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„Die Stärkung Europas ist die richtige Antwort“
Außenminister Sigmar Gabriel im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen (16.02.2017).
Außenminister Sigmar Gabriel im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen (16.02.2017).
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Herr Minister, mit welchem Namen verbindet sich die größte außenpolitische Herausforderung für Deutschland: Trump, Putin, Le Pen, China, der „Islamische Staat“?
Mit Europa. Alle diese Namen zeigen doch nur, dass wir in der Welt von heute und erst recht der von morgen nur als geeinter Kontinent mitreden und mitbestimmen können. Wir sind zurzeit nicht stark genug. Die historische Herausforderung ist, ein neues, ein stärkeres Europa zu schaffen. Sonst werden wir weder von Herrn Trump und Herrn Putin ernst genommen noch von China. Und auch Frau Le Pens Propaganda lebt von der Schwäche Europas.
Kann es dabei bleiben, dass wir auch ein „ever closer Europe“ schaffen wollen, ein Europa, das sich fortschreitend integriert?
Jedenfalls nicht in dem Sinne, dass wir alle Bereiche der Politik vergemeinschaften und sämtlich in Brüssel entschieden werden. Das Brexit-Votum der Briten hat das uns das in aller Klarheit vor Augen geführt. Auch anderswo halten viele aus guten Gründen den Drang zum europäischen Mikromanagement für verfehlt.
Es geht weniger um „mehr Europa“, es geht um ein anderes, stärkeres, besseres Europa. In Wirklichkeit gibt es längst ein Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten. Die Eurozone z.B. oder die gemeinsamen Außengrenzen des Schengen-Raums. Nicht alle Mitgliedsstaaten der EU nehmen daran teil. Und in beiden Bereichen brauchen wir dringend mehr Zusammenarbeit und gegenseitige Verantwortung. Vor allem in der Währungsunion. Es gibt aber auch darüber hinaus Spielräume für eine engere Zusammenarbeit, bei der zunächst eine Gruppe vorangehen kann, allen voran bei den Fragen, wo die Nationalstaaten alleine sicher keine guten eigenen Lösungen mehr finden können. Europa wird überall dort gebraucht, wo nationale Souveränität durch die dramatischen Veränderungen in der Welt längst zu einer Illusion geworden sind. Europa soll uns durch gemeinsames Handeln diese Souveränität zurück geben.
Auf welchen Feldern ist das noch möglich? Was tut not?
Erstens eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Wir haben zu lange geglaubt, dass unsere Art zu leben am besten von den Amerikanern verteidigt wird und man ansonsten mit den zweifelhaften Händeln in dieser Welt nichts zu tun haben will. Und dann haben wir die Amerikaner dafür kritisiert, wie sie das gemacht haben. Viele haben sich so gemütlich eingerichtet. Diese Zeiten sind aber unweigerlich vorbei. Wir müssen selber bestimmen, wie wir unsere Interessen und Werte verteidigen, was unsere Aufgabe in dieser unruhigen, krisenbeladenen Welt ist, in der uns vieles nicht gefällt. Um nur ein kleines Beispiel zu nennen: Es darf eben nicht mehr passieren, dass im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen europäische Mitgliedsstaaten unterschiedlich abstimmen.
Zweitens den Schutz der europäischen Außengrenzen. Gerade in Deutschland wurde das lange abgelehnt mit dem Argument, Grenzschutz sei eine nationale Zuständigkeit. Wir brauchen aber eine europäische Grenzsicherung, als Kombination aus nationalen und gemeinschaftlichen Aufgaben, und das dringend. Damit zusammen hängt übrigens auch eine gemeinsame Flüchtlings- und Migrationspolitik.
Drittens müssen wir in Europa bei der inneren Sicherheit mehr und besser zusammenarbeiten. Nicht nur gegen Terroristen, sondern auch gegen organisierte Kriminalität.
Viertens die Stärkung unserer Wettbewerbsfähigkeit und des Wachstums durch Investitionen in Bildung und Forschung und unsere öffentliche Infrastruktur. Dazu gehört ganz sichere auch eine gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik in der Eurozone.
Und fünftens geht es darum, aus einem reinen Binnenmarkt eine soziale Marktwirtschaft zu machen. Dazu gehört z.B. auch die Bekämpfung des Steuer- und Sozialdumping. Jaques Delors hat einmal gesagt „Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt“. Heute merken wir, wie Recht er hatte, denn wenn Arbeitnehmer zu unfairen Bedingungen in gegenseitige Konkurrenz geschickt werden, muss man sich nicht wundern, dass sie sich von Europa abwenden.
