Willkommen auf den Seiten des Auswärtigen Amts
Rede von Europa-Staatsminister Michael Roth bei der Berlin Security Conference: „Europe at risk – what are our answers to common threats?“
-- es gilt das gesprochene Wort--
Sehr geehrte Damen und Herren,
„Wenn man fünf oder sechs Miseren vereinigt, so ergeben sie zusammengenommen einen ganz erträglichen Zustand“, so hat es Voltaire einmal formuliert. Nun irren Franzosen ja bekanntlich selten. Aber ob Voltaire wohl heute noch zu derselben Einschätzung käme, wenn er die Welt des Jahres 2016 betrachten würde? Ich habe da so meine Zweifel …
Die Miseren häufen sich, aber erträglich ist der Zustand derzeit beim besten Willen nicht. Eher im Gegenteil! Egal, wo man hinschaut: Die Welt des Jahres 2016 ist eine, die sich durch Krisen, Konflikte und Unsicherheit auszeichnet.
Russland stellt durch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und durch sein Vorgehen in der Ost-Ukraine grundlegenden Prinzipien europäische Friedensordnung in Frage.
Aus Libyen, Syrien und Irak sind Probleme wie der islamistische Terrorismus sowie Migration, Flucht und Vertreibung zu uns nach Europa getragen worden.
Im transatlantischen Verhältnis bringt das Wahlergebnis in den USA große Ungewissheit. Es stellt eine historische Zäsur dar. Vermag künftig nur der in der NATO mit Solidarität zu rechnen, der auch kräftig zahlt?
Unsicherheit herrscht aber nicht nur in anderen Teilen der Welt, sondern auch bei uns in Europa: Mit dem Votum für den Brexit hat das Vereinigte Königreich den Rückwärtsgang bei der europäischen Integration eingelegt.
Überall in Europa sind Populisten und Nationalisten auf dem Vormarsch. Sie überziehen Europa mit einer Kampagne der Angst, Lügen und Halbwahrheiten mit dem Ziel, grundlegende Linien der Politik neu zu ziehen.
Weitere Wahlen stehen in den kommenden Monaten in Österreich, Frankreich, den Niederlanden und Deutschland an – auch hier sind weitere Stimmenzuwächse der Rechtspopulisten möglich.
Ja, und auch beim Thema Sicherheit in Europa gibt es derzeit viele offene Fragen. Einige davon will ich heute Morgen aufgreifen. Wäre ich jetzt ein Populist, dann wäre diese Rede wohl ziemlich schnell vorbei. Aber ich kann es Ihnen nicht ersparen: Auf all diese Fragen zur Sicherheit in und um Europa gibt es leider nicht die einfachen Antworten, die uns einige vergaukeln möchten. Im Gegenteil: Die Lage ist sogar ziemlich komplex und kompliziert.
Grenzen dicht machen, Beziehungen abbrechen, Raus aus der NATO – wer glaubt, dass verantwortungsvolle Außen- und Sicherheitspolitik so funktioniert, der hat die Welt des Jahres 2016 nicht verstanden.
Vielleicht habe ich nicht auf alle Fragen, die diese kleine sicherheitspolitische Tour d‘Horizon aufwirft, eine erschöpfende Antwort – aber ich habe durchaus Gewissheiten und Orientierungslinien. Und die möchte ich heute gerne mit Ihnen teilen – in vier Thesen.
Erstens: Die aktuellen Bedrohungen und Krisen lassen sich nur mit verlässlichen Partnern eindämmen und bewältigen. Die EU ist unsere Lebensversicherung in diesen turbulenten Krisenzeiten.
Die EU ist heute mit einer verschärften Bedrohungslage und neuen Sicherheitsrisiken konfrontiert. Äußere Krisen sind zahlreicher geworden und geographisch näher an uns herangerückt. Fakt ist: Kein Staat in Europa kann diese globalen Bewährungsproben im Alleingang bewältigen – selbst das vermeintlich so große Deutschland nicht.
Nur wenn wir Europäerinnen und Europäer in der Außenpolitik noch stärker mit einer Stimme sprechen, werden wir künftig im Konzert der Weltmächte überhaupt noch gehört werden. Die EU ist unsere Lebensversicherung in diesen stürmischen Zeiten der Globalisierung und Krisen in unserer Nachbarschaft!
