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Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier in der Eröffnungssitzung des OSZE-Ministerrates in Hamburg
Meine Damen und Herren,
willkommen zum 23. Ministerrat der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Dass wir uns hier in der Hansestadt Hamburg treffen, kommt nicht von ungefähr. Diese Stadt steht wie wohl kaum ein anderer Ort in Deutschland für Weltoffenheit, Toleranz und Vielfalt. Schon jetzt bedanke ich mich bei ihren Bürgerinnen und Bürger für die Gastfreundschaft. Ich hoffe, dass der Geist dieser Stadt unsere Beratungen beflügeln wird.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen,
unser Jahr auf der Brücke des OSZE-Schiffs neigt sich dem Ende zu: Im Januar sind wir in stürmischen Zeiten gestartet – und der Seegang hat sich seitdem nicht beruhigt. Im Gegenteil: Die Zeiten sind noch rauer geworden – Syrien, Irak, Jemen, Libyen, der noch immer währende Konflikt in der Ukraine. Der Krisenmodus scheint der aktuelle Aggregatzustand der Welt zu sein.
Ich bin überzeugt: Gerade in stürmischen Zeiten wie diesen brauchen wir Strukturen des Dialogs und der Zusammenarbeit. Gerade in diesen Zeiten brauchen wir die OSZE – als Leuchtturm, der uns Orientierung gibt.
Unser Anspruch als Vorsitz war und ist klar definiert: Durch erneuerten Dialog wollen wir dazu beitragen, verloren gegangenes Vertrauen neu aufzubauen, um Sicherheit wieder herzustellen- zwischen Vancouver und Wladiwostok.
Dazu haben wir Bewährtes genutzt, aber auch Neues angestoßen – wie bei unserem informellen Austausch in Potsdam: Meist ging es dabei kontrovers zu, stets aber konstruktiv.
Die OSZE – das sind aber nicht nur der Vorsitz, die Teilnehmerstaaten oder Lamberto Zanniers Team im Sekretariat. Die OSZE-Familie, das ist viel mehr: Das sind die unabhängigen Institutionen, die uns Tag für Tag kritisch und konstruktiv bei der Umsetzung unserer Selbstverpflichtungen bei Menschenrechten, Grundfreiheiten, Demokratie und Rechtstaatlichkeit begleiten. Das sind die Feldmissionen, die einen wertvollen, maßgeschneiderten Beitrag leisten, um den einzelnen Teilnehmerstaat möglichst konkret zu unterstützen. Und das ist die Parlamentarische Versammlung der OSZE, die als demokratisches Rückgrat unseres Systems, gerade bei Wahlbeobachtungen hohes Ansehen genießt.
Eine starke OSZE muss zugleich über den Tellerrand staatlicher Strukturen hinaus denken. Ich denke hier an die Zivilgesellschaft und die Wissenschaft, die uns in der täglichen Arbeit genau auf die Finger schauen. Ich konnte gestern mit den Vertreterinnen und Vertreter der „Civic Solidarity Platform“ sprechen: Tag für Tag streiten mutige Frauen und Männer für den Schutz von Menschenrechten und Grundfreiheiten in unseren Ländern –oft unter schwierigen Bedingungen. Herzlichen Dank für Ihren Einsatz!
Ich denke auch an die Wirtschaft, die einen zentralen Beitrag zur Verbesserung von Konnektivität im OSZE-Raum und darüber hinaus leistet. Vom kleinen Grenzverkehr bis hin zu europaweiten Infrastrukturprojekten: Dieses Potential gilt es zu nutzen, um ein Mehr an Sicherheit zu ermöglichen.
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Meine Damen und Herren,
Vor über 40 Jahren haben wir uns in der Schlussakte von Helsinki zu gemeinsamen Prinzipien und Verpflichtungen bekannt, die das Fundament unserer Zusammenarbeit bilden. Doch dieses Fundament bröckelt: Was sich in unseren Reihen verbreitet, das ist Relativismus, eine geradezu beliebige Auslegung unserer Prinzipien und: in Teilen auch Gleichgültigkeit, wenn es darum geht, für unsere gemeinsamen Standards einzustehen und sie zu verteidigen.
Ich sage hier, liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Entwicklung ist gefährlich! Und es ist unsere gemeinsame Verantwortung, uns entschieden dagegen zu stellen!
Manchmal frage ich mich, wie denn unser Kontinent ohne die OSZE aussähe.