Gibt es denn überhaupt noch genügend politische Gemeinsamkeiten in Europa, um dies alles zu erreichen? Daran muss man doch inzwischen starke Zweifel haben.
Druck von außen kann da sehr heilsam sein: Ein offensiv agierendes Russland, Krise, Konflikt und Instabilität im Süden und Südosten, und jetzt ein Amerika, bei dem wir nicht mehr sicher sein können, wie es noch zur transatlantischen Partnerschaft steht. Das hat das Bewusstsein dafür wachsen lassen, dass wir unser Schicksal nun schon selber in die Hand nehmen müssen. Europa besser zu machen und zu stärken, liegt in unserem eigenen Interesse. Wir machen es nicht, weil die USA Druck auf uns ausüben, sondern weil wir es wollen und selbst brauchen. Sonst werden wir in der Welt von morgen als Europäer nicht mehr wahrgenommen.
Welche Anzeichen sehen Sie für einen neuen Willen zur Gemeinsamkeit?
Der Vorschlag aus Warschau, Europa solle sich eine nukleare Streitmacht zulegen, ist weit weg von jeder Wirklichkeit. Aber streichen Sie doch mal das Wort „Nuklear“! Dass in Polen ernsthaft darüber nachgedacht wird, Europas Verteidigungsfähigkeiten zu stärken, zeigt die dramatische Veränderung der Lage, und, ja, macht mir Mut. Denn Polen und andere osteuropäische Partner wollten bis sich bis vor kurzem eigentlich nur unter amerikanischen Schutz stellen. Nun hören wir aus Warschau, wir bräuchten eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik. Prag und Bukarest unterstellen nationale Brigaden den Kommandostrukturen der Bundeswehr. Ich war Soldat zu einer Zeit, in der so etwas undenkbar gewesen wäre. Das ist für mich sehr bewegend.
Nach Donald Trumps Wahlsieg wurde schon vom Ende des Westens gesprochen. Teilen Sie diese Befürchtung?
Der Begriff „Westen“ ist keine geographische Kategorie, sondern eine universelle Vorstellung von Freiheit und Demokratie. Die ägyptischen Demonstranten am Tahir-Platz waren näher an der Idee des Westens als die USA mit ihrem Gefängnis in Guantanamo. Wir können uns heute leider nicht mehr so sicher sein, ob sich alle gesellschaftlichen und politischen Kräfte in Amerika noch dieser Idee verpflichtet fühlen.
Für uns bedeutet das umso mehr, dass wir uns von der Idee nicht verabschieden wollen. Das richtige Motto ist: ‘Hoping for the best and preparing for the worst’. Die gute Nachricht ist, dass alles, was wir für den schlechten Fall tun, uns auch für den besten Fall helfen wird. Denn ein stärkeres Europa wird mit einer USA, die sich den westlichen Werten weiter verpflichtet fühlt, die aber nicht die Führungsmacht bleiben kann und will, auch eine neue Partnerschaft eingehen können. Eine Partnerschaft auf Augenhöhe mit gemeinsamer Verantwortung statt bloßer Gefolgschaft.
Was bliebe vom Westen ohne seine Führungsmacht?
Europa käme auch durch eine nur zeitweise Abkehr Amerikas in echte Bedrängnis. Aber es bedeutet doch nicht, dass wir uns auch von der Idee des Westens verabschieden. Wendet Amerika sich ab, zwingt es Europa, das zu tun, was wir längst hätten tun sollen. So oder so: Die Stärkung Europas ist die richtige Antwort.
Um zu dieser Einsicht zu kommen, musste erst ein Donald Trump amerikanischer Präsident werden?
Aber das ist doch nur menschlich. Wenn die Dinge einigermaßen gut laufen, hält sich die Veränderungsbereitschaft in Grenzen. Die Wahrheit aber ist, dass schon Barack Obama sich von der traditionellen Form transatlantischere Partnerschaft abgewandt hatte. Er sprach als erster amerikanischer Präsident davon, dass die USA eine pazifische Nation sei und eben keine transatlantische mehr. Die für uns bequeme Nachkriegsordnung endet. In ihr lag die Führungs- und die Sicherheitsverantwortung bei den USA. Nun wird sie zunehmend bei uns Europäern selbst liegen.
Welche Lehren sollten die deutsche und die europäische Politik aus Trumps Wahlsieg ziehen?
Erstens: Die politische Auseinandersetzung darf nicht so geführt werden, wie wir das in Amerika erlebt haben. Hart in der Sache, ja. Aber doch nicht ohne Respekt auch für den politischen Gegner. Ein solches Maß an Verachtung, Verleumdung und Niedertracht dürfen wir bei uns nicht zulassen.
