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Welches Europa wollen wir?

20.01.2017 - Interview

Interview des Sprechers des Auswärtigen Amts, Martin Schäfer, zur am 23. Januar in Schwerin stattfindenden Diskussionsveranstaltung „Welches Europa wollen wir?“ . Erschienen in der Schweriner Volkszeitung (20.01.2017).

Interview des Sprechers des Auswärtigen Amts, Martin Schäfer, zur am 23. Januar in Schwerin stattfindenden Diskussionsveranstaltung „Welches Europa wollen wir?“. Erschienen in der Schweriner Volkszeitung (20.01.2017).

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Die Welt ist aus den Fugen und Europa in einer Sinnkrise. Was treibt Sie, ausgerechnet zu diesem Nicht-Gewinner-Thema das Gespräch mit dem Bürger zu suchen?

Krieg und Unordnung waren für uns in Deutschland lange weit weg, Frieden in Europa schien selbstverständlich. Wie hat sich das in wenigen Jahren verändert: Europa ist in Bedrängnis geraten – und das merken die Menschen auch bei uns. Krisen und Konflikte sind nahe an uns herangerückt: in der Ukraine, im Nahen Osten, in Nordafrika, wir erleben Migrationsströme und islamistischen Terrorismus. Zugleich drohen Gefahren von innen: Populisten, die das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen und die Dinge unzulässig vereinfachen, sind im Aufwind, auch bei uns. Umso wichtiger ist es, dass wir den Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern suchen. Wir wollen darüber sprechen, welche Lösungen wir finden können und was uns in Europa zusammenhält.

Erst die Bankenrettung, dann das Griechenland-Drama, dann die Flüchtlingskrise: Viele Deutsche hatten das Gefühl, für Verfehlungen anderer EU-Mitglieder bezahlen zu müssen. Was halten Sie denen entgegen?

Deutschland ist das größte Land in der Europäischen Union, und in diesen schwierigen Zeiten auch das stärkste und stabilste. Das bringt Verantwortung mit sich. Und alle schauen auf uns. Aber Deutschland ist auch das Land, das bis heute am meisten vom europäischen Einigungsprozess profitiert. Bei allen Schwierigkeiten ist es uns immer gelungen, gemeinsame, europäische Lösungen zu finden. Das sind häufig Kompromisslösungen, ein Geben und Nehmen, und ist doch niemals einseitig. Das ist mühsam, manchmal auch ärgerlich, aber allemal besser, als unsere Konflikte mit Gewalt oder gar auf dem Schlachtfeld auszutragen, so wie früher.

Wenn wir die jüngste Eskalation auf dem Balkan betrachten, wo Serbien wegen eines blockierten Personenzuges dem Kosovo mit Militäreinsätzen droht, ist das Schlachtfeld nicht gänzlich ausgeschlossen?

Wer hätte gedacht, dass wir in den letzten beiden Jahren nur mit Mühe einen militärischen Großkonflikt mitten in Europa verhindern konnten? Wir ringen an der Seite Frankreichs darum, zwischen Russland und der Ukraine im Donbass zu vermitteln und jede Eskalation zu verhindern. Auf dem Balkan sind wir in 20 Jahren große Schritte bei der Konfliktbewältigung vorangekommen, aber auch heute gibt es wieder Spannungen. Auch hier gilt: Nur die EU ist in der Lage, auch ehemals erbitterte Gegner immer wieder an einen Tisch zu holen.

Der Grexit wurde abgewendet, den Brexit haben die Briten entschieden. Der neue US-Präsident Trump prophezeit weitere EU-Abtrünnige. Wie stabil ist Europa?

Der Brexit war ein Schock für alle – ich denke, auch für die Briten selbst. Dennoch war schnell klar: Alle verbleibenden 27 Staaten stehen voll hinter der EU als gemeinsamem Friedens- und Freiheitsprojekt. Wenn wir dieses Jahr den 60. Jahrestag der Römischen Verträge im März feiern, wollen wir konkrete Ergebnisse vorzeigen. Außenminister Frank-Walter Steinmeier möchte bewusst aus der politischen Blase in Berlin heraus, das Gespräch mit den Bürgern im ganzen Land suchen, Ideen sammeln – die dann Niederschlag finden in unserer Vision der Zukunft Europas.