Wir dürfen uns nicht lähmen lassen von der Sorge über den Zustand der Welt. Gerade jetzt brauchen wir eine verantwortliche europäische Außenpolitik. Außen- und sicherheitspolitisch kann es sich die EU nicht erlauben, einfach tatenlos an der Seitenlinie zu stehen.
Gerade die vergangenen Monate haben uns doch vor Augen geführt, dass wir uns nicht einfach so durch Mauern und Zäune von den Problemen in anderen Teilen der Welt abschotten können. Flüchtlingsbewegungen machen nicht an nationalen Grenzen halt, sie bahnen sich ihren Weg bis vor unsere Haustür.
Auch Kriege und Terror holen uns früher oder später ein, wenn wir Soldaten in Krisenherde schicken müssen oder Terroristen Gewalt und Zerstörung auch zu uns nach Europa bringen.
Deshalb muss die EU jetzt erst recht Verantwortung für Frieden und Sicherheit in der Welt übernehmen – als Krisenmanager und Vermittler, und ja, notfalls auch militärisch. Wir tun gut daran, selbstbewusst unseren umfassenden Sicherheitsbegriff als Maßstab anzulegen, baut er doch auf einen klugen Mix aus politischen, diplomatischen, wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und militärischen Aspekten.
Dafür haben wir übrigens auch die Rückendeckung einer großen Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger: Zwei Drittel der Europäerinnen und Europäer wollen „mehr Europa“ in der Außen- und Sicherheitspolitik. Sogar 74 Prozent unterstützen weitere Schritte in Richtung einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik Europas. Wir müssen diese positive Grundstimmung nutzen. Jetzt ist der Moment, um die Ärmel hochzukrempeln und ein besseres, handlungsfähigeres Europa zu schaffen. Im Bereich der äußeren Sicherheit haben wir dafür mit einer neuen Sicherheitsstrategie ein wichtiges Fundament gelegt.
Zeiten der Unsicherheit sind immer auch Zeiten der Selbstvergewisserung: Was sind wir bereit sicherheitspolitisch zu leisten? Und was wollen und können wir dabei einbringen? Auch in Washington wird einer neuen US-Regierung die Antwort klar sein, wenn man sich dort fragt: „Wer ist auf der gesamten Bandbreite gemeinsamer Interessen verlässlicher als die europäischen Partner?“
Aber eines ist mir in diesem Zusammenhang besonders wichtig: Bei unserer Sicherheits- und Verteidigungspolitik geht es nicht bloß um Interessen, sondern vor allem auch um Haltung und unsere gemeinsamen Werte. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Toleranz gegenüber Minderheiten jeglicher Art sowie Presse- und Meinungsfreiheit – all das sind Europas Markenzeichen.
Und diese gemeinsamen Werte müssen wir auch im Bereich der GASP und GSVP einbringen, um die Welt sicherer und gerechter zu machen. Diese Werte müssen wir im Innern der EU Tag für Tag leben und gegen Angriffe verteidigen, damit wir sie auch nach außen glaubhaft von Drittstaaten einfordern können. Die EU ist eine Wertegemeinschaft – und auch deshalb hat die deutsche Bundesregierung nach der Wahl von Donald Trump sehr deutlich gemacht: Unsere künftige Zusammenarbeit muss immer auf der Grundlage unserer gemeinsamen Werte erfolgen. Die transatlantischen Beziehungen werden von Werten, nicht von Macht zusammen gehalten.
Zweitens: Die Themen Sicherheit und Verteidigung bleiben auch nach dem Brexit-Referendum ganz oben auf der europäischen Agenda.
Bis vor kurzem habe ich mir nicht vorstellen können, dass die britischen Wählerinnen und Wähler tatsächlich für den Austritt ihres Landes aus der EU votieren würden. Nun müssen wir mit diesem schwierigen Ergebnis und den Konsequenzen umgehen. Keine Frage: Der Brexit wird schmerzen. Vor allem im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik zählte das Vereinigte Königreich immer zu unseren besonders engen EU-Partnern.
Was nun, Europa? Verfallen wir jetzt in kollektive Depression? Ich rate in dieser Frage erst einmal zu Besonnenheit statt Schockstarre. Denn kurzfristig wird das Brexit-Votum kaum unmittelbare Auswirkungen auf die Weiterentwicklung der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik haben. Im Gegenteil: Wir schreiten umso entschlossener voran auf dem Weg einer engeren Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Nur wenige Tage nach dem Brexit-Referendum hat Federica Mogherini ihr Konzept einer globalen Strategie präsentiert, mit der die EU ihre außen- und sicherheitspolitischen Ambitionen neu vermessen will. Am 14. November haben die Minister beim EU-Außenrat die dreizehn konkreten Umsetzungsschritte für den Bereich Sicherheit und Verteidigung, die der Plan vorschlägt, begrüßt. Dabei saß übrigens auch der britische Außenminister mit am Tisch.