Zweitens: Wer die Arbeiter im „rust belt“ verliert, dem helfen die Hipster in Kalifornien auch nicht. Der Wille, kulturell auf der Höhe der Zeit zu sein, darf nicht dazu führen, die ganz normalen Interessen der ganz normalen Leute aus dem Blick zu verlieren. Diese Gefahr besteht auch in Deutschland. Schon zwischen Stadt und Land gibt es eine wachsende kulturelle Kluft.
Ist das der Boden für Populisten?
Trump ist das Ergebnis einer politischen Entwicklung in den Vereinigten Staaten. Nicht ihre Ursache. Wenn man nicht aufpasst, bekommen viele Menschen den Eindruck, dass sie in einer Gesellschaft im Diskurs der liberalen Eliten nicht mehr gehört werden. Und wenn sie dann auf sich aufmerksam machen wollen, dann zeigen sie bei Wahlen, was man so machen kann. Die Botschaft ist dann: ‚Uns gibt es auch noch!‘ Dafür muss man nicht links- oder rechtsradikal sein. Wir dürfen diese Leute nicht verlieren und uns in liberalen Elitendialogen selbst genug sein. Wir müssen darauf achten, dass alle Teile der Gesellschaft spüren, dass demokratische Politik sie im Blick hat. Und dass demokratisches Engagement die Dinge für alle zum Besseren wenden kann.
Fürchten Sie, dass die Handelspolitik das eigentliche Konfliktthema zwischen Amerika und Europa wird?
Wir wissen letztlich noch nicht, ob sich die neue US-Administration von Interessen oder von Ideologie leiten lässt. Wenn es um Interessen geht, werden wir uns verständigen können. Strafzölle würden wichtige Teile der amerikanischen Wertschöpfungsketten belasten. Das ist für den amerikanischen Verbraucher ebenso schlecht wie für die amerikanische Industrie. Wenn es aber um Ideologie geht, dann wird es schwierig. Dann geht es nicht um Interessenausgleich, sondern um Freund-Feind-Denken. Wenn sich die USA dauerhaft nationalistisch und ethnisch homogen definieren wollte, dann muss Europa als ihr Gegner erscheinen. Denn Europa ist aus den genau entgegengesetzten Gründen gegründet worden: Gegen nationale Vorherrschaft und für kulturelle und ethnische Vielfalt.
Mit welchen Ergebnissen kamen Sie aus Washington zurück?
Mit Vizepräsident Pence, Außenminister Tillerson und im Senat haben wir gute Gespräche geführt, die mich ermutigt haben. Wir sollten nicht unterschätzen, dass die Gewaltenteilung tief verankert ist im amerikanischen Verfassungsdenken. Es gibt ja nicht nur Gerichte, sondern auch einen selbstbewussten Kongress. Wir sollten nicht so tun, als würde gerade die Demokratie in Amerika auf Dauer außer Kraft gesetzt werden.
Der Kanzlerkandidat der SPD, Martin Schulz, warf Trump vor, er gehe mit der Abrissbirne gegen unsere Grundwerte vor. Ihr Vorgänger Steinmeier, der künftige Bundespräsident, nannte Trump einen „Hassprediger“. Wird die SPD im Wahlkampf der Verlockung widerstehen können, den Antiamerikanismus in Deutschland auf ihre Mühlen zu lenken? Ihr Geschäft als Außenminister würde so erschwert.
Wenn es bereits Antiamerikanismus wäre, den Wahlkampf und mancherlei Äußerungen des Trump-Lagers zu kritisieren, dann wäre ja die Hälfte der Bürger der USA antiamerikanisch. Denn sie kritisieren die Entwicklung in ihrem Land ja weit härter als wir es tun.
Welche Gefahren gehen von Trumps Triumph für Europa aus?
Nichts ist von Dauer, hat Willy Brandt einmal gesagt. Das gilt leider auch für die Demokratie. Sie will immer wieder neu gesichert werden. Und die Gefährdungen gehen nicht zuallererst von den USA aus. In Frankreich gibt es ernstzunehmende Befürchtungen, dass Marine Le Pen in die Stichwahl um das Amt des französischen Präsidenten einziehen wird. Der Front National hat sich das Ziel gesetzt, Europa zu zerstören. Das ist zu einer realistischen Gefahr geworden. Leider.
Was wollen Sie dagegen tun?