Was hieße das etwa für die Menschen in den Konfliktregionen in unserem gemeinsamen Raum? Diese Konfliktherde – so unterschiedlich sie auch im Einzelnen sein mögen – verbindet ja eines: der Wille und der Einsatz unserer Organisation, diese Konflikte einzuhegen und Eskalationen zu verhindern. Um dabei nachhaltigen Lösungen zum Durchbruch zu verhelfen, brauchen wir eine funktionierende und entschlossene OSZE!
Lassen Sie mich zunächst auf die Ukraine eingehen: Mit den Minsker Vereinbarungen wurde vor nunmehr zwei Jahren der Weg für eine friedliche Beilegung des Konflikts im Donbass geebnet. Dieser Weg muss aber von allen Seiten gegangen werden – und das passiert nur langsam, viel zu langsam. Immer noch bricht Gewalt hervor und es leidet die Zivilbevölkerung.
Waffenstillstandsvereinbarungen werden mehr als Empfehlungen behandelt – und täglich verletzt. Dieser Zustand ist mehr als ernüchternd - er bleibt für mich inakzeptabel!
Ich möchte an dieser Stelle dem gesamten Team unserer Sonderbeobachtermission meinen besonderen Dank aussprechen. Tag für Tag beobachten sie die Entwicklungen vor Ort, oft unter gefährlichen Bedingungen. Regelmäßig werden sie in ihrer Arbeit behindert, sogar angegriffen. Diesen Umgang mit der SMM dürfen wir nicht dulden!
Klar ist für mich: Keine noch so große Mission wird einen Waffenstillstand erzwingen können, wenn der politische Wille fehlt. Was wir dringend brauchen, ist ein neuer Impuls zum Rückzug der schweren Waffen und zur Fortsetzung der Entflechtung. Die SMM steht zur Begleitung dieses Prozesses bereit. Dafür braucht sie eine adäquate personelle und technische Ausstattung - auch im nächsten Jahr. Diesen Worten müssen wir in den anstehenden Haushaltshaltverhandlungen Taten folgen lassen! Deshalb rufe ich dazu auf, diese Haushaltsverhandlungen konstruktiv zu begleiten.
Bei all unseren Bemühungen um die Ostukraine werden wir die Krim nicht vergessen: Sie wurde völkerrechtswidrig annektiert, bis heute erhalten die Einrichtungen der OSZE keinen Zugang.
Auch die Entwicklungen im Bergkarabach-Konflikt geben Grund zur Sorge: Das Aufflammen der Kampfhandlungen Anfang April hat uns allen vor Augen geführt, wie gefährlich dieser Konflikt bleibt. Viele Gespräche haben mir die Dringlichkeit bestätigt, den Waffenstillstand zu konsolidieren und endlich den Einstieg in echte Verhandlungen über eine politische Lösung zu schaffen. Wir werden die Bemühungen der „Minsker Gruppe“ und ihrer Ko-Vorsitzenden weiter konsequent unterstützen. Bei den Genfer Gesprächen ist es uns mit vereintem Einsatz von OSZE, Vereinten Nationen und EU zumindest gelungen, dieses Format etwas zu beleben. Mein Eindruck ist aber: für Vertrauensbildung, für ein Mehr an Sicherheit und nicht zuletzt für eine Verbesserung der humanitären Lage muss noch mehr getan werden.
Einen Schritt der Vernunft sind die Seiten im Transnistrien-Konflikt gegangen: Nach über zwei Jahren sind sie in Berlin wieder zu „5+2“-Verhandlungen zusammengekommen. Wichtiger noch: Sie sind nun bereit, einen ergebnisorientierten Verhandlungsansatz zu verfolgen – zum Wohle der Menschen auf beiden Seiten des Dnisters. Davon konnte ich mich bei meiner Reise nach Chisinau und Tiraspol überzeugen. Lassen Sie uns den Einsatz der Mediatoren und Beobachter dadurch honorieren, dass wir das Erreichte hier in Hamburg auch in einer gemeinsamen Erklärung festhalten!
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Meine Damen und Herren,
Deutschland wird diesen Kurs eines gelebten Multilateralismus weiter beharrlich folgen.
Wir dürfen uns nichts vormachen: Der große Wurf zur Überwindung des Trennenden wird uns so schnell nicht gelingen. Aber wir können uns gegen die Verzagtheit auflehnen und beharrlich an realistischen Lösungsansätzen arbeiten. Ich freue mich, dass uns mit Österreich und Italien zwei engagierte Partner folgen, die unsere Zukunftsvision einer starken OSZE für ein sicheres Europa teilen.