In der Russland/Ukraine-Krise hat Europa keine gute Figur gemacht, befand Altkanzler Helmut Schmidt vor seinem Tod. Was hat Europa daraus gelernt?

Russland hat mit der Annexion der Krim nicht nur das Völkerrecht verletzt, sondern auch Grundpfeiler der europäischen Friedensordnung untergraben. Die Bemühungen Frankreichs und Deutschlands, den Konflikt in der Ostukraine zu überwinden, sind aufwändig und langwierig. Immerhin ist es gelungen, den Minsker Fahrplan zu vereinbaren, einen offenen Krieg mitten in Europa zu verhindern und beide Konfliktparteien miteinander im Gespräch zu halten.

Ein Vorwurf an die EU ist, Russland nicht angemessen begegnet zu sein, und sich bei der Ukraine auf zweifelhafte Protagonisten eingelassen zu haben.

Es ist ungemein schwierig, substanzielle Fortschritte hinzubekommen, das Verhältnis zwischen Moskau und Kiew ist schwer belastet. Aber es gibt aus unserer Sicht keine Alternative zu den Minsker Abkommen, so mühsam das auch ist. Deshalb reden wir weiter, mit beiden Seiten.

Die europäische Wertegemeinschaft war schon in der Finanzkrise hart auf die Probe gestellt. In der Flüchtlingskrise hat sie sich nahezu aufgelöst. Kann sich eine derart unsolidarische Staatengemeinschaft von diesem Zerwürfnis erholen?

In Krisenzeiten beweist sich, ob der Zusammenhalt stark genug ist. Das ist wie im richtigen Leben. Finanzkrise und Migrationsströme sind eine große Belastungsprobe. Und es stimmt, dass sich einzelne Staaten weniger solidarisch gezeigt haben als gehofft. Daran arbeiten wir. Wir haben in Rekordzeit auf die Flüchtlingskrise reagiert: Der Schutz unserer Außengrenzen kommt sichtbar voran. Wir arbeiten an der notwendigen europaweiten Angleichung des Asylrechts. Ich bin zuversichtlich, dass alle erkennen, wie sehr wir Europäer eine Schicksalsgemeinschaft sind, die zusammenstehen und unser vielfältiges, tolerantes und freiheitliches Modell zu leben mit aller Kraft verteidigen sollte.

Die EU-Institutionen befinden sich in einer Legitimationskrise: Das EU-Parlament gilt als überbezahlte Abnick-Maschine, die Kommission als demokratisch nicht legitimierte Über-Regierung?

Da geben Sie verbreitete Vorurteile wieder, die ich nicht teile. Als Beobachter vieler Verhandlungen kann ich Ihnen versichern, dass Verhandlungen mit dem EU-Parlament äußerst hart sein können. Die Abgeordneten nicken eben nichts einfach so ab, sondern wollen selbstbewusst mitentscheiden. Und wenn Sie sehen, dass die rund 35 000 Mitarbeiter der EU-Kommission für 500 Millionen Menschen tätig sind, während die Stadt München für rund eine Million Einwohner ebenso viele Mitarbeiter beschäftigt, relativieren sich auch die Zahlen. Dennoch: Europa muss sich in einer neuen Lage, mit einem neuen US- Präsidenten Trump und einem schwierigen Nachbarn Russland, Krisen an seinen Grenzen und den inneren Gefahren von Populismus und Nationalismus, ein Stück weit neu erfinden und das gemeinsame Bewusstsein schaffen, was wirklich die Werte und die Interessen unserer einzigartigen Gemeinschaft ausmachen.

Was verspricht sich das Außenamt vom Bürgerdialog?

Eine rege, streitbare Beteiligung und Anteilnahme an Europa, die uns neue, kreative Ideen bringt, wie wir Europa gemeinsam weiterentwickeln können. Europa hat eine Zukunft, wenn die Menschen in ihrem Europa ihre Zukunft sehen.

Interview: Michael Seidel

www.svz.de

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