Wir müssen einander in Europa wieder besser zuhören und solidarischer miteinander umgehen. Wenn Frankreich die europäischen Sicherheitsinteressen verteidigt und seine Ausgaben für den Einsatz in Mali im Gegenzug auf die Maastricht-Kriterien anrechnen möchte, sollte das nicht gleich in Bausch und Bogen verdammt werden. Vor allem nicht von Deutschland. Wer zu dieser Art von europäischer Lastenteilung Nein sagt, muss sich jedenfalls nicht wundern, wenn er selbst vergeblich auf eine faire Flüchtlingsverteilung drängt.
Nicht ganz wenige empfinden Deutschland als Lehrmeister, der selbst bei Kleinigkeiten nicht nachgibt, aber selbst Solidarität einfordert, wenn es um eigene Interessen geht. Natürlich gibt es gute Gründe, auf Stabilitätskriterien zu achten. Ich glaube aber, dass wir an einem Punkt sind, wo wir weit mehr aufeinander zugehen müssen.
Wäre die EU am Ende, wenn Le Pen gewählt würde?
Geschichte hat kein Ende. Auch im hoffentlich unwahrscheinlichen Fall einer Wahl Le Pens würde die Idee der Europäischen Einigung ja nicht verschwinden, ja vielleicht sogar wiederbelebt werden. Aber ohne Frankreichs Engagement ist Europa sicher auf Dauer nicht vorstellbar. Und zuallererst würden es die Franzosen selbst zu spüren bekommen. Denn die Folgen einer so großen Verunsicherung über die Zukunft Europas wären natürlich Kapitalabfluss, fehlende Investitionen und Massenarbeitslosigkeit. Und wer schwächer ist, den trifft das zuerst.
Aber ohne die Briten geht es?
Ich bedaure den Brexit sehr – und rate zu zweierlei: In der Außen- und Sicherheitspolitik sollten wir alles tun, die Briten so eng wie möglich an Europa zu halten. Und im Binnenmarkt könnte ich mir eine privilegierte Partnerschaft vorstellen. Dafür gibt es allerdings eine Grenze: niemand, der in der EU ist, darf dadurch verführt werden, auszusteigen.
Zurück zu den Stabilitätskriterien und dem deutschen Lehrmeister: Sie halten Wolfgang Schäuble vor, seine Politik gegenüber Griechenland nehme einen Grexit in Kauf. Wird Athen wieder zum zentralen Thema des Bundestagswahlkampfes?
Ich glaube, auch der Union, allen voran der Bundeskanzlerin, ist klar, dass eine abermalige Debatte über ein Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone das Letzte ist, was wir jetzt brauchen. Amputationen sind keine besonders attraktive Behandlungsmethode. Ich glaube, dass auch die deutschen Konservativen kein Interesse daran haben, die damit verbundenen Gefahren heraufzubeschwören. Schon jetzt wird wieder gegen den Euro gewettet, die Spreads steigen. Das ist sicher nicht in unserem Interesse.
Glauben Sie, dass Martin Schulz mit dem Plädoyer für einen Schuldenschnitt die deutschen Interessen vertritt?
Von einem Schuldenschnitt spricht zunächst einmal der Internationale Währungsfonds. Er bezweifelt, dass die Vorstellungen Brüssels zur Entschuldung Athens realistisch sind. Zu verlangen, dass Griechenland über einen Zeitraum von zehn Jahren einen jährlichen Haushaltsüberschuss von 3,5 Prozent generieren müsse, ist Voodoo-Ökonomie.
Die EU spielte im Syrien-Konflikt noch weniger eine Rolle als Amerika. Die Konsequenzen dieses jahrelangen Blutbades haben wir aber direkt in der Flüchtlingskrise zu spüren bekommen. Und Putin hat sich, wie in der Ost-Ukraine, nun auch in Syrien eingegraben. Muss Deutschland künftig mehr als nur symbolisch in derartige Konflikte eingreifen?
Die Türkei hat schon vor Jahren Flugverbotszonen für Syrien gefordert. Ich habe zu den wenigen in der SPD gehört, die sagten, dass wir das mindestens einmal durchdenken sollten. Das galt vielen schon als zu weitgehende Einmischung. Wir werden lernen müssen, dass es viele Dinge gibt, die uns nicht gefallen, die aber nun mal da sind. Wenn wir nicht wollen, dass in wichtigen Fragen über unsere Köpfe hinweg von anderen – wie Russland in Syrien – harte Fakten geschaffen werden, dann müssen wir letztendlich auch bereit sein, selber mehr einzugreifen als es bislang vorstellbar war. Das ist kein Plädoyer, den amerikanischen Interventionismus durch einen europäischen zu ersetzen. Im Gegenteil: Ich glaube überhaupt nicht daran, immer gleich auf militärische Interventionen zu setzen. Und trotzdem kann es Ausnahmesituationen geben, in denen es richtig ist, mehr zu tun. Wie bei der Bewaffnung der kurdischen Peschmerga zum Schutz vor den Angriffen des Islamischen Staates. Darüber müssen wir mit der deutschen Öffentlichkeit reden.
