen. Auch dadurch, dass er, früher und radikaler als andere, das Blendwerk autoritärer Staaten weggerissen hat. „Die Mauer“, sagt er, „ist ein Zeichen der Schwäche“, „ein Zeichen der Angst“. Auch dieser Gedanke sollte uns Vertrauen darin geben, nicht zu viel auf die Muskelspiele der vermeintlich Starken zu schauen. Sondern lieber angstfrei und voller Zuversicht für unsere liberalen, offenen und demokratischen Gesellschaften kämpfen.
„Denn sonst“, sagt Egon Bahr in seiner großen Tutzinger Rede, „müssen wir auf Wunder warten, und das ist keine Politik.“
Vielen Dank!