Unbestritten ist ebenso, dass wir auch nach einem Brexit weiterhin eng mit dem Vereinigten Königreich bei sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen zusammenarbeiten wollen. Dafür wird es sicher neue Formate und Gremien geben müssen, aber es liegt doch im beiderseitigen Interesse, dass wir uns mit unseren britischen Freunden auch weiterhin eng abstimmen.
Jetzt geht es vor allem darum, einerseits den Austrittsprozess eines der größten EU-Mitglieder so zu gestalten, dass Europa keinen Schaden nimmt, und andererseits die EU handlungsfähiger zu machen.
Genau hier setzt der Fahrplan an, auf den sich die Staats- und Regierungschefs der EU27 vor wenigen Wochen in Bratislava geeinigt haben. Dieser Fahrplan enthält wichtige Aufgaben, die wir in den kommenden Monaten Schritt für Schritt abarbeiten wollen – und dazu zählen auch äußere Sicherheit und Verteidigung. Wir haben vereinbart, dass wir unsere Zusammenarbeit im Rahmen der GSVP weiter verstärken wollen – auch weil uns das schwierige geopolitische Umfeld derzeit gar keine andere Wahl lässt.
Bei aller Entschlossenheit, die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik trotz des Brexits weiter voranzutreiben, ist aber auch klar: Krisenzeiten sind nicht unbedingt die beste Zeit für große Wunschkonzerte. Selbstverständlich brauchen wir mutige Visionen.
Eine gemeinsame europäische Armee bleibt beispielsweise ein Ziel für die Zukunft, kurzfristig wird sie sich aber kaum realisieren lassen. Unser Hauptaugenmerk sollte daher zunächst darauf liegen, was zwingend notwendig und politisch machbar ist, um die EU künftig so aufzustellen, dass sie ein noch ernstzunehmender Sicherheitspartner wird.
Drittens: Deutschland und Frankreich arbeiten Hand in Hand für die Sicherheit Europas.
Wie sie alle wissen, stehen wir im kommenden Jahr vor wichtigen Wahlen in Frankreich und Deutschland. Die Krisen und Konflikte in der Welt nehmen aber leider keine Rücksicht auf Wahltermine. Wir können es uns schlichtweg nicht erlauben, dass die beiden größten EU-Partner in Zeiten des Wahlkampfs und der Regierungsbildung als außenpolitische Akteure monatelang ausfallen oder zumindest gelähmt sind.
Gerade in diesen schwierigen Krisenzeiten ist das deutsch-französische Tandem als Impulsgeber für Europa mehr denn je gefordert. Insbesondere im Bereich der europäischen Sicherheitspolitik hat dies eine lange Tradition.
Aber es zeigen sich in diesen existentiellen Fragen nationaler Souveränität bisweilen auch ganz unterschiedliche nationale Besonderheiten und Traditionen. So müssen wir als Deutsche unseren französischen Freunden erklären, warum wir uns bei Militäreinsätzen jenseits unserer Landesgrenzen so schwer tun. In der deutschen Bevölkerung gibt es nach wie vor eine weit verbreitete Skepsis gegenüber Militäreinsätzen.
Die Lehre daraus – nämlich eine vom Parlament legitimierte Armee – bringt zwar mitunter schwerfälligere Lösungen mit sich.
Aber die öffentliche Debatte im Bundestag schafft hierzulande auch die notwendige Legitimität für Militäreinsätze. Wenn heute deutsche Soldatinnen und Soldaten in weltweit 14 Missionen im Einsatz sind, um Frieden und Stabilität zu sichern, dann zeigt das, dass dieser Ansatz gut funktioniert. Und dafür werbe ich auch immer wieder um Verständnis bei unseren französischen Partnern, die eine solche Parlamentsarmee so nicht kennen.
