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Rede von Europa-Staatsminister Michael Roth im Rahmen der Konferenz „Quo vadis Europa?“ an der Georg-August-Universität Göttingen am 18. November 2016

18.11.2016 - Rede

Sehr geehrte Damen und Herren,

„Ich habe das Gefühl, dass Ihr zuhause alle auf die europäische Lage starrt und vergesst, dass jede noch so kleine Verschiebung auf das gewaltige Koordinatensystem der Weltpolitik ausstrahlt, deren Rückstrahlungen eines Tages sehr wohl tödlich sein könnten.“

Das hört sich sehr aktuell an. Adam von Trott schrieb dies aber bereits am 18. Juni 1938 in einem Brief aus Peking in seine alte Heimat. Schon damals hatte er erkannt: Europa ist ein globaler Akteur. Was in Europa geschieht, hat Auswirkungen auf unsere Nachbarschaft, ja sogar auf die ganze Welt.

Was von Trott damit aber auch meinte: Wir dürfen uns nicht nur im europäischen Klein-Klein verlieren, sondern müssen immer auch das große Ganze im Blick behalten.

Das sollten wir uns gerade in diesen Krisenzeiten immer wieder vor Augen führen: Ob Brexit, die Wirtschafts- und Finanzkrise in der Eurozone, die Flüchtlingsbewegungen entlang der Balkanroute und im Mittelmeer oder der islamistische Terror im Herzen Europas – wir können uns weder einfach so von den Entwicklungen in unserer Nachbarschaft abschotten, noch bleiben unsere „europäischen“ Krisen ohne Folgen für den Rest der Welt. Wir leben in einer globalisierten Welt, die immer enger miteinander verflochten ist. Alles hängt irgendwie miteinander zusammen.

Fakt ist: Die Europäische Union hat uns in den vergangenen Jahrzehnten Frieden, Freiheit und Wohlstand beschert. Und Europa hat ohne Zweifel das Zeug dazu, auch in Zukunft unsere beste Lebensversicherung zu sein.

Und dennoch stellen viele Bürgerinnen und Bürger, aber eben auch Politikerinnen und Politiker Europa und die Europäische Union immer stärker in Frage, sie zweifeln am Sinn und Wert Europas.

Und auch Sie gehen bei dieser Konferenz der Frage nach, wohin es mit Europa noch gehen soll.„Quo vadis Europa?“ - das ist die Frage, auf die Sie heute auch von mir eine Antwort erwarten. Und ich gebe offen zu: Das ist eine echte „One-Million-Euro-question“!

Lassen Sie es mich dennoch versuchen: Europa steht derzeit am Scheideweg. Zwischen einem Kontinent, auf dem Schlagbäume, Zäune und nationale Egoismen wieder Einzug halten. Oder einem Kontinent, der zusammenhält und politisch an einem Strang zieht. Und ich kann es Ihnen leider nicht ersparen: Es gibt keinen Automatismus, welchen Weg Europa in den kommenden Jahren gehen wird – weder in die eine noch in die andere Richtung.

Jetzt liegt es in unserer – ja, vor allem auch in Ihrer – Hand, Europa wieder auf den richtigen Kurs zu bringen!

Es bleibt spannend, ob Sie am Sonntag, wenn diese Konferenz endet, zumindest eine vorläufige Antwort haben werden, wie es um Europas Zukunft steht. Meinen Beitrag dazu will ich jedenfalls leisten. Ich mache das ausgesprochen gerne, weil diese Konferenz das Ergebnis einer neuen Zusammenarbeit der Universität Göttingen mit der Stiftung Adam von Trott ist.

Seit vielen Jahren bin ich der Adam von Trott-Stiftung verbunden. Seit Jahrhunderten ist die Familie von Trott in Imshausen ansässig, einem kleinen Dorf in meinem nordhessischen Wahlkreis.

Mit Göttingen verbindet Adam von Trott sein Studium: Er hat hier an der Georg-August-Universität Jura studiert. Göttingen war aber nur eine Station seiner Ausbildung.

Bei einem Aufenthalt in Genf im Jahr 1928 hat der damals 19-jährige beobachtet, wie internationale Zusammenarbeit Realität wird. Dort wurde sein Engagement für Frieden und Versöhnung geprägt.

Von Trott war so etwas wie ein früher Vorläufer der heutigen Erasmus-Studenten: Während seiner Studienaufenthalte, unter anderem in Oxford, hat er immer wieder die Perspektiven gewechselt. Auch aus China und den USA hat er auf Deutschland und Deutschlands Rolle in Europa geblickt. Zunächst aus der Außen- und später auch aus der Innenperspektive hat er das Erstarken des Nationalsozialismus beobachtet. Er selbst sprach von einem „schrecklichen Desaster“.

Während seiner Tätigkeit im Auswärtigen Amt von 1940 bis 1944 lehnte er das Nazi-Regime ab, handelte im Verborgenen als Widerstandskämpfer. Adam von Trott war eben einer, der nicht stillschweigend zuschauen wollte.

Er war einer, der sich gewehrt hat, der den Mund aufmachte, der kein stummer Mitläufer war.

Als Unterstützer und Teil der Gruppe um Claus Graf Schenk von Stauffenberg wurde er nach dem Scheitern des Attentats an Adolf Hitler am 25. Juli 1944 verhaftet und wenige Wochen später hingerichtet. Adam von Trott hat mit dem Leben dafür bezahlt, dass er Haltung gezeigt und sich gegen den Mainstream seiner Zeit gewendet hat.

Hier vermag uns Adam von Trott auch für die Gegenwart Orientierung zu geben. Glücklicherweise leben wir heute in ganz anderen Zeiten. Im Jahr 2016 muss niemand mehr mit dem Leben für seine politischen Überzeugungen bezahlen, zumindest nicht in der EU. Aber auch heute verlangt es durchaus eine ganze Menge Mut und Haltung ab, sich gegen den weitverbreiteten Mainstream des Europa-Bashings zu stellen.

Viel leichter ist es, mit in den Chor einzustimmen, der über das Brüsseler Bürokratiemonster schimpft und die EU zum Sündenbock für jede erdenkliche Fehlentwicklung macht.

Dabei brauchen wir doch gerade jetzt überzeugte Europäer und Europäerinnen, die die EU gegen Kritik und Erosionstendenzen verteidigen. Wir müssen uns eingestehen: In den europäischen Demokratien wird niemand als überzeugter Europäer geboren. Die für ein vereintes Europa sprechenden Gründe erschließen sich heutzutage niemandem mehr automatisch. Was Europa jetzt also braucht, sind Mitmacher statt Mitläufer und Mutmacher statt Miesmacher! Ein Adam von Trott würde Europa jetzt richtig gut tun.

Ich will hier heute überhaupt nichts schönreden: Die Migrationskrise, das Freihandelsabkommen CETA und die Diskussionen um den Brexit stellen uns vor gewaltige Bewährungsproben.

All diese Themen haben dazu geführt, dass immer mehr Menschen das Vertrauen in die EU verlieren und sich einen Rückzug ins nationale Schneckenhaus wünschen. Die EU wird von Vielen leider nicht mehr als Freiheits- und Wohlstandsmotor wahrgenommen, sondern als intransparentes und übermächtiges Gebilde, das nur noch Krisen, aber keine Ergebnisse und Lösungen mehr produziert.

Die EU trifft damit in besonderem Maße, was auch nationale Politik in weiten Teilen ereilt: Verachtung. Der Politik generell, unserer Demokratie und schon gar nicht der EU werden zugetraut, Lösungen im Sinne des Gemeinwohls zu finden. Die Distanz zwischen Gewählten und Wählern nimmt trotz der Zunahme direkter Kommunikationsmöglichkeiten zu.

Quo vadis Europa? Lassen Sie mich exemplarisch anhand von vier aktuellen Bewährungsproben beschreiben, wo wir derzeit in Europa stehen und wie der künftige europäische Weg ausschauen könnte:

Erstens: Europa versteht sich von Beginn an als ein einzigartiges Friedensprojekt. Frieden, Freiheit, Sicherheit und Demokratie - durch das vereinte Europa. Aber stimmt das denn wirklich? Allein die EU und ihre Vorgängerorganisationen haben nach zwei Weltkriegen, Faschismus und Holocaust Frieden gebracht. Und das seit sieben Jahrzehnten.

Die Realität außerhalb der EU sah und sieht entschieden anders aus: In Südosteuropa tobte in den Neunziger Jahren ein furchtbarer Bürgerkrieg mit Hunderttausenden von Toten und Millionen Vertriebener und Geflüchteter. Derzeit wird der Osten Europas, vor allem in der Ukraine militärisch erschüttert. Nein, in Europa schweigen mitnichten die Waffen. Allein die EU ist ein Garant für das, wonach sich Menschen weltweit sehnen. Europa ist also dann und nur dann ein Friedensprojekt, wenn es sich auf das Wagnis enger Kooperation, wachsender Vergemeinschaftung und Kompetenzverschränkung einlässt.

Und diese Europäische Union bleibt in besonderer Weise verpflichtet, Frieden, Stabilität, Freiheit und Demokratie zu etwas gesamteuropäischem werden zu lassen. Gerade deshalb ist es so wichtig, den Staaten des Westbalkans nach wie vor eine EU-Perspektive zu sichern und Osteuropa nicht seinem eigenen Schicksal zu überlassen. Wie wollen wir ernsthaft mehr Verantwortung für den Nahen Osten und Afrika übernehmen, wenn wir schon auf unserem eigenen Kontinent zu scheitern drohen.

Aus dem Friedensprojekt EU muss ein europäisches Friedensprojekt werden. Das muss unser Anspruch sein!

Und mit diesem paneuropäischen Versprechen zollen wir dem Vermächtnis Adam von Trotts Respekt. Aber es bleibt vor allem deshalb so schwierig, weil eine kurzfristige Erweiterung der EU um eine Reihe von Staaten zu einer Überdehnung und Desintegration führen dürfte. Rasche Beitritte lösen die Probleme sicher nicht. Aber wir müssen uns als EU noch viel mehr anstrengen - ob in Serbien und Mazedonien, Ukraine und Moldau.

Zweitens: Der Zustrom mehrerer hunderttausend Flüchtlinge hat in Europa zu Sorgen vor Überfremdung oder Verschlechterung der sozialen und wirtschaftlichen Situation geführt. Bei vielen Menschen ist der Eindruck entstanden, die EU versage in dieser Krise. Das scheint mir falsch! Aber eines stimmt: Wir müssen unter den EU-Mitgliedstaaten noch sehr viel Überzeugungsarbeit leisten, um zu einer europäischen Migrationspolitik zu kommen, die diesen Namen auch wirklich verdient.

Erste wichtige Schritte, was die Solidarität innerhalb der EU angeht, sind bereits gemacht: Bei der Wiedererlangung der Kontrolle über den Zugang an unseren Außengrenzen werden wir uns gegenseitig als Mitgliedstaaten unter Koordinierung von FRONTEX noch stärker unterstützen. Ein wichtiger Meilenstein ist hier die Einigung auf die Einrichtung einer gemeinsamen Europäischen Grenz- und Küstenwache. Durch den verbesserten Außengrenzschutz schaffen wir mehr Sicherheit des Einzelnen. Offene Binnengrenzen in Europa – das kann dauerhaft nur funktionieren, wenn die EU-Staaten an den Schengen-Außengrenzen wirksam die Grenzen sichern. Wir müssen wissen, wer wann und wie zu uns kommt.

Auch die migrationspolitische Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und Transitstaaten ist mittlerweile selbstverständlicher Bestandteil europäischer Außen- und Entwicklungspolitik geworden.

Zusammen mit Frankreich unterstützen wir den Vorschlag der EU-Kommission, Migrationspartnerschaften mit Drittstaaten außerhalb der EU abzuschließen. Denn wir wollen ja die Fluchtursachen bekämpfen, nicht die Flüchtlinge. Es geht dabei vor allem um Investitionen in Versorgung und Sicherheit, Bildung und Qualifizierung. Davon profitieren Geflüchtete ebenso wie die einheimische Bevölkerung.

Drittens: In den vergangenen Wochen führte das EU-Freihandelsabkommen CETA mit Kanada zu heftigen Kontroversen. Die Auseinandersetzungen haben gezeigt: Viele Menschen ängstigen sich vor den Veränderungen in einer immer stärker globalisierten Welt. TTIP und CETA sind für viele Menschen zu einem Symbol des zügellosen Marktradikalismus verkommen. Sie befürchten Sozialabbau, ein Aufweichen der hohen europäischen Standards und Gefahren für ihre Jobs.

Bei aller, im Einzelfall auch berechtigten Kritik, dürfen wir nicht vergessen: Die gemeinsame Außenhandelspolitik der EU ist ein Motor für die europäische Wirtschaft, die zu Wachstum und Beschäftigung in Europa beiträgt. Dass unsere Weltwirtschaft immer stärker verflochten ist, birgt nicht nur Risiken, sondern vor allem große Chancen. Dem freien Handel verdanken wir unseren wirtschaftlichen Wohlstand und viele unserer Arbeitsplätze. In Europa ist uns damit etwas geglückt, das weltweit seinesgleichen sucht: Die Verknüpfung ökonomisch-ökologischen Fortschritts gepaart mit einem System sozialer Absicherung für die Bürgerinnen und Bürger. Wirtschaftlicher Fortschritt ist mitnichten ein Selbstzweck.

Neben den rein wirtschaftlichen Vorteilen ist doch mindestens genauso wichtig, dass wir als EU gemeinsam durch Abkommen wie CETA die Möglichkeit haben, die Spielregeln für die Welt von morgen mitzuprägen.

Globalisierung ist kein Schicksal, dem wir uns ohnmächtig ergeben müssen. Nein, Globalisierung lässt sich gestalten – sozial, demokratisch und nachhaltig. Eine zukunftsweisende Handelspolitik der EU kann langfristig dazu beitragen, dass Standards für alle verbessert werden – für Menschen innerhalb und außerhalb der EU. Dieses Argument habe ich in der aufgeregten, oftmals von Halbwahrheiten geprägten Debatte über die Freihandelsabkommen leider allzu oft vermisst. Ich anerkenne aber ausdrücklich, dass öffentlicher Druck und Kritik in der Sache manches zum Besseren gewendet haben. Und solange wir über die WTO keine weltweit verbindlichen ambitionierten Standards zu setzen vermögen, sind Abkommen wie CETA wichtige Schritte in die richtige Richtung.

Viertens: Der innere Zusammenhalt der EU ist auch durch das Votum der britischen Wählerinnen und Wähler für den Brexit heftig erschüttert worden. Ich bedauere es, aber ich habe es zu akzeptieren: Das Vereinigte Königreich wird künftig einen Sonderweg gehen.

Der Brexit ist ein tiefer Einschnitt und ein Weckruf. Eines kann ich Ihnen aber garantieren: Der Brexit bedeutet ganz sicher nicht das Ende der EU. Die verbliebenen 27 Mitgliedstaaten haben klargestellt: Wir stehen zusammen, für uns ist und bleibt die EU der unverzichtbare Handlungsrahmen. Mit dem „Bratislava-Prozess“ zeigen die 27 Staaten, dass sie nach dem Brexit-Votum vorausschauen. Bis zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge im März 2017 sollen eine Reihe von konkreten Schritten erarbeitet werden. Zugegebenermaßen klingt das nicht sonderlich mutig. Aber bereits jetzt eröffnen die EU-Verträge Mitgliedstaaten die Chance, entschlossener voran zu gehen. Eine stärkere Differenzierung ist also möglich. Ein Kerneuropa lehne ich ab, eine Avantgarde, ein Europa der Mutmacher hingegen findet meine Unterstützung.

Was wir aber jetzt dringend brauchen, sind konkrete Ergebnisse, die die Handlungsfähigkeit der EU unter Beweis stellen.

Weder die Rufe nach dem großen Wurf, also einem größeren Integrationssprung, noch nach der Rückabwicklung der EU sind derzeit angemessen. Jetzt gilt es erstmal, Tritt zu fassen! Wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern vor allem in den Politikbereichen, in denen sie von der EU zu Recht mehr erwarten, zeigen: Die EU kann überzeugende Lösungen und Ergebnisse liefern, die ein einzelner Mitgliedstaat im Alleingang nicht zustande bekommt.

Natürlich soll die EU nicht alles bis ins kleinste Detail regeln. Aber wenn es darum geht, das Klima zu schützen, die Finanzmärkte zu regulieren, den internationalen Terrorismus zu bekämpfen, oder effektiv, aber vor allem solidarisch und menschenwürdig, internationalen Flüchtlingsströmen zu begegnen – dann gelingt dies nur durch gemeinsames europäisches Handeln! Denn gerade bei diesen globalen Fragen stoßen die Nationalstaaten alter Prägung – im wahrsten Sinne des Wortes – an ihre Grenzen.

In der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts kann selbst das vermeintlich so große Deutschland seine Interessen nur in und über Europa wahrnehmen und durchsetzen. Denn im globalen Maßstab sind wir alleine ein ziemlicher Zwerg! Nur ein geeintes Europa bietet uns die Chance, die verlorene Handlungsfähigkeit und Gestaltungsmacht zurückzugewinnen. Und ich bin mal sehr gespannt, wie man wohl in einigen Jahren in Großbritannien über dieses Thema denken wird.

Anrede,

Wie es mit Europa weitergehen wird, ist keine Frage, die nur Politiker unter sich diskutieren sollten. Den Dialog über die Perspektiven für Europa müssen wir noch viel stärker auch außerhalb der EU-Gebäude und abgeschirmten Konferenzzentren in Brüssel, Straßburg oder Luxemburg führen. Wir müssen alle Akteure einbinden und auf diese Weise den Grundkonsens der europäischen Integration erneuern.

Ein gutes Beispiel dafür ist diese Konferenz hier in Göttingen, die sich ein ganzes Wochenende lang mit den großen Bewährungsproben beschäftigt, die Europa nach innen und außen zu bewältigen hat.

Eines ist mir besonders wichtig: Wir dürfen nicht zulassen, dass uns die Populisten und Nationalisten vor sich her treiben. Wir dürfen nicht nur reagieren, sondern wir müssen selbst den Anspruch haben, den öffentlichen Diskurs zu bestimmen!

Dafür müssen wir selbstverständlich die berechtigten Sorgen und Ängste, die in der Bevölkerung vorhanden sind, aufgreifen. Wir dürfen dabei aber nicht der Versuchung erliegen, den Populisten nur hinterherzulaufen und ihre billigen Parolen in abgeschwächter Form zu kopieren. Das wird nicht funktionieren: Denn am Ende wird doch immer das Original und nicht die Kopie gewählt. Stattdessen müssen wir den viel schwierigeren Weg gehen:

Wir müssen den Skeptikern, Kritikern und Vereinfachern mit Fakten, Argumenten und einer gelebten europäischen Haltung entgegentreten. Wir müssen transparent aufklären und erläutern, was wir tun und warum wir andere Dinge nicht tun.

Was ist zu tun? Lassen Sie mich zwei Anregungen formulieren.

Erstens: Die Kontroverse um die Flüchtlingspolitik hat es offen gelegt. Ein Grundkonsens über unser europäisches Gesellschaftskonzept existiert nicht mehr. Nationalisten werben für homogene Gesellschaften und schüren Ängste vor Überfremdung und Identitätsverlust. Das ist nicht nur ein Verstoß gegen die EU-Verträge. Wer auf die Geschichte Europas blickt, weiß doch: wir waren schon immer ein Kontinent von Migration und Immigration. Europas Gesellschaften sind wertegebunden. Und diese Werte binden jede und jeden. Die EU ist mitnichten ein ökonomisches Konstrukt der Unverbindlichkeit. Wir sind eine Wertegemeinschaft.

Und wir sind offen für verschiedene Kulturen, Religionen und Ethnien. Das ist zugegebenermaßen anstrengend, bereichert uns aber auch ungemein. Wer ein vielfältiges, buntes Europa will, muss diese Werte immer wieder ausleuchten und Verständigung darüber suchen.

Zweitens: Der wachsende Nationalismus speist sich auch aus dem Unmut von Modernisierungsgegnern. Und dies in ganz Europa. Ihnen gehen beispielsweise die Gleichstellung der Frau oder die Anerkennung von sexuellen Minderheiten und deren Gleichberechtigung viel zu weit. Sie fühlen sich zunehmend fremd im eigenen Land. Noch nie habe ich so viel Unsinn und aberwitzigen Stuss gelesen wie derzeit. Jede noch so absurde Verschwörungstheorie stößt in den sozialen Netzwerken auf Interesse. Und gleichzeitig behaupten Menschen, von vermeintlicher politischer Korrektheit in ihrer Meinungsfreiheit ungebührlich eingeschränkt zu werden.

Um nicht missverstanden zu werden: Diese gesellschaftspolitischen Errungenschaften in Europa machen mich stolz. Hier gibt es nichts zu relativieren oder gar zurück zu drehen.

Aber Arroganz und Überheblichkeit bringen uns hier eben auch nicht weiter. Es ist leicht, sich über den „angry white man“ zu empören. Schwieriger ist es, mit ihm zu reden. Aus diesem Milieu stamme auch ich. Menschen, die sich kulturell zunehmend heimatlos fühlen, in einer globalisierten Welt Verlustängste haben und ihren eigenen Job als bedroht ansehen, brauchen Ansprechpartner nicht nur bei der AfD oder der Front Nationale - sondern auch und vor allem in sozialdemokratischen und progressiven Parteien. Und damit das klar ist: Rassismus, Antisemitismus, Homophobie waren, sind und bleiben völlig inakzeptabel. Dies zu verdeutlichen, gehört zu meinem Verständnis einer Gesprächskultur mit klarer Haltung aber ohne Dünkel.

Zu einem klaren Bekenntnis gehört auf der politischen Ebene natürlich auch, dass wir die Misserfolge – aber eben auch die Erfolge – der EU ehrlich kommunizieren. Das richtet sich vor allem an die Politiker selbst: Noch immer ist es häufig leider so, dass Erfolge auf die nationale Karte verbucht werden und man Misserfolge und Probleme Brüssel in die Schuhe schiebt. Das muss aufhören.

Und auch wenn es banal klingt: Das beste Mittel gegen Europamüdigkeit ist immer noch Europa zu leben. Deshalb müssen wir möglichst vielen jungen Menschen unabhängig von der Dicke des Geldbeutels ihrer Eltern ermöglichen, Europa konkret zu erleben. Genau das zeigt uns doch auch das Leben von Adam von Trott: Wie wichtig es ist, eigene Erfahrungen zu sammeln und hin und wieder mal die Perspektiven zu wechseln.

In Genf hat er gesehen, wie ein multilateraler Rahmen zur Einhegung internationaler Beziehungen den Frieden fördern kann.

Bei seinen Studienaufenthalten in England hat er nicht nur einen Blick von außen auf Deutschland bekommen, sondern auch junge engagierte Briten kennengelernt. Der politische Realitätssinn der Engländer und die Ziele der Arbeiterbewegung haben seine Einstellung nachhaltig geprägt.

Adam von Trott hat es uns vorgemacht: Als junger Mensch ist er zu einem überzeugten Europäer geworden. Die Zukunft Europas liegt in den Händen und Köpfen der europäischen Jugend. Auch sie muss ihre Erfahrungen mit Europa machen. Nur mit den Schrecken der europäischen Vergangenheit zu werben, damit werden wir junge Menschen nur schwer von Europa überzeugen können.

Was unserem Europa bisweilen fehlt, ist die Empathie und die Leidenschaft. Davon brauchen wir viel mehr! Ja, es stimmt: Wir leben heute in der EU Tag für Tag unseren Traum von Frieden, Freiheit, Demokratie und Wohlstand. Wahr ist aber auch: Verwirklichte Träume neigen dazu, im Alltag schnell banal und selbstverständlich zu werden.

Diese Erfahrung hat fast jeder schon einmal gemacht. Europa: Das ist heute für Viele wie eine in die Jahre gekommene Liebe. Die Euphorie lässt nach, dafür rücken die Probleme des Alltags stärker in den Blick. Es beginnt zu kriseln in der Beziehung, die Zweifel wachsen.

Dabei ist Europa eben nicht nur eine Spielwiese für detailverliebte Technokraten. Europa – das ist nicht der Wahn der Gleichmacherei, der Uniformität, der Einebnung der Unterschiede. Im Gegenteil: Europa ist der Traum von Vielfalt, der Garant unserer individuellen Lebensentwürfe, unsere Lebensversicherung in den stürmischen Zeiten der Globalisierung! Das sollten wir uns viel öfter vor Augen führen, wenn wir wieder mal am Sinn und Wert Europas zweifeln.

Ich hatte es eingangs schon erwähnt: Europa braucht jetzt Mitmacher statt Mitläufer und Mutmacher statt Miesmacher! Ein Adam von Trott würde Europa jetzt richtig gut tun. Und genau deshalb finde ich es großartig, dass die Universität Göttingen und die Stiftung Adam von Trott eng zusammenarbeiten. Denn wir wissen doch alle: Zukunft braucht Erinnerung. Und aus der Erinnerung an Adam von Trott können wir viel lernen und ja, auch Kraft für künftige Aufgaben schöpfen.

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