Gemeinsam ist uns klar: Die OSZE muss sich wappnen für neue Aufgaben und Herausforderungen. Wir sehen dafür fünf Aktionsfelder:
Zunächst geht es um das Offenhalten und Ausbauen von Kommunikationskanälen über politische Gräben hinweg: Dazu gehören innovative Dialogformate, aber auch ein bewusster Verzicht auf ritualisierten Schlagabtausch. Genau das war der Grund, warum wir im September zu einem informellen Außenminister-Treffen nach Potsdam eingeladen haben. Und ich habe den Eindruck: Gerade deshalb ist unser Treffen auf viel Zustimmung gestoßen.
Wir müssen zweitens unsere Kräfte stärker bündeln, um substantielle und nachhaltige Fortschritte in der Konfliktlösung zu ermöglichen. Ich setze hier auch ganz bewusst auf das Engagement von Frauen, die eine andere Perspektive in solche Prozesse bringen. Und wenn Grundsatzdebatten in eine Sackgasse führen, sollten wir uns zumindest auf eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Betroffenen konzentrieren.
Drittens: Unsere Rüstungskontrollarchitektur hat sich lange als Garant für Sicherheit und Stabilität erwiesen. Zuletzt ist diese Berechenbarkeit aber geschwunden. Traditionelle Mechanismen laufen immer häufiger ins Leere, weil sie nicht mehr den sicherheitspolitischen, militärischen und technologischen Realitäten von heute entsprechen. Hier müssen wir gegensteuern: Mit der Modernisierung des Wiener Dokuments, die in diesem Jahr ein gutes Stück vorangekommen ist. Und auch mein Vorschlag für einen dringend benötigten Neustart in der konventionellen Rüstungskontrolle ist auf breite Zustimmung gestoßen. Das reicht aber nicht: Wir müssen nun die Mühen der Ebene auf uns nehmen – die Experten nennen das „strukturierten Dialog“ - hin zu einer zeitgemäßen und krisenfesten Rüstungskontrolle für Europa.
Niemand kann wollen, dass sich eine neue Rüstungsspirale in Gang setzt, bei der uns am Ende die politische Kontrolle entgleitet. Dem müssen wir rechtzeitig Einhalt gebieten – damit es in unserem Europa nicht noch gefährlicher wird.
Viertens müssen wir unseren Blick auf neue Herausforderungen und Bedrohungen richten. Terrorismus, Radikalisierung, Cyberfragen, Migration, Diskriminierung jeglicher Art und Hass – ich denke da besonders an Antisemitismus und Intoleranz gegenüber Sinti und Roma: Als Einzelstaaten sind wir zu klein, zu ineffektiv, um diese Phänomene erfolgreich zu bewältigen. Deshalb sollten wir diese verstärkt in der OSZE verankern!
Und lassen Sie mich einen letzten Punkt machen: Auf meinen Reisen in die Krisenherde im OSZE-Raum habe ich erlebt, über welch reichen Erfahrungsschatz unsere Organisation verfügt - von der Konfliktverhütung über das Krisenmanagement bis hin zur Konfliktnachsorge. Wir sind aber noch nicht gut genug, um den immer komplexeren Konflikten der Gegenwart entgegenzutreten.
Eine echte, nachhaltige Stärkung unserer Organisation darf kein Lippenbekenntnis bleiben. Der Ministerrat darf nicht der einzige Moment im Jahr sein, an dem wir uns an die OSZE erinnern. Wir brauchen eine Modernisierung und Erweiterung der Fähigkeiten unserer Organisation im gesamten Konfliktzyklus. Das bedeutet Geld. Das bedeutet mehr und qualifiziertes Personal. Das bedeutet klare rechtliche Rahmenbedingungen. Und das geht nur mit dem nachhaltigen politischen Willen aller!
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Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Ohne einen festen Blick auf den Kompass – und damit meine ich unseren Wertekompass - werden wir in diesen stürmischen Zeiten nicht ans Ziel gelangen. Ohne Demokratie, ohne Rechtsstaatlichkeit, ohne Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten kann es keine umfassende Sicherheit geben!
Lassen Sie uns also mit diesem Kompass in der Hand gemeinsam aufbrechen in unsere Beratungen hier in Hamburg. Ich wünsche mir für die nächsten Tage von uns allen den Mut und die Bereitschaft zu Dialog, zu Kompromissen und wo immer es geht zu pragmatischen Lösungen.
Vielen Dank!