Und auf eines konnten wir uns in den vergangenen Jahren immer verlassen: Trotz anfänglich oftmals abweichender Haltungen siegt in Paris und Berlin am Ende meist der politische Wille, diese Gegensätze zu überwinden und eine gemeinsame Position zu finden. Es ist eben diese Kompromissfähigkeit, die die deutsch-französische Zusammenarbeit so wertvoll für Europa macht. Denn wenn Deutschland und Frankreich erst einmal zusammen gefunden haben, dann ist dies meist auch eine gute Grundlage für eine gesamteuropäische Verständigung.
Auch in den Bereichen Sicherheit und Verteidigung arbeiten unsere Regierungen konstruktiv und vertrauensvoll zusammen: Bundesaußenminister Steinmeier und sein französischer Kollege Jean-Marc Ayrault haben im Juni Vorschläge gemacht, wie sich ein starkes Europa in einer unsicheren Welt behaupten kann. Die beiden Minister haben eine „Europäische Sicherheitsagenda“ gefordert. Auch unsere Verteidigungsministerien haben im September konkrete Vorschläge vorgelegt. Mit unseren abgestimmten Positionen haben wir den EU-Konsens vorangebracht. Auch mit der italienischen Regierung arbeiten wir im Sicherheitsbereich übrigens sehr eng zusammen.
Wie existentiell die deutsch-französische Zusammenarbeit geworden ist, beweist die Solidarität, die Deutschland im Moment der größten terroristischen Bedrohung in Frankreich gezeigt hat. Nach den furchtbaren Terroranschlägen vom 13. November 2015 hatte Frankreich seine EU-Partner um militärischen Beistand gebeten.
Deutschland hat als einer der größten Truppensteller und durch die Übernahme der Missionsführung von EUTM Mali im vergangenen Jahr Verantwortung übernommen. Damit entlasten wir nicht nur unsere französischen Freunde, sondern leisten auch einen Beitrag zur Sicherheit Europas – und damit auch für Deutschland selbst.
Viertens: Für uns bleibt die NATO das Fundament der kollektiven Verteidigung ihrer Mitglieder.
Wir sprechen uns nachdrücklich für realistische und konkrete Schritte für eine Europäische Sicherheitsagenda aus. Der Umsetzungsplan der Hohen Vertreterin im Bereich Sicherheit und Verteidigung ist von den Außen- und Verteidigungsministern am 14. November 2016 angenommen worden und soll nun vom Europäischen Rat im Dezember 2016 indossiert werden.
Die EU braucht aber bessere zivil-militärische Fähigkeiten um die GSVP-Aufgaben im Krisenmanagement eigenständig bewältigen zu können. Und in diesem Sinne muss sie „strategische Autonomie“ entwickeln – aber sicher nicht, um die transatlantische Kooperation verzichtbar zu machen. Die GSVP-Strukturen zu stärken, bedeutet mitnichten die NATO zu schwächen.
Im Gegenteil: EU und NATO müssen komplementär handeln. Dafür steht die EU/NATO-Erklärung vom Warschauer Gipfel im Juli. Die Bündnisverteidigung ist und bleibt die Kernaufgabe der NATO. Aber die gemeinsame Abwehr und Bewältigung hybrider Bedrohungen bietet die Chance, die strategische Partnerschaft NATO-EU auf eine neue Ebene zu heben.
Aus alldem wird aber auch deutlich: Wir können und wollen auf die NATO als Grundlage unserer kollektiven Sicherheit nicht verzichten. Sie ist auch das Ergebnis unserer transatlantischen Wertegemeinschaft.
Die Sorge unserer Partner in Polen und im Baltikum um die Zukunft dieses Bündnisses zeigt, wie wichtig es auch heute noch ist. Ich baue darauf, dass diese Einsicht letztendlich auch von der neuen amerikanischen Regierung geteilt werden wird.
Wenn wir Europäerinnen und Europäer in Frieden und Sicherheit leben wollen, müssen wir Verantwortung übernehmen und tun, was notwendig ist. Wir müssen mit einer Stimme sprechen. Nicht nur in Berlin und Paris, Kopenhagen und Riga spielt die Musik, sondern zunehmend auch und vor allem in Brüssel. Die EU-Mitgliedstaaten müssen bei Sicherheit und Verteidigung enger zusammen arbeiten. Wir brauchen eigenständige Fähigkeiten insbesondere beim Krisenmanagement. Wir wollen die NATO nicht ersetzen, sondern ergänzen und stärken. Deutschland und Frankreich gehen mit gutem Beispiel voran – mutig, solidarisch, innovativ.