Haben Sie einen Plan für Syrien?
Wir Europäer sollten alles dafür tun, damit aus den Verhandlungen in Astana eine Rückkehr in den Genfer Prozess unter dem Dach der Vereinten Nationen erfolgt. Deshalb wollen wir morgen in Bonn am Rande des G20-Treffens mit Gleichgesinnten zusammentreffen. Der UN-Sonderbeauftragte Staffan de Mistura hat bekanntgegeben, dass er für die nächste Woche zu Friedensgesprächen nach Genf einladen ist. Die Opposition scheint besser vorbereitet als noch vor wenigen Monaten. Das ist ein Hoffnungsschimmer, denn ohne eine politische Einigung zwischen Regime und Opposition kann es keinen Frieden geben. Bei Separatabkommen, bei denen nicht alle relevanten Spieler mit am Tisch sitzen, besteht immer die Gefahr, dass einige Konfliktparteien die Vereinbarungen hintertreiben.
Was ist Russland für Sie: Partner, Konkurrent, Gegner?
In erster Linie unser Nachbar, ob manche das wollen oder nicht. Schon deshalb müssen wir großes Interesse an einer Partnerschaft mit Russland haben. Aber die darf natürlich nicht naiv sein. Übrigens ist ein stärkeres Europa nicht nur für unser Verhältnis zu den USA wichtig, sondern gerade auch wegen Russland. Auch dort werden wir nur ernst genommen, wenn wir zusammen halten, selbstbewusst und stark sind.
Was heißt das konkret in der Sanktionsfrage?
Zunächst einmal: Im Normandie-Prozess hat Europa in einer Frage von weltpolitischer Bedeutung eigene Verantwortung übernommen. Amerika war kurz davor, Waffen in die Ukraine zu liefern. Es war eine große emanzipatorische Leistung Europas – vertreten durch Deutschland und Frankreich – genau das durch das Abkommen von Minks zu verhindern. Erstmals haben wir Europäer einen drohenden Konflikt in eigener Verantwortung eingedämmt.
Deshalb ist es allerdings auch frustrierend, dass Kiew und Moskau seit Monaten keinen Weg finden, um die Verabredungen des Minsker Abkommens umzusetzen. Was heißt das? Einerseits wird Europa sein Versprechen halten müssen, der Ukraine über einen längeren Zeitraum auf die Beine zu helfen. Andererseits wird Europa Moskau deutlich machen müssen, dass Partnerschaft nur funktioniert, wenn Russland alle Versuche unterlässt, Europa mit Hilfe eines Konfliktherds im Osten zu spalten. Erst mit der Umsetzung von Minsk kann man dann die Sanktionen abbauen.
SPD-Fraktionschef Oppermann hat sich für die Errichtung von Aufnahmelagern für Flüchtlinge noch in Afrika ausgesprochen. Tunesien lehnt das ab, Libyen ist ein „failed state“. Was soll die EU tun, wenn die Flüchtlingszahlen auf dem Mittelmeer wieder steigen?
Thomas Oppermann hat einen Plan vorgelegt, den man nicht auf einen einzelnen Punkt reduzieren kann. Wir kriegen die Migrations- und Flüchtlingsbewegungen nicht mit der einen oder anderen Einzelmaßnahme in den Griff, sondern müssen an ganz vielen Stellen gleichzeitig ansetzen.
Das fängt bei der Unterstützung und – wo notwendig - Stabilisierung der Herkunfts- und Transitländer an und hört bei einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik noch lange nicht auf. Und bevor wir in Libyen etwas machen können, muss es dort einen handlungsfähigen Staat geben, der tatsächlich die Rechte von Flüchtlingen und Migranten schützen kann. Eine Übertragung des Abkommens mit der Türkei, bei dem übrigens der Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen das Qualitätssiegel erteilt, ist aktuell jedenfalls weder mit Tunesien noch mit Libyen möglich. Tunesien würden wir destabilisieren, in Libyen dagegen herrschen Zustände, die niemand verantworten könnte.
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Interview: Klaus-Dieter Frankenberger, Berthold Kohler und Majid